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·1. August 2023
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Frankfurt, 17. Juli, WM-Finale 2011, Minute 116, Spielstand 2-1 für die USA. Ecke Japan, Homare Sawa, Nummer 10 auf dem Trikot, Kapitänsbinde am Arm, macht das Tor. Elfmeterschießen, die USA zeigen Nerven, Japan nicht. Weltmeister.
Etwas mehr als 9000 Kilometer östlich sitzt Jun Endo mit ihrer Familie vor dem Fernseher, wie so viele andere. Es ist 3:45 am Morgen, Millionen sind aufgestanden, um das Spiel zu sehen. Und das, obwohl die Chancen auf einen Sieg verschwindend gering scheinen. Japan hat noch nie gegen die USA gewonnen, stand vor der WM nicht mal in einem Finale. Fast niemand hatte Nadeshiko als Sieger auf dem Zettel, erst recht nicht in einem Finale gegen die übermächtigen USA.
Dass Japan überhaupt bei dieser WM antrat, war schon ein Wunder. 128 Tage vorher hatte ein Erdbeben an der Pazifik-Küste einen Tsunami ausgelöst, Zehntausende starben, Hunderttausende wurden evakuiert. Das Fukushima-Atomkraftwerk wurde beschädigt und große Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt. An Fußball war nicht zu denken, natürlich nicht. Die Liga wurde aufgelöst, und dann stand plötzlich die WM vor der Tür.
Der Verband, die JFA, hatte andere Prioritäten - fast wären die Spielerinnen gar nicht nach Deutschland geflogen. Doch Japan entschied sich bewusst, zu spielen. Nicht trotz, sondern wegen Fukushima, um ein Zeichen zu setzen, Hoffnung zu schenken. Zur Motivation vor den Spielen zeigte Trainer Norio Sasaki den Spielerinnen Videos von Fukushima vor der Katastrophe. Zwei Spielerinnen im Kader, Aya Sameshima und Karina Maruyama, arbeiteten in dem Atomkraftwerk Fukushima. An eine vernünftige Vorbereitung war nicht zu denken gewesen.
Japans Sieg im Finale war das ultimative Fußball-Märchen, fast schon zu kitschig, um wahr zu sein. David gewinnt gegen Goliath, auferstanden aus Trümmern, ein Zeichen für ein demoralisiertes Land. Als der Schlusspfiff ertönt, geht gerade die Sonne auf. Der späte Ausgleich von Homare Sawa, der wohl besten japanische Fußballerin aller Zeiten.
Der 17. Juli rückt plötzlich ein Team ins Licht, das zuvor um Beachtung kämpfen musste. Ein einziges Turnier löst das aus, was man sich auch in Deutschland von der WM 2011 erhofft hatte: Einen Wandel, Boom, eine Inspiration. Der Mädchenfußball wächst rasant. Der Traum, auch einmal für Japan zu spielen, die WM zu gewinnen, wächst auch in Jun Endo.
Endo ist zehn Jahre alt und in der Umkleidekabine für den Sportunterricht, als das Erdbeben ihre Heimatregion Fukushima zerstört. Mit ihrer Familie lebt sie gerade weit weg genug, um nach der Atomkatastrophe nicht evakuiert zu werden. Aber Endo und ihre Brüder können monatelang nicht nach draußen gehen, um Fußball zu spielen, wie sie später in einem ESPN-Interview erzählt.
Sie ist mit dem Fußball aufgewachsen, ihr Vater Trainer. Kein Fußball mehr? Keine Option. Endo spielt zuhause, trainiert ihre Technik. Ball hochhalten, dribbeln, Übersteiger. Diese Phase prägt Endo als Fußballerin, heute verspringt ihr kaum ein Ball.
Obwohl Endo zum ersten Mal ihr Talent erkennt, überlegt sie kurz danach, die Schuhe an den Nagel zu hängen. Endo kann endlich wieder spielen, auch wenn sie dafür eine lange Busfahrt auf sich nehmen muss. Aber schlimmer noch: Ihre neuen Teamkolleginnen behandeln Endo, als wäre sie selbst radioaktiv, weil sie aus der Region Fukushima kommt. Sie weichen ihr in den Zweikämpfen aus und sagen, Endo solle sie nicht berühren. Solche Irrglauben sind kurz nach der Katastrophe weit verbreitet, und sie führen dazu, dass Endo fast den Fußball aufgibt.
Aber nur fast, denn im Sommer gewinnt Japan die WM, und Endo schaut zu. Sie sieht Homare Sawa und Aya Sameshima, sieht Spielerinnen, die ebenso wie sie mit den Folgen des Erdbebens zu kämpfen hatten. Und die trotzdem weitergemacht haben, bis zum Finale, bis zum Elfmeterschießen, bis zum WM-Sieg. Zwei Jahre später zieht Endo in eine große Fußball-Akademie, harte Regeln, strenge Hierarchien. Endo macht weiter, und 2022 wechselt sie in die amerikanische Liga, zu Angel City.
Bei Angel City, dem visionären Fußballprojekt von Serena Williams, Natalie Portman und Co., schreibt sie Geschichte. Das erste Tor des Vereins legt sie auf, das zweite schießt sie selbst. Sie lässt Taten für sich sprechen, denn zu Beginn ihrer Zeit in den USA spricht Endo kein Englisch. Aber mit ihren scharfen Flanken, den schnellen Bewegungen und ihren charakteristischen pinken Haaren wird Endo schnell zu einem "fan favorite". In den USA, sagt Endo, kann sie ihre Individualität mehr ausleben als in Japan, wo Konformität über Kreativität geht.
Bei der WM hat Japan einen fantastischen Mix aus diesen beiden Qualitäten gefunden. Das Nationalteam, Nadeshiko, und Endo haben alle drei Gruppenspiele dominant gewonnen und dabei den schönsten Fußball der WM gezeigt. Flüssig und schnell, technisch überragend, eiskalt. Alle Rädchen greifen ineinander, jede versteht ihre Rolle, perfekte Organisation, ohne auf Spontaneität zu verzichten.
Das Kollektiv ist größer als jede Einzelspielerin, Japan kann es sich erlauben, Stars wie Endo oder Yui Hasegawa auf der Bank zu lassen, ohne an Qualität zu verlieren. Aber trotzdem ist Raum für Individualität. Am Ball hat jede Spielerin die Freiheiten, die sie braucht, solange das Pressing darunter nicht leidet.
Mit 4:0 demolierte Japan den Mitfavoriten Spanien, Konterfußball nach allen Regeln der Kunst. Drei Ballberührungen im Strafraum in der ersten Hälfte, drei Tore. Japan kann, wie gegen Sambia und Costa Rica, das Spiel machen und es dominieren, aber sich auch tief zurückziehen. Diese taktische Flexibilität und die Anpassung an den Gegner sorgen dafür, dass Japan, vor dem Turnier höchstens Geheimfavorit, plötzlich als Kandidat auf den Titel gehandelt wird. Auch Norwegen hatte den Japanerinnen im Achtelfinale wenig entgegenzusetzen.
Mittendrin Jun Endo, die besonders im ersten Spiel gegen Sambia überragt. Endo hat viel von dem, was dieses Team ausmacht. Sie spielt schön, mit überragender Technik, und doch direkt. Nie ein Ballkontakt zu viel, nie ein unnötiges Dribbling. Endo spielt in Japans System etwas defensiver als bei Angel City, als linke Außenspielerin vor der Dreierkette, und hat sich dort hervorragend eingefügt.
"Wenn man nicht schnell Boden gutmachen kann, schafft man es in dieser Liga nicht", sagte Angel-City-Managerin Freya Coombe zu der Verpflichtung von Jun Endo, und diese Fähigkeit zeigt sie nun auch in ihrer neuen Rolle zwischen Abwehr und Angriff. Japan spielt viel über die Flügel, womit ihr eine wichtige Rolle zukommt. Um Endos Qualitäten zu verdeutlichen, sagt ein Pass mehr als tausend Worte, nämlich der von Endo vor Japans 1:0 gegen Spanien:
Endos Geschichte zeigt auch gut, wie es Japan gelungen ist, wieder zur Weltspitze aufzuschließen. Denn obwohl der WM-Sieg 2011 ein wegweisender Moment war, folgten ein paar schwierige Jahre. 2015 kam Japan nochmal ins WM-Finale, musste sich aber dort den USA geschlagen geben. Anfang der 2010er Jahre war es das dominante Duell - bei der WM könnten beide Teams im Halbfinale wieder aufeinandertreffen. Danach enttäuschte Japan bei einigen großen Turnieren aber: WM 2019 - Aus im Achtelfinale, Olympia 2021 in Tokio - Aus im Viertelfinale.
2021 übernahm Futoshi Ikeda das Team, der zuvor die Juniorenteams gecoacht hatte. Etwa ein Dutzend der Spielerinnen, darunter Endo, hatten bereits früher unter ihm gespielt. Zusammen mit der aktuell Führenden in der Torschützenliste, Hinata Miyazawa, und Riko Ueki und Fuka Nagano gewann sie 2018 mit Ikeda als Trainer die U20-WM. Auch wenn das Nationalteam zu der Zeit keine Titel abräumte, blieb die Nachwuchsarbeit konstant gut.
Das zahlt sich nun aus. Endo, Miyazawa und Co. glänzen bei der WM, und die nächste Generation mit den Teenagern Maika Hamano und Aoba Fujino steht bereits in den Startlöchern. Unter Ikeda lief es zunächst nicht rund und das Team brauchte eine Weile, um sich an das neue System mit der Dreierkette zu gewöhnen.