MillernTon
·22 September 2024
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·22 September 2024
Der Finaltag in Darmstadt endete mit braun-weißem Jubel. Das Blindenfußball-Team des FC St. Pauli ist zum vierten Mal Deutscher Meister.
Als die Schiedsrichter*innen am Samstag um 18.30h ins Hotel in Darmstadt zurückkamen, sorgte dies für gespannte Blicke hinter der Rezeption: „Und? Wie ist es ausgegangen?“Auf die Antwort, dass der FC St. Pauli die Deutsche Meisterschaft im Blindenfußball gewonnen hatte, folgte ein kurzer Jubelschrei, der die anderen gerade eincheckenden Gäste wahrscheinlich etwas verwunderte.
Zu begründen ist dieser damit, dass die Schiedsrichter*innen und das FCSP-Team zufällig im selben Hotel untergebracht waren – und das Team am Abend und am Morgen vor dem Spiel wohl einen ziemlich sympathischen Eindruck hinterlassen hatte; die Hotelbelegschaft feierte also mit. Auch, als das Team dann etwa eine halbe Stunde später singend die Lobby betrat.Doch der Reihe nach.
Ein kleiner personeller Umbruch, ein paar Fragezeichen und die Verletzung von Rasmus Narjes – so richtig gute Voraussetzungen gab es nicht, bevor der FC St. Pauli im Mai in Köln in die Blindenfußball-Bundesliga Saison 2024 startete.Zu allem Überfluss kam dann auch noch das Pech hinzu, denn das Spiel gegen Schalke 04 durfte man eigentlich nicht verlieren, zu deutlich war das Chancenverhältnis zugunsten der Kiezkicker*innen – bei Abpfiff aber stand es 3:2 für Königsblau.
Der Spieltag in Ingolstadt brachte dann ein hochklassiges Spiel gegen Borussia Dortmund, aber keine Tore. 0:0, nur ein Punkt nach zwei Spielen – war es das schon? Es folgte der Spieltag in Hamburg und ein insbesondere aufgrund der beeindruckenden Defensivleistung verdienter 3:1-Erfolg gegen den MTV Stuttgart. Der FC St. Pauli war zurück im Rennen um die Meisterschaft, da auch die anderen Teams gegeneinander Punkte ließen.
Es folgten die erforderlichen Siege gegen VSC/ABSV Wien (4:0), Fortuna Düsseldorf (7:0) und den FC Ingolstadt (7:0), sodass alles auf das wohl spannendste Saisonfinale der Blindenfußball-Bundesliga Geschichte hinauslief.
Die DBFL vergibt zwei der Spieltage immer an Städte, die sich dafür bewerben können. In den letzten Jahren war der Finalspieltag oft in Köln, wo unter dem Dom die Meisterschale vergeben wurde. Diese Saison hatte Köln die Saisoneröffnung ausgetragen und der Finalspieltag ging nach Darmstadt. Gespielt wurde auf dem Karolinenplatz, was aufgrund des unter dem Kunstrasenplatz liegenden Kopfsteinpflasters und der direkt daneben verlaufenden Hauptstraße nicht ganz ideal war. Wenn vorbeifahrende LKW-Fahrer aufgrund der Menschenansammlung und einer Tribüne fröhlich hupen, ist dies zwar sicher gut gemeint – aber für die Spieler*innen in dieser Sportart eben nicht gerade hilfreich.Aber der Spagat zwischen bestmöglichen Bedingungen einerseits und erhöhter Aufmerksamkeit und Reichweite andererseits verlangt eben Kompromisse.
Blindenfußball-Spielfeld in Darmstadt auf dem Karolinenplatz.
Titelverteidiger Blista Marburg hatte 14 Punkte, Borussia Dortmund, St. Pauli und der MTV Stuttgart je 13, wobei der BVB das mit Abstand beste Torverhältnis aufwies. Der Spielplan ist so aufgebaut, dass am letzten Spieltag die Vorjahrestabelle auf dem Kopf gegeneinander spielt… also Vierter gegen Dritter, Zweiter gegen Erster.
Dortmund traf also auf Stuttgart und hätte mit einem Sieg die Meisterschaft für den FCSP in nahezu unerreichbare Ferne bringen können, denn die Tordifferenz hätte man nicht mehr aufgeholt. Doch auch Stuttgart hatte ja noch Meisterschaftschancen und war überhaupt nicht gewillt, dem BVB den roten Teppich auszurollen. 24 Minuten (von 2×15) waren bereits gespielt, als Alexander Fangmann die Schwaben in Führung brachte. Jonathan Tönsing konnte für Dortmund in der 28. Minute ausgleichen, doch ein langer Abwurf durch die Mitte brachte Fangmann nochmal in Schussposition und tatsächlich erzielte er 50 Sekunden vor Abpfiff nochmal die Führung, 2:1 für Stuttgart.Und falls jemand denkt, im Blindenfußball gäbe es keine Emotionen, bewiesen die Szenen nach Abpfiff das Gegenteil, in denen Stuttgarts Torwart Tim van Aken und Dortmunds Hasan Koparan aneinander gerieten, was mit Gelb für beide und damit einer Gelb-Roten Karte für den Borussen endete.
Damit war klar: Vor dem letzten Spiel der Saison konnten immer noch drei Teams Deutscher Meister werden. Blista Marburg wäre mit einem Sieg ebenso Meister wie im umgekehrten Fall der FC St. Pauli. Sollte die Partie aber Unentschieden enden, wären die Stuttgarter lachende Dritte – oder in dem Fall Erste. Die Tordifferenz war in jedem dieser Szenarien egal.
Der FC St. Pauli startete mit folgender Aufstellung:Svenja Bartels (Tor) – Philipp „Hippo“ Versen, Rasmus Narjes, Thoya Küster, Paul RugeAuf der Bank waren zusätzlich Jana Marquart, Serdal Çelebi, Calvin Runge, Natan Werner und Sven Gronau (Tor) dabei.
Klar war: Ein Unentschieden würde niemandem helfen, außer dem MTV Stuttgart, der das Spiel gespannt auf der Tribüne verfolgte. Trotz allem entwickelte sich ein Spiel, in dem man beiden anmerkte, zuallererst mal kein Gegentor kassieren zu wollen. Es war intensiv, hochklassig – und vor allem sehr fair und von beiden Teams und auch den Trainern und Offiziellen von außen mit großem Respekt für den Gegner geprägt. Beide Teams schenkten sich nichts, Julia Kalbach und Luis Perez als Schiri-Gespann ließen beide aber entsprechend auch mit einer großzügigen Linie spielen.
Zur zweiten Halbzeit wechselte St. Paulis Trainer Wolf Schmidt dann Natan Werner ein, Thoya Küster erhielt eine Verschnaufpause. Es waren noch keine 90 Sekunden gespielt, da hatte St. Pauli bereits zwei Teamfouls eingesammelt. Ab dem fünften Foul gibt es für jedes Foul einen „Double-Penalty“, einen Strafstoß aus acht Metern, der damit zwei Meter weiter entfernt vom Tor ist, als der eigentliche Strafstoß aus sechs Metern. Auch wenn hier die Trefferquote geringer ist, will man dies natürlich verhindern, St. Pauli musste also früh das Zweikampfverhalten anpassen.
Doch während sich die Sorgenfalten auf den Stirnen der anwesenden FCSP-Fans gerade bildeten, nahm sich Joker Natan Werner den Ball und startete zu einem beherzten Solo, auf den letzten Metern geleitet von Hintertor-Guide Jonas Dawid – der dann jubelnd auf den Platz stürmen konnte, denn der Ball lag plötzlich im Tor. Der zurückeilende Taime Kuttig griff in den Zweikampf kurz vor dem Tor ein und bugsierte den Ball dabei unglücklich an Torhüter Sebastian Themel vorbei, der nach dem Spiel als bester Torhüter der Saison ausgezeichnet wurde. Zu Recht, denn dies sollte eins von nur zwei Gegentoren für Marburg in der gesamten Saison sein.
Doch für St. Pauli bedeutete dieses Tor die Tabellenführung, die es in den verbleibenden 13 Minuten zu verteidigen galt. Und dies gelang. Mit Glück, Herz, starker Abwehrarbeit – und wenn alles nicht mehr half, auch noch einer starken Svenja Bartels im Tor.
Mit dem Abpfiff kannte der Jubel natürlich keine Grenzen. Es war vor dem Spieltag klar, dass vieles, wenn nicht gar alles passen müsste – umso größer war die Freude darüber, dass dies eingetreten war.
Der FC St. Pauli hat nach 2017, 2021 und 2022 zum vierten Mal den Titel des Deutschen Meisters im Blindenfußball gewonnen, war zudem in den anderen Jahren seitdem immer Zweiter. Der Titel ist auch deswegen so hoch zu bewerten, weil mit Svenja Bartels (im Tor) und Thoya Küster zwei Spielerinnen relevante Einsatzzeiten bekommen, was zumindest in den Top 4 der Liga eine absolute Ausnahme ist. Mit Jana Marquart und Jenny Dabelstein haben zwei Spielerinnen ihr Debüt in der Liga gegeben.Auch die Jugendförderung funktioniert, nach dem Debüt von Natan Werner letzte Saison kam mit Calvin Runge auch diese Saison wieder ein sehr junger Spieler zu seinem ersten Bundesligaspiel.
Nach dem Spiel fanden dann noch die Ehrungen statt, gewählt von den Schiedsrichter*innen und Spielbeschreibern:
Anschließend wurden die Teams geehrt – und Marburg erwies dem FC St. Pauli dabei den gleichen Respekt, wie es im Vorjahr umgekehrt praktiziert worden war, und stand Spalier, als der FCSP zur Übergabe der Schale schritt.
Das Team des FC St. Pauli jubelt mit der Schale in der Hand über den Gewinn der Deutschen Meisterschaft im Blindenfußball 2024.
Die nächste Gelegenheit, diesen tollen Sport in Hamburg live zu verfolgen, bietet sich schon in drei Wochen, wenn am 12./13. Oktober in der Blindenschule am Borgweg wieder das „Keep your mind wide-Open“-Turnier ausgerichtet wird.Kommt vorbei, es lohnt sich!
Den kompletten Spieltag im Re-Live gibt es aktuell noch beim DFB auf YouTube (FCSP-Spiel ab ca. 6h48m), Highlights gab es gestern Abend bereits in der Sportschau – ich hoffe aber, dass es da in den nächsten Tagen noch mehr zu sehen geben wird.
Tabelle:
// Maik
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