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·10. Februar 2024

Im Fadenkreuz der Kritik

Artikelbild:Im Fadenkreuz der Kritik

Doppelhalter mit dem Abbild von Martin Kind hinter einem Fadenkreuz sorgen für eine Spielunterbrechung beim Spiel Hamburger SV gegen Hannover 96 im Volksparkstadion. Die Debatte eskaliert. Titelfoto: Stuart Franklin / Getty Images via OneFootball

Ein Kommentar von Maik


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Ich dachte eigentlich, wir wären da schon weiter, aber ich muss es wohl doch nochmal grundsätzlich erklären: Fangesänge, Tapeten und Banner in Fußballstadien sind keine wissenschaftliche Arbeit und funktionieren selten bis nie auf der Sachebene. Wenn St. Pauli-Fans zum Beispiel rufen: „Wir sind die wilden Horden, wir rauben und wir morden, wir waschen uns nie – SANKT PAULI!“ – dann ist trotzdem davon auszugehen, dass viele von ihnen ab und zu duschen. Wenn gesungen wird „Die ganze Kurve singt und tanzt für Dich!“, ist dies nicht nur aufgrund der nicht hundertprozentigen Mitmachquote geschummelt, sondern auch, weil Menschen auf der Gegengeraden ebenfalls mitsingen und die Stufen, Sitze und Geländer einer Kurve hingegen gar nicht singen können. Außerdem hüpfen die allermeisten in der Kurve vielleicht noch, werden aber meist nicht auch noch gleichzeitig tanzen.

Fanäußerungen funktionieren nicht auf der „Sachebene“

Harmlose Beispiele, um zu verdeutlichen, was ich eingangs schrieb. Wer so etwas wörtlich nimmt, kommt hier nicht weit. Und so sind auch Bekundungen wie „Tod und Hass dem [Gegnerischer Vereinsname einsetzen]!“ selten wörtlich gemeint, auch wenn einige Fans diesen Ruf trotzdem vermeiden. Wenn Fans des FC St. Pauli „Schon Eure Großeltern haben für Dresden gebrannt!“ auf eine Tapete malen, haben sie vorher keine Ahnenforschung betrieben, sondern wollen in erster Linie auf den wirklich schrägen Opfermythos hinweisen, den man in „Elbflorenz“ seit Jahren pflegt. Oder, um ein Statement der SG Dynamo aus den letzten Tagen aufzugreifen: Sie wollen „polarisieren“.

Haben diese Statements im Hintergrund oft einen wahren Kern? Lassen sie Rückschlüsse auf Sympathie, Abneigung und Antipathie zu? Beinhalten sie aber häufig auch ein Augenzwinkern, gerne mit dem Stilmittel der Übertreibung versehen? Ja, auf jeden Fall.Sind sie wörtlich gemeint, nach journalistischen Standards geprüft und halten der Beweislage vor Gericht stand? Nein, gar nicht. Sollen sie auch nicht.

Womit wir bei gestrigen den Fadenkreuz-Plakaten von 96 gegen Martin Kind wären. „Ein widerwärtiger Grenzübertritt“ schreibt Sebastian Wolff in einem Kommentar beim kicker. Auch die Moderatoren auf sky wählten entsprechende Worte, andere Medien überschlagen sich in meist erstaunlich kenntnisfreien Beiträgen.

Wenn Fußballfans sowas machen, schlägt die Empörungswelle oft sehr schnell hoch, was ganz sicher auch mit der generellen Überhöhung des Profifußballs in diesem Land zusammenhängt. Und ja, wir alle sind Teil davon.Tragen auf Pegida-Demos hingegen Demonstrant*innen einen Galgen mit Stoffpuppen von Politiker*innen spazieren, sind klare Worte zwar vereinzelt vorhanden aber deutlich seltener, oft sogar gemischt mit „man soll die Sorgen ernst nehmen“-Zusätzen. Diese Einordnung der Proteste in den aktuellen Kontext und Kinds Rolle dabei fehlte gestern beispielsweise völlig.

Dabei verfolgen Demonstrationen oft einen konkreten Zweck, während Statements bei Fußballspielen eher Bestandteil einer Gesamtfolklore mit komplexen gegenseitigen Frotzeleien sind. Wir reden hier über eine jugendliche Subkultur, bei der „Grenzen ausreizen“ viel eher dazugehört und wöchentlicher Bestandteil ist, was aus meiner Sicht bei Demonstrationsteilnehmenden eher die Ausnahme sein dürfte.

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Das Team von Hannover 96 auf dem Weg zur Fankurve, vor der längeren Unterbrechung.

// (c) Stuart Franklin / Getty Images via OneFootball)

Ich kann nicht garantieren, dass Martin Kind körperlich komplett unbehelligt ein Treffen der Hannoveraner Ultras besuchen könnte – die Wahrscheinlichkeit aber, dass ihn jemand mit einem Scharfschützengewehr aus der Distanz erschießt, halte ich für nicht gegeben. Ebenso wird auch ohne Zielfernrohr höchstwahrscheinlich niemand mit einer Waffe auf ihn schießen. Das wissen neben Martin Kind und den Fans auch alle Beteiligten in den Verbänden. Ist so ein Plakat die feine englische Schule der gepflegten Kommunikation? Nein. Es ist aber auch nicht der heraufbeschworene Untergang des Abendlandes oder gar eine konkrete Aufforderung zum Mord.

