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·25 novembre 2024
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Beim HSV ist wieder einmal Krisenstimmung angesagt. Das Aus von Trainer Steffen Baumgart ist die einzig logische Entscheidung, darf jedoch nicht über die wahren Probleme der Klubs hinwegtäuschen. Ein Kommentar.
Die Einstellung von Steffen Baumgart Anfang diesen Jahres war aus Sicht vieler HSV-Fans mit großen Hoffnungen verbunden. Auch wenn sich Tim Walter im weiten Rund des Volksparkstadions noch immer einer hohen Beliebtheit erfreute, war sich ein großer Teil der Rauten-Beobachter einig: Für das Ziel Aufstieg ist ein Trainer wie Baumgart der richtige Mann!
Wie falsch wir doch lagen. Der einst so stolze Hamburger Sport-Verein ist unter seinem bekennenden Fan nicht viel mehr als ein leicht überdurchschnittlicher Zweitliga-Klub gewesen. Baumgarts Punkteschnitt von 1,59 pro Spiel ist für einen HSV-Trainer miserabel und liegt mit dem eines Hannes Wolf oder Dieter Hecking quasi gleichauf. Der anvisierte Aufstieg wurde im Sommer letztlich sogar deutlich verpasst, der Start in die aktuelle Saison misslang – trotz positiver Momentaufnahmen wie den Back-to-Back-Siegen gegen Düsseldorf und Magdeburg – ebenso gründlich. Die Rothosen rangieren derzeit auf einem ernüchternden achten Platz und gewannen nur fünf ihrer dreizehn Saisonpartien. Was für ein Armutszeugnis!
Es lässt sich nach knapp acht Monaten Baumgart festhalten, dass der einstige Bundesliga-Dino weder stabiler, noch konstanter, noch resilienter geworden ist. Die teils haarsträubenden Defensiv-Patzer bekam der 52-Jährige zu keinem Zeitpunkt in den Griff, noch immer lässt die Mannschaft in höchster Regelmäßigkeit gegen kleinere Teams federn und stellt bei eigener Führung aus völlig unverständlichen Gründen jegliche Art von proaktivem Fußball ein.
(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)
So auch beim vergangenen 2:2 gegen den FC Schalke 04, das Baumgart letztendlich den Job kosten sollte. Gegen völlig verunsicherte Knappen führte der HSV zur Halbzeit mit 2:0, verweigerte im zweiten Durchgang mit Ausnahme der letzten zehn Minuten aber jedwede Anteilnahme am Spiel. Die zwei Gegentore waren folgerichtig und Baumgart hatte mit defensiven Wechsel einen gewichtigen Anteil an der Hamburger Passivität.
Der HSV ist unter dem gebürtigen Rostocker defensiv genauso anfällig, zeitgleich offensiv jedoch harmloser geworden. Darüber dürfen die 28 erzielten Saisontore keinesfalls hinwegtäuschen. Dass die Hanseaten gemeinsam mit Darmstadt den gefährlichsten Angriff der zweiten Liga stellen, liegt fast ausschließlich der brutalen individuellen Offensiv-Qualität und keinem übergeordneten Spielsystem zugrunde. Lediglich die neu gewonnene Standardstärke darf sich das entlassene Trainerteam auf die eigene Fahne schreiben.
Das Baumgart-Experiment scheiterte im Endeffekt fast mit Ansage und hätte durchaus auch im Sommer schon beendet werden können. Denn geht es nach einem Bild-Bericht, wollte Jonas Boldt den ehemaligen Kölner nach nur zwölf Spielen wieder entlassen und einen Neustart wagen. Doch Boldt selbst wurde nach Saisonende von Stefen Kuntz ersetzt, der dem emotionalen Übungsleiter wiederum eine vollständige Vorbereitung gewähren wollte und daher das Vertrauen aussprach.
Boldt jetzt als den weitsichtigen Propheten zu betrachten, der den HSV vor dem drohenden Unheil bewahren wollte, wäre jedoch ebenso kurzsichtig. Der langjährige Leverkusen-Manager hatte selbst fünf Jahre lang Zeit, um die Raute wieder dort hinzuführen, wo sie nach dem eigenen Selbstverständnis hingehört. Boldt lag bei mehreren Trainer- wie Transfer-Entscheidungen daneben und propagierte gemeinsam mit Walter eine Mentalität a la „Wir bleiben bei uns“ und „Liebe ist stärker als Ergebnisse“, unter welcher die Hansestädter noch immer leiden.
Man konnte zwischenzeitlich sogar den Eindruck gewinnen, viele HSV-Fans würden sich in der 2. Liga gar nicht so unwohl fühlen. Der Verein spielt ansehnlichen Fußball, ist auf dem Papier das vielleicht stärkste Team, das Stadion ist voll und Mannschaft wie sportliche Führung eignen sich viel eher als noch in vorherigen Jahren zur Identifikation. Haarscharf verpasste Aufstiege wurden dennoch gefeiert, die Mannschaft trotz regelmäßiger Offenbarungseide in Elversberg oder Osnabrück beklatscht und besungen.
(Photo by Joern Pollex/Getty Images)
Unzählige Horror-Transfers wurden als wenig tragisch erachtet, schritt doch die wirtschaftliche Konsolidierung des Klubs in den letzten Jahren zugegebenermaßen immer weiter voran. Seit fast zwei Jahren ist die Vereinsführung nicht in der Lage, den dopinggesperrten Mario Vuskovic zu ersetzen und blamiert sich dabei regelmäßig mit Verpflichtungen von Spielern wie Gui Ramos oder Javi Montero. Bei Sommer-Neuzugang Lucas Perrin deuten die Zeichen in eine ähnliche Richtung, auch Denis Hadzikadunic – wenn auch der beste aller genannten Akteure – hat noch nicht nachhaltig überzeugen können.
Parallel zur Abwesenheit seines einstigen Innenverteidiger-Kollegen baut auch Kapitän Sebastian Schonlau immer weiter ab. Die einstige Zuverlässigkeit in Person ist nur noch ein Schatten seiner Selbst und präsentiert sich vor allem in der aktuellen Saison in einer desolaten Verfassung. Dem Mannschaftskern um Heuer Fernandes, Muheim, Meffert, Reis, Jatta und eben Schonlau sind die drei bis fünf verfehlten Aufstiegsversuche spürbar anzumerken. Es wäre daher sicherlich angebracht gewesen, sich von dem einen oder anderen hochbezahlten Zweitliga-Profi zu trennen. Personelle Kontinuität ist bis zu einem gewissen Grad gesund, irgendwann wird sie lähmend.
Beim HSV ist mittlerweile eindeutig Letzteres eingetreten. Spieler wie Meffert oder Schonlau sind zu Gesichtern des Scheiterns geworden und trotzdem noch immer unangefochten. Das kann und muss zumindest teilweise auch mit der Unfähigkeit der sportlichen Führung, geeignete Konkurrenten zu finden, begründet werden. Die Innenverteidiger-Position ist da ein Beispiel von vielen, auch auf der rechten Defensivseite sucht der Nord-Gigant schon seit Jahren nach einer verlässlichen Lösung. Sommer-Akquise Silvan Hefti ist es nicht, so viel lässt sich nach dreieinhalb Saisonmonaten bereits konstatieren.
Auch der viel zitierte „beste Kader der eigenen Zweitliga-Geschichte“ krankt trotz seiner unbestrittenen Breite auf einigen Positionen an einem Qualitätsdefizit. Es fehlt nach wie vor ein verlässlicher Mann im Abwehrzentrum und auch die Schienenpositionen sind insgesamt ungenügend besetzt. Da nützt es dann nur wenig, wenn mit Dompe, Jatta, Karabec, Balde und Pherai allerhand Offensivpower auf der eigenen Bank sitzt.
Den Hanseaten würde es daher gut zu Gesicht stehen, im Winter einen größeren Neuanfang als zu diesem Zeitpunkt normalerweise üblich zu wagen. Auch die Trennung von langjährigen Ankerspielern darf dabei keineswegs ein Tabu sein. Nach all den gescheiterten Anläufen wird eine ganze Brise und nicht nur ein Hauch von frischem Wind notwendig sein, um wieder Leistungskultur und Anspruchsdenken im Volkspark zu etablieren. Immerhin: Nach der Peinlich-Leistung in der zweiten Halbzeit gegen Schalke wurde der versammelten Mannschaft von der Nordkurve aus so richtig die Meinung gegeigt. Eine Reaktion, die überaus verständlich ist und in den vergangenen Jahren eher zu selten als zu oft vorkam.
Für all diese Probleme kann Steffen Baumgart wenig bis gar nichts. Und trotzdem hat er in den vergangenen Monaten keinen guten Job gemacht. Die Entlassung ist daher ebenso verständlich wie folgerichtig. Trotzdem muss der HSV in Zukunft die richtigen Schlüsse aus seinem Scheitern ziehen. Ein erster Aufbruch verkrusteter Personalstrukturen wäre ein Anfang.
(Photo by Cathrin Mueller/Getty Images)