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Florian Bajus·26. November 2023
Wie konnte das passieren? Vom Welttorjäger zum "What If" des Weltfußballs

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Florian Bajus·26. November 2023
In einer Zeit, in der Brasilien eine Weltmacht des Fußballs war, ging nach Ronaldo ein neuer Stern im Sturmzentrum auf: Adriano Leite Ribeiro. Der 1,89 Meter große Angreifer spielte sich früh in den Blickpunkt der Seleção und europäischer Top-Klubs, doch seine Karriere nahm nicht den erhofften Verlauf.
Zwar stehen 14 Titel in seiner Vita, darunter die Copa América im Jahr 2004, zu deren besten Spieler er gekürt wurde. Auch folgte 2005 die Auszeichnung zum Welttorjäger. Statt jedoch als einer der weltbesten Stürmer in die Geschichte einzugehen, erlebte Adriano einen rapiden Absturz. Wie konnte das passieren?
In einem 2021 auf dem Portal ‚The Player’s Tribune‘ erschienenen Beitrag hebt Adriano eines hervor: Seinen Stolz, als Junge, der in den Favelas aufgewachsen ist, den Sprung in den Profi-Fußball geschafft zu haben. Im Kindesalter wechselte er trotz aller Hürden in die Nachwuchsakademie von Flamengo Rio de Janeiro, war anfangs sogar Linksverteidiger, bis er als Stürmer so richtig auf sich aufmerksam machte.
Am 15. November 2000 feierte der damals 18-Jährige sein Debüt für Brasilien, eineinhalb Monate später verpflichtete ihn Inter Mailand. Über die Leihstationen AC Florenz und AC Parma gelang der Durchbruch, als er im Januar 2004 zu den Nerazzurri zurückkehrte: Auf 12 Tore in 18 Einsätzen in der Saison 2003/04 folgten 28 Tore in 42 Spielen, 2005/06 war er immerhin noch 19-mal in 47 Einsätzen erfolgreich.
Dann jedoch folgte ein Knick, in aller Regelmäßigkeit wurde Adriano aus dem Kader suspendiert, im Januar 2008 wurde er schließlich an den FC São Paulo ausgeliehen. In den Gazetten wurde von Alkohol und Partys geschrieben, von fehlender Professionalität konnte allerdings keine Rede sein, wie Adriano klarstellt. „Manchmal“, schreibt er in ‚The Player’s Tribune‘, „denke ich, dass ich einer der am meisten missverstandene Fußballer auf dem Planeten bin. Die Leute verstehen nicht, was wirklich mit mir passiert ist.“
Adriano bezieht sich auf den Tag, der sein Leben auf den Kopf gestellt hat. Am vierten August 2004 erreicht ihn die Nachricht, dass sein Vater gestorben ist – laut ‚Sport1‘ an den Spätfolgen einer 1992 erlittenen Schussverletzung. „Er liebte das Spiel, also liebte ich es“, schreibt Adriano: „Als mein Vater gestorben ist, war Fußball nie wieder dasselbe.“
Alleine in Italien zu sein, weit weg von der Familie, wurde zu einer riesigen Bürde: „Ich konnte es einfach nicht verkraften. Ich wurde so depressiv. Ich fing an, viel zu trinken. Ich wollte nicht wirklich trainieren.“ Berichtet wird von verpassten Trainingseinheiten und Nächten in Diskotheken, auch erschien Adriano laut eigenen Aussagen betrunken auf dem Platz.
Das halbe Jahr in São Paulo trug nur bedingt zu seiner Besserung bei, denn nach der Rückkehr zu Inter im Sommer 2008 waren die Probleme dieselben – hinzu kam, dass José Mourinho in aller Öffentlichkeit deutlich machte, keine Verwendung für Adriano zu haben.
„Mit dir bin ich für lange Zeit fertig“, zitierte ‚Bild‘ den Portugiesen im Oktober 2008, zwei Monate später legte er dem Stürmer öffentlich einen Wechsel nahe. Adriano blieb zwar, spielte aber unregelmäßig und kehrte im Mai 2009 dorthin zurück, wo alles begonnen hatte: Flamengo.
„Ich ging zurück zu meinen Leuten, zu meinen Freunden“, schreibt Adriano, der von psychologischer Betreuung berichtet und erstmals wieder Glückseligkeit verspürte, als er 2009 die brasilianische Meisterschaft gewann: „In dieser Saison habe ich mich wie zuhause gefühlt. Ich spürte wieder Freude. Ich fühlte mich wieder wie Adriano.“
Das Glücksgefühl war nur von kurzer Dauer, denn laut ‚Sport1‘ wurden ihm plötzlich Verbindungen zur brasilianischen Mafia nachgesagt. Nach nur einem Jahr bei Flamengo kehrte Adriano nach Italien zurück, für die AS Rom absolvierte er jedoch gerade einmal acht Partien, bis er im März 2011 zu Corinthians São Paulo wechselte.
In den Folgejahren war Adriano mehrfach vereinslos, probierte sich noch einmal bei Flamengo sowie Athlético Paranaense und Miami United, bis er die Fußballschuhe 2016 im Alter von 34 Jahren an den Nagel hing. Bei der Nationalmannschaft war übrigens schon im März 2010 Schluss, zu Buche standen 48 Länderspiele und 27 Tore.
Der heute 41-Jährige gehört zu den Fußballern, für die der Konjunktiv erfunden wurde. Was wäre gewesen, wenn ihm dieser Schicksalsschlag niemals widerfahren wäre? Vielleicht wäre er eine der Ikonen der 2000er-Jahre geworden, hätte sein Können nicht nur in Mailand unter Beweis gestellt und vielleicht sogar eine Chance auf die Weltfußballer-Auszeichnung gehabt.
So aber bleibt mit 164 Toren in 348 Profi-Spielen eine manierliche Bilanz über, die sein Potenzial nur in Teilen widerspiegelt. Dem früheren Inter-Kapitän Javier Zanetti macht dieser Karriereverlauf noch immer zu schaffen. „Wir haben ihn nicht von der Depression befreit und das ist vermutlich die größte Niederlage meiner Karriere“, sagte der Argentinier einst laut ‚Sport1‘. Doch Inter, so wirkt es, war machtlos – zu schwer wog die Last auf Adrianos Schultern.