Ist Pyrotechnik verboten? Ja. Wird sie trotzdem in Fankurven genutzt? Ja. Die Maßstäbe der Welt „da draußen“ eins zu eins auf die oft stark verkürzte Kommunikation und Verhaltensweisen in Fankurven zu übertragen, ist zum Scheitern verurteilt – und das ist auch gut so, sollte aber deswegen auch bei der Einordnung bedacht werden.

„Je suis Dietmar“

Ähnliche Diskussionen gab es schon vor der Pandemie, als Dortmunder Fans Fadenkreuz-Plakate gegen Dietmar Hopp etablierten und die Bayern-Fans bei einem Spiel in Hoffenheim mit dem gleichen Mittel beinahe für einen Spielabbruch sorgten, bis Karl-Heinz Rummenigge und Hopp anschließend händchenhaltend im Mittelkreis standen und sichtlich um Fassung ringend gemeinsam für eine bessere Welt beteten. Damit einher ging eine der bizarrsten Schlussphasen in einem Bundesligaspiel, in dem beide Teams sich den Ball minutenlang im Mittelfeld hin und her spielten – wohlgemerkt bei einem Spielstand von 0:6.Dies war im Februar 2020 – und kurze Zeit später hob eine Pandemie die Welt aus den Angeln und diese Diskussion wurde auch seitens der DFL nicht weitergeführt.

Artikelbild:Im Fadenkreuz der Kritik

It can’t rain all the time…

// (c) Daniel Roland / AFP via Getty Images via OneFootball

Die Vorgabe für die Schiedsrichter (bzw. deren aktuelle Interpretation) ist klar, bei derartigen „Schmähungen“ soll die Partie unterbrochen werden. Eigentlich war der Stufenplan des DFB ursprünglich für Diskriminierungen wie homo- oder transfeindliche Plakate gedacht, für rassistische Statements. Aber gegen eine komplett fiktive Bedrohungslage für alte, weiße Männern greift er eben auch.

Wichtiger Unterschied: Unterbrechung statt Abbruch

Und noch eine Ebene wird hierbei leider von den meisten Medien übersehen: Fanszenen sind in aller Regel deutlich schlauer, als man es ihnen zugesteht. Es ist bekannt, dass derlei Plakate aktuell zu einer Spielunterbrechung führen. Während also die eine Fanszene Tennisbälle wirft, die nächste Schokotaler, eine andere Fahrradschlösser an Pfosten anbindet und wieder andere sämtliche Pyrovorräte des Bundeslandes verballert, griffen die Hannoveraner gestern eben zu diesem Mittel – eine Spielunterbrechung komplett einkalkulierend, wie es auch auf einer Tapete schon geschrieben stand.Alles als Zeichen des Protests. Natürlich einerseits gegen Martin Kind, aber eben auch genutzt im Zusammenhang mit den aktuellen Protesten gegen die DFL und den Investoren-Einstieg (bei dem Kind bekanntlich eine besondere Rolle spielte).

Wir erinnern uns: Nichts ärgert die DFL so sehr, wie eine von außen verursachte Spielunterbrechung, die das schöne Hochglanzprodukt beschädigt. Insbesondere auch, was die bisher nahezu unerschütterliche Verlässlichkeit für die TV-Anbieter im In- und Ausland anbelangt. Jahrzehntelang waren die Samstagsspiele der Bundesliga um spätestens 17.20h alle abgepfiffen. Wichtiger Bestandteil der zeitlichen Planung der Berichterstattung.Durch die Zunahme an Nachspielzeit gibt es hier bereits leichte Abweichungen, die aktuellen Proteste aber überreizen dies nochmals extrem – und lassen die DFL als weniger verlässlich in der sehr teuren TV-Planung erscheinen. Ausgerechnet in einer Phase, in der die nächste Ausschreibung ansteht. Wie ärgerlich.

Insofern erfüllt die Unterbrechung der Spiele einen einfachen Zweck. Ob das Mittel dafür jetzt ein geworfener Tennisball oder ein Doppelhalter mit hässlichem Konterfei drauf ist, dürfte den Fans ziemlich egal sein. Wenn man aber durch wöchentlich wechselnde Formen unberechenbar bleibt und so immer wieder einen neuen Stachel in das Vermarktungsfleisch der DFL rammen kann, so ist dies alles Teil des Spiels – nur eben nicht von jenem Spiel, welches die DFL gerne hätte. Doch die DFL findet dagegen ebenso wenig ein Mittel, wie wackelige Defensiven gegen gute Sturmreihen. Die Proteste werden uns ganz sicher noch weiter begleiten, in welcher zu wählenden Form auch immer.// Maik

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