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·22 October 2024

Ein irrationales Misstrauen

Article image:Ein irrationales Misstrauen

Die Nutzung von Datenmodellen verspricht Fußballclubs Vorteile auf dem Transfermarkt. Trotzdem werden sie in Deutschland von nur wenigen Clubs genutzt. Warum?(Titelfoto: Stefan Groenveld)

Um eines vorwegzunehmen: Der Traum oder, je nach Sichtweise, Albtraum des gläsernen Fußballspiels und -spielers aufgrund der Nutzung von Daten wird sich nicht erfüllen. Tiefgehende wissenschaftliche Analysen zeigen, dass auch weiterhin über 40 Prozent aller Tore ein Zufallsprodukt sind (Wunderlich et al., 2021). Das bedeutet, dass auch in Zukunft bei Anpfiff völlig unklar sein wird, wie ein Spiel endet. Denn es gibt einfach zu viele Variablen im Fußball, die zum Eintreten eines seltenen Ereignisses führen können.


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Im Fußball fallen (zu) wenige Tore

Das Problem, an dem bereits unzählige ambitionierte Ideen, Personen und Unternehmungen gescheitert sind, lässt sich mit diesem einen Satz beschreiben: „Football is a low scoring game“. Im Fußball – der aufgrund einer Vielzahl von Spielern und unterschiedlichen Spielsituation ohnehin ein sehr komplexer Sport ist – fallen wenige Tore. Was ihn zu einem Spielball des Zufalls werden lässt. Denn je seltener es ein (zufälliges) Ereignis pro Partie gibt, umso größer ist der Einfluss des Zufalls auf das Endergebnis.

Ian Graham, ein in Biochemie promovierter Physiker und jahrelang als Kopf der Datenanalyse beim Liverpool FC tätig, beschreibt diesen Einfluss in seinem Buch „How to win the Premier League“ so: Wenn bei einem Spiel zwischen Arsenal London und Leyton Orient, also einem Spiel mit einem glasklaren Favoriten, fünf Treffer fallen, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Arsenal das Spiel gewinnt, als wenn in der Partie nur ein Treffer fällt. Denn der Versuch, ein Tor zu erzielen, sei mit dem Erwürfeln einer bestimmten Zahl vergleichbar. Die Stärke eines Teams entscheidet nur darüber, wie viele Versuche man hat, nicht aber, welche Zahl man würfelt.

Datenhype in England

Nun ist Ian Graham einer der ‚Posterboys‘ der Datenanalyse im Fußball. Der Ansatz in Liverpool, dass Transfers nur dann getätigt werden, wenn das Datendepartment seinen Daumen hebt, war untypisch, als er vor knapp zehn Jahren seine in diesem Sommer beendete Arbeit in Liverpool begann. Doch trotz der Erfolgsgeschichte Grahams und des Liverpool FC in dieser Zeit, die natürlich auch mit Jürgen Klopp als Trainer zusammenhängt, trotz vieler Beispiele, in denen Clubs großen Datensätzen bei der Entscheidungsfindung eine hohe Priorität schenken und damit erfolgreich sind: Die Nutzung von Daten im Fußball ist weiterhin ein Thema, an dem sich die Expert*innen die Köpfe zerbrechen. Denn die Unsicherheiten, die sich in den Fußball-Datenmodellen befinden, sind ungleich größer als bei vielen anderen Sportarten, die weniger komplex sind. Dieses Argument reicht aber nicht um zu erklären, warum viele Entscheidungsträger*innen rein gar nichts von der Datennutzung halten, sich dieser sogar komplett verweigern.

Denn auch wenn der Weg der Daten in den Fußball nicht so einfach ist: Es gibt inzwischen ziemlich viele Erfolgsstories, wenn es um die Nutzung von Daten im Fußballkontext geht. Die vermutlich größten schreiben aktuell zwei Männer, die zuvor bereits auf andere Art und Weise mit Daten im Fußballkontext erfolgreich waren: Matthew Benham und Tony Bloom haben beide ein Vermögen im Bereich Sportwetten gemacht (früher haben sie sogar zusammengearbeitet). Weil sie schneller als viele Buchmacher erkannten, welche Aussagekraft in Fußballdaten steckt und dass sich mit der Anwendung mathematischer Modelle bei Wetteinsätzen eine Menge Geld machen lässt.

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Eric Smith ist nicht viel weniger als ein Ästhet am Ball und allein damit eine Bereicherung für den FC St. Pauli. Ob er den Verein aber auch leistungsmäßig auf dem Platz voranbringt – das zeigen Daten, die sich nicht von der Schönheit seiner Pässe blenden lassen: Looking for Eric – Spoiler: Er spielt nicht nur schön. // (c) Stefan Groenveld

Datennutzung liefert Erfolgsgeschichten

Dieses Wissen haben Bloom und Benham auch bei ihren Lieblingsclubs angewendet, welche ihnen inzwischen gehören: Dem Brentford FC und dem beim FC St. Pauli nicht unbekannten Brighton & Hove Albion FC. Bei beiden Clubs implementierten sie einen datengetriebenen Ansatz im Scouting und auf weiteren Ebenen. Dadurch, so die eigene Aussage, gelingt es ihnen – mit jeweils Bruchteilen der Etats anderer Premier League-Clubs – sich seit Jahren in eben jener Liga zu halten. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Personen und Clubs schöne Geschichten erzählen, die ihnen auch selbst nützen. Ist Brighton im Scouting erfolgreich und erklärt an vielen Ecken und Enden, dass sie primär datengetrieben arbeiten, dann ist das zeitgleich auch beste PR für Blooms Unternehmen Starlizard, aus dessen Datenabteilung sich Brightons Expertise speist. Trotzdem: An den positiven Entwicklungen in Brighton, Brentford und Liverpool werden Daten alles andere als unbeteiligt gewesen sein. Und das hat dazu geführt, dass inzwischen eigentlich alle Clubs in England viel Geld (von dem sie aber auch viel haben) in Daten und Datenanalysen investieren. Mit wechselndem Erfolg, wie sich zeigt.

Nicht nur in England gibt es Clubs, die extrem erfolgreich damit sind, sich auf Daten in Entscheidungsprozessen zu fokussieren. Benham war bis Sommer 2023 Hauptanteilseigner des FC Midtjylland, der in Dänemark seit zehn Jahren mit den großen Clubs mithalten kann, zuletzt sogar erneut Meister wurde. Bloom ist Mehrheitseigner von Royal Union Saint-Gilloise, einem Club, der zwar erst seit wenigen Jahren wieder in Belgiens höchster Spielklasse ist, diese aber seitdem ebenfalls extrem erfolgreich aufmischt. Man kann inzwischen in fast jede Liga Europas gucken und findet dort einen Club, der vornehmlich auf Daten im Scouting setzt (FC Toulouse in Frankreich, AZ Alkmaar in den Niederlanden, FC Sevilla in Spanien) und dies auch mehr oder weniger offensiv vermarktet.

Daten machen keine menschlichen Fehler

Helfen können Daten im Fußball vor allem überall dort, wo die Zahlen- oder Ereignismengen so groß und komplex werden, dass das menschliche Gehirn diese einfach nicht mehr alleine verarbeiten kann. Das Scouting ist der klassische Fall, bei dem die Datennutzung eine Verbesserung des Prozesses verspricht. Gegner-, Leistungs- und Transfermarktanalysen sind weitere. Die physische Leistungsanalyse kann zumindest grundlegend mit Hilfe von externer Software abgedeckt werden, weil sich viele erfasste Parameter in bekannten Mustern bewegen, deren Analyse viel einfacher ist. Viel komplexer ist die Spiel- und Gegneranalyse. Diese verspricht einen großen Mehrwert, ist aber mit enorm hohem (finanziellen) Aufwand verbunden und wird entsprechend meist nur von den Schwergewichten im Profifußball betrieben.

Der größte Impact der Datennutzung, auch gemessen am finanziellen Einsatz, ist im Scouting zu erwarten. Mit Hilfe von Daten kann der Spielerpool anhand definierter Positionsprofile (mit spezifischen Eigenschaften) „vorgefiltert“ werden. Das vereinfacht die Arbeit für das traditionelle Video- und Live-Scouting extrem. Statt zum Beispiel 500 Spielern, die begutachtet werden müssen, gibt es plötzlich „nur“ noch 30 Spieler, die ins Profil passen. Zudem macht das menschliche Gehirn Fehler, die ganz natürlich sind und entsprechend auch im Scouting passieren. Der „cognitive bias codex“ zeigt, wie und auf welche Weise sich das menschliche Gehirn verschätzen kann. Daten machen diese Fehler nicht und Datenmodelle nur in einem bestimmten Rahmen (Fehlerquelle: Weil sie von Menschen entworfen und betrieben werden). Entsprechend kann die zusätzliche Nutzung von Daten eine natürliche Fehlerquelle minimieren.

Nur wenige Clubs nutzen (richtige) Daten im Scouting

Der FC St. Pauli gehört nicht zu den offensiven Vermarktern, wenn es um die Nutzung von Daten geht. Aber er gehört sehr wohl zu jenen Clubs, die Daten im Scoutingprozess nutzen. Damit ist der FCSP eher ein Exot. Denn gerade einmal zehn Prozent aller Proficlubs sollen Datenscouting nutzen (Klingelhöfer, 2023). Und zumindest in einer Sache ähnelt die Geschichte der des Liverpool FC: Denn auch Stefan Kühn ist promoviert. Er besitzt einen Doktortitel in angewandter Mathematik. Kühn ist für die Datenanalysen beim FC St. Pauli zuständig Das hat er zuerst hobbymäßig gemacht, 2018 wurde daraus eine Teilzeitbeschäftigung, die es bis heute ist.

Die Zahl von „zehn Prozent aller Clubs“ ist allerdings viel schwammiger, als man vielleicht annehmen mag. „Es wird im Profifußball keinen Club mehr geben, der nicht in Daten schaut“, erklärt Christoph Biermann. Der 11Freunde-Chefreporter hat sich in den letzten Jahren intensiv mit dem großen und komplexen Themenbereich „Daten und Fußball“ befasst. Sein Buch „Matchplan – Die neue Fußball-Matrix“ gehört zur Pflichtlektüre, wenn man sich dem Datenthema nähern möchte. Zwar würden alle Clubs in Daten schauen, aber Biermann schränkt ein: „Die Frage ist: Welche Daten nutzt du? Schaust du dir bei Bundesliga.de die gelaufenen Kilometer an oder gehst Du richtig in die Tiefe, entwickelst Dein eigenes Modell?“

Denn damit Datenanalysen zum Beispiel im Scouting wirklich helfen, genügt es bei Weitem nicht, sich die gelaufenen Kilometer eines Spielers anzuschauen. Diese Metrik besitzt ohne Tiefgang (z.B. wie viele intensive Läufe und Sprints, wann und wo?) keinerlei Aussagekraft. Vielmehr, so erklärt es Stefan Kühn, benötige es zwei elementare Dinge, damit ein Nutzen entsteht: „Du brauchst gute Daten und ein funktionierendes Modell, also ein Idee davon, was guter Fußball ist.“ Das klingt insgesamt einfacher, als es ist. Vor allem kann man sich diesen Nutzen nicht „einkaufen“. Denn Datenanbieter gibt es viele, doch ehrlich gesagt ist auch ziemlich viel Schrott und Unbrauchbares dabei. Der Markt ist inzwischen übersättigt von Anbietern mit DER METRIK, dank der DEIN CLUB den NÄCHSTEN SUPERSTAR findet. Oft stellt sich heraus, dass nur wenige dieser Anbieter ansatzweise halten, was sie versprechen – und oft sind das dann die, die den Clubs nicht den nächsten Superstar garantieren.

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Elias Saad ist ganz schön gut – das erkennt man nicht nur auf dem Platz, sondern auch in den Daten.

Kern-Statistiken von Elias Saad der Saison 23/24, dargestellt als Perzentile im Vergleich zu allen offensiven Außenbahnspielern der 2. Bundesliga.

(Erklärung: Die Länge des dunkel gefärbten Teils des Pizzastücks zeigt, wie viele Prozent der anderen Spieler auf dieser Position schlechtere Werte oder oder maximal den gleichen Wert haben. Komplett dunkel heißt: Keiner ist besser. Zudem sind die Absolutwerte in Zahlen angegeben.)

Datenscouting? Am besten DIY!

Besser ist es sowieso, wenn man die Dinge selbst in die Hand nimmt. Zwar gibt es auch viele gute Anbieter von Daten, allerdings kann man sich nur durch ein eigenes und funktionierendes Modell zur Bewertung von Spielern im Scouting von anderen Clubs abheben (oder indem man den jeweiligen Anbietern sehr spezifische Anfragen stellt). Denn der Pool, in dem nach Spielern gesucht wird, ist weiterhin identisch. Das Modell ist die Methode, mit der nach Spielern gesucht wird. Und wer mit unterschiedlichen Methoden sucht, wird auch Unterschiedliches finden. Das ist ein Vorteil gegenüber Datenmodellen, die es „von der Stange“ gibt, die von Anbietern vertrieben werden. Andreas Bornemann, Sportchef des FC St. Pauli, erklärt es so: „Wenn man die Datenmodelle selbst entwickelt, haben nicht zig Vereine und vielleicht sogar Berater Zugriff auf die gleichen Daten. Damit suchen wir dann etwas anders als die Konkurrenz.“Die Datenmodelle basieren auf den Positionsprofilen, die die Clubs erstellen. Welche Eigenschaften muss ein Linksverteidiger haben und wie wichtig sind mir diese? Wenn sich die Antwort darauf von jener anderer Clubs unterscheidet und die Daten sowie die Wahl der Parameter qualitativ gut ist, dann kann das Scouting durch die Nutzung von Daten verbessert werden.

Diese Entwicklung von Positionsprofilen und die Wahl der richtigen Parameter benötigt viele verschiedene Kompetenzen und vor allem Zeit. Etwas, was es im Profifußball eigentlich selten bis gar nicht gibt. Doch das Modell muss nicht nur entwickelt, sondern auch validiert werden. Dabei gibt es unzählige Fallstricke und zwei sehr große Probleme, die Datenanalyst*innen lösen wollen, es aber wohl nie zur Gänze können. Das erste: Wie performt ein Spieler in einer anderen Liga, unter einem anderen Trainer, in einem anderen Land? Nur weil jemand in der polnischen Liga 94 Tore in 94 Spielen erzielt hat, wird ihm das nicht automatisch auch in der Bundesliga gelingen. Weil das Level und die Spielweise anders sind. Das zweite Problem: Wie entwickelt sich ein Spieler? Alle Clubs möchten natürlich Spieler im Kader haben, die mit der Zeit noch besser werden und damit den eigenen Marktwert und die Punkteausbeute des Clubs in exorbitante Höhen schnellen lassen. Es gibt dazu gute, interessante und völlig wilde Ansätze, aber wirklich zuverlässige Lösungen für beide Probleme haben Datenanalysen (noch) nicht geliefert.

Viele Wege führen im Fußball zum Erfolg

Zudem gibt es ein ganz generelles „Problem“, welches die Nutzung von Daten im Fußball noch viel schwieriger macht: Viele Wege führen zum Erfolg. Es gibt keinen „goldenen Pfad“, auf dem man wandeln kann, wie es ihn in anderen Sportarten gibt. Beim Basketball ist aktuell völlig klar, dass man sich möglichst auf Drei-Punkte-Würfe fokussieren sollte, um erfolgreich zu sein. Aber beim Fußball ist noch nicht mal klar, ob man sich besser auf die Offensive oder die Defensive konzentrieren sollte. Wobei, so ganz stimmt das nicht: Teams, die stärker als der Gegner sind, sollten sich grundsätzlich auf das Toreschießen konzentrieren, schreibt Graham in seinem Buch. Weil sie dadurch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass der Gegner nicht mithalten kann (das Arsenal-Beispiel zu Beginn des Textes habt Ihr dabei bitte im Kopf).

Völlig unklar ist aber, mit welchen Mitteln man am erfolgreichsten Fußball spielen kann. Den Gegner durch hohes Pressing zu Fehlern zwingen, den Gegner bei eigenem Ballbesitz geduldig zurechtlegen, schnelle und lange Bälle hinter die Kette, Chipbälle in die Zwischenräume, Raum- oder Manndeckung, Steil-Klatsch, Locken und Verlagern, Pressingfallen im Mittelfeld basteln, Durchbrechen auf Außen, Überladung im Zentrum, Flanken, Fernschüsse, Bus im eigenen Strafraum parken, undundund – viele Wege können zum Erfolg führen. Es gibt kein Patentrezept im Fußball. Das ist ein schönes „Problem“, weil der Fußball sonst eintönig wäre. Für Datenanalysen ist es aber ein nicht so schönes. Weil es für jede Spielweise und -idee andere Spieler und entsprechende Positionsprofile benötigt. Spielertypen, die in einem System extrem gut funktionieren, passen in andere vielleicht gar nicht hinein. Zudem kann die Bewertung der Spieler dadurch extrem schwierig sein.

Ein jahrelanger Prozess

So befinden sich Modelle zur Bewertung von Spielern, wie sie im Scouting eingesetzt werden, meist Jahre in der Entwicklung. Bis sie so sehr verfeinert wurden, dass sie auch wirklich das tun, was sie sollen (es kann bei diesem Prozess auch viel schiefgehen, weshalb umso mehr Expertise aus der Daten- und Fußballecke notwendig ist, um ein funktionierendes Modell zu entwickeln): den Clubs im Scoutingprozess helfen. Erstellt wird dazu meist eine Art Rangliste, auf der Spieler auftauchen, je nachdem, wie gut sie ins gesuchte Profil passen. Die Eingangsvariablen sind dabei vielfältig. Von physischen Daten (Größe, Geschwindigkeit etc.) hin zu klassischen Pass-, Schuss- und Zweikampf-Statistiken, aber auch elaborierteren Metriken wie Expected Goals (xG) oder Expected Threat (xT). Solche Datenmodelle spucken eine Art Kandidatenliste aus, die wesentlich kürzer ist, als es Spieler für die gesuchte Position gibt. Ein großer Vorteil für die weiteren Schritte im Scouting. Weil man durch dieses „Vorfiltern“ im Video- und Live-Scouting gezielter und damit viel effektiver vorgehen kann. Zudem rücken Spieler in den Fokus, die ohne die Nutzung von Daten vielleicht unentdeckt geblieben wären. Die Wechsel von Pascal Groß aus Ingolstadt nach Brighton, von Deniz Undav aus Meppen zu Saint-Gilloise und Vitaly Janelt aus Bochum nach Brentford sind gute Beispiele dafür.

Auch beim FC St. Pauli hat es mehrere Jahre gedauert, bis die eigens entwickelten Datenmodelle zum Einsatz kamen. Die erste Transferphase, in der die Datenanalysen von Kühn bei der Entscheidungsfindung mitwirkten, war jene im Sommer 2020 – unter anderem kamen damals Leart Paqarada, Daniel-Kofi Kyereh, Lukas Daschner und Rodrigo Zalazar zum Club. Die Datenanalysen allein dürften die seitdem meist positive Transferbilanz des FCSP aber nicht erklären. Denn der Sommer 2020 war auch der erste Transfersommer, in dem Andreas Bornemann zusammen mit Kaderplaner Jan Sandmann wirklich etwas bewegen konnte. Zuvor, nach seinem Amtsantritt im Sommer 2019, musste er erst einmal einen völlig aufgeblähten Kader verwalten und kleiner werden lassen.

Datenscouting vs. klassisches Scouting? Am besten Hand in Hand

Wie groß ist also der Anteil der Datenmodelle an den Transfers des FC St. Pauli? Bornemann erklärt, dass es sich beim FCSP um einen „beidseitigen Prozess“ handelt: Mal liefern Daten den Auftakt, um sich Spieler genauer anzuschauen, mal fällt im Live- oder Video-Scouting ein Spieler auf, dessen Profil man dann in den Daten genauer begutachtet. Für Stefan Kühn ist der Anteil nicht wichtig, aber das generelle Vorgehen positiv: „Die Datenanalysen gehen in die Entscheidungsfindung ein, wie jede andere Perspektive auch.“ Doch der Mathematiker betont auch, dass man den Einfluss von Daten generell nicht überbewerten darf, erklärt: „Daten sind eine nette Ergänzung. Aber es gibt noch so viele andere Parameter, die beachtet werden müssen.“ Dabei geht es vor allem um „menschliche Komponenten“: Wie ist der Spieler mental drauf? Was für einen Charakter hat er? Will er trainieren oder sich trainieren lassen (sicherlich Hürzelers Lieblingsfrage)? Wie passt er zum Team? Wie kreativ ist er auf dem Platz? Und generell lassen sich ballferne Aktionen (Laufwege, Verschiebeverhalten, Aktivität) nur sehr schwer in aussagekräftigen Zahlen abbilden. Das sind Themen, die nicht mit Daten beantwortet werden können. Hier braucht es unbedingt Fußballexpertise, um zu einer guten Einschätzung von Spielern zu kommen.

Beim FC St. Pauli werden Datenanalysen also gezielt im Scoutingprozess eingesetzt. Das ist wichtig, weil man sich damit von anderen Clubs abgrenzen kann. Im Scouting fischt man dann zwar immer noch im gleichen Teich, aber aufgrund veränderter Angel und Köder findet man andere Fische. Gerade für Clubs wie den FCSP, die eben nicht Unsummen auf dem Transfermarkt und in den Kader investieren können, ist diese Abgrenzung eine große Chance, sich qualitativ zu verbessern.

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Daten im Scoutingprozess nutzen? „Du musst Mut haben“ erklärt Andreas Bornemann dazu. // (c) Stefan Groenveld

Ist Fußball-Deutschland nicht bereit für Daten?

Interessant ist, dass der FCSP damit zumindest in Deutschland eher ein Außenseiter zu sein scheint. Zwar interessieren sich viele Clubs für Daten, doch eher selten dürften diese so eng in den Scoutingprozess eingebunden sein wie beim FC St. Pauli. Für Christoph Biermann ist aber genau das wichtig, wenn es darum geht, wie viel Einfluss Daten haben: „Sitzt ein Data Scientist wirklich mit am Tisch, wenn Entscheidungen getroffen werden? Wird er wirklich gehört oder liefert er nur Analysen, in die eventuell nicht einmal reingeschaut wird?“Dustin Böttger vom Global Soccer Network (vertreibt teils maßgeschneiderte Datenanalysen für Fußballclubs) erklärt uns, warum im deutschen Profifußball selten Datenanalyst*innen mit am Tisch sitzen – weil es sie gar nicht überall gibt: „Selbst wenn das Interesse an Daten groß und der Vorteil der Nutzung erkannt wurde, sind viele Clubs in Deutschland personell noch gar nicht so aufgestellt, dass dort jemand wirklich mit solchen Daten umgehen kann.“

Warum ist das so? Eine Erklärung könnte die generelle Abneigung gegenüber Dingen sein, die unbekannt sind. Neuheiten reserviert begegnen – auch wieder so ein menschliches Problem. Besonders im Berufsfeld von Sportchefs, die sich oft in einem wenig vertrauenswürdigem Umfeld bewegen, die für Entscheidungen öffentlich nicht selten gegrillt werden, könnte der Nutzung von Daten eher eine Abneigung entgegengebracht werden. Weil es sich bei der Datenanalytik um ein Feld handelt, in dem nicht alles verstanden wird und werden kann, wenn man damit nicht ständig arbeitet. Für die Nutzung von Daten benötige es also Vertrauen, erklärt Biermann, „in einem Umfeld, in dem es genau das nur selten gibt.“ Zudem vermutet der Autor, dass sich viele „Experten“ sowieso nur ungern von Datenseite erklären lassen, wer zum Beispiel der richtige Linksverteidiger für das eigene Team ist. Für Ian Graham ist dieses Problem auch von Seiten der Datenanalyst*innen erschaffen. Auf die Frage, ob das fehlende Verständnis für die Berechnungen zu Misstrauen führe, erklärt er: „Wir tun uns keinen Gefallen, wenn wir die Dinge geheimnisvoll halten. Wir müssen in einfacher Sprache erklären können, warum wir welche Empfehlung abgeben.“ (11Freunde, €)

Kein Vertrauen? Keine Datennutzung!

Für Christoph Biermann ist das Problem, warum Daten nur schwer den Weg in Proficlubs finden, also hausgemacht: „Die Arbeit mit Daten bedeutet für Sportchefs immer auch ein bisschen Kontrollverlust.“ Und das ist etwas, was sich viele Personen in dieser Branche nicht erlauben wollen, vermutlich auch nicht können. St. Paulis Sportchef Andreas Bornemann macht gar keinen Hehl daraus, dass er bei der Datennutzung nicht alles versteht, erkennt aber trotzdem den Nutzen und erklärt: „Du musst den Mut haben, dich den Dingen zu öffnen, die Dir nicht in die Wiege gelegt wurden. Ich bin Chef eines Kompetenz-Teams. Da ist es mein Job, Potenziale zu erkennen und solche Kompetenzen ins Team zu holen. Da muss man auch mal andere Wege gehen. Man muss versuchen, unterschiedliche Welten zu verbinden, wenn die Argumente plausibel klingen und es nachvollziehbare Gründe gibt, das zu tun.“ Durchaus möglich, dass diese Haltung Bornemanns mit seiner Ausbildung beim SC Freiburg zusammenhängt. Der SCF ist dafür bekannt, dass sich die handelnden Personen in einem vertrauensvollen Umfeld bewegen, was mutige Entscheidungen fördern könnte.

Die eher ablehnende Haltung in Fußball-Deutschland könnte aber auch damit zusammenhängen, wie die Vereine geführt werden. Investoren-geführte Clubs haben oft auch Unternehmen (die der Investor*innen) im Hintergrund, die eigene Datenabteilungen besitzen. Biermann: „Die Nutzung von Daten kommt oft über die ‚Owner‘ rein. Weil es für sie normal ist, mit Daten zu arbeiten, um objektivere Bewertungen zu erreichen.“ So müssen oft auch keine Club-eigenen Strukturen aufgebaut werden. Das ist bei deutschen Vereinen anders, abgesehen von Ausnahmen wie der TSG Hoffenheim, die mit SAP im Hintergrund einen starken Partner auf diesem Gebiet haben (ausgerechnet Hoffenheim scheint aber in die Fänge einer Spieleragentur geraten zu sein). Sowieso sind Vereinsstrukturen sehr anfällig dafür, dass sie sich selbst füttern, sich der Kreis der handelnden Personen aus dem gleichen Umfeld speist. Und in diesem Umfeld sind keine Datenanalyst*innen. Umso größer ist die Chance, die sich Fußballclubs in Deutschland bietet, wenn sie ernsthaft mit Datenanalysen im Scouting arbeiten.

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Eigentlich ein ‚No-Brainer‘

Daten drängen mit Macht in den Fußball, wie auch in alle anderen Lebensbereiche. Die Möglichkeiten, die sich durch KI bieten, könnten diesen Prozess noch einmal verstärken. Tony Bloom, der Typ, der Brighton und Saint-Gilloise zu Top-Teams mitentwickelt hat, bezifferte den Zugewinn im Scoutingprozess durch die zielgerichtete und intensive Nutzung von Daten mal auf fünf Prozent. Das klingt nach einem erbärmlichen Wert, gemessen an dem Lärm, der von Fans der Datennutzung ausgeht. Doch überlegt mal, wie viel Geld ein Top-Club mehr generieren kann, wenn seine Transferentscheidungen um fünf Prozent verbessert werden. Auf einem Markt, bei dem wenige Prozentpunkte viel ausmachen und jede Transfer-Fehlentscheidung Millionen verbrennt. Und jetzt rechnet mal dagegen, wie viel die Clubs in die Entwicklung eines Datenmodells investieren müssten. Ein einziger erfolgreicher Transfer, dessen entscheidender Hinweis aus der Datenecke kam, würde die jahrelange Nutzung bereits rechtfertigen. Rational betrachtet fehlen also die Argumente, um nicht mit Daten zu arbeiten.

Sicher ist: Clubs, die den Sprung auf den gnadenlosen und immer schneller fahrenden Zug verpassen und nicht mit Daten im Scouting arbeiten, werden über kurz oder lang abgehängt werden. Zu deutlich ist der Vorteil, den eine Nutzung eigener, geeigneter und über Jahre entwickelter Datenmodelle im Scouting bietet. Wird es im Zuge einer KI-Revolution dann doch noch den „gläsernen Spieler“ geben, dessen Fähigkeiten sich exakt vorhersagen lassen? Das ist ziemlich unwahrscheinlich. Andreas Bornemann vermutet zwar, dass Daten in Zukunft noch mehr Einfluss haben werden, auch weil die Nachfolge-Generationen an Sportchefs diesem Bereich anders, offener begegnet. Das wird aber natürlich nicht dazu führen, dass der schöne, berauschende und oft chaotische Fußball stirbt. Dafür gibt es ja schließlich immer noch den Zufall. Auch wenn dieser in den letzten Jahren in der Premier League um einige Prozentpunkte abgenommen hat. Vermutlich aufgrund vermehrter Datennutzung…// Tim

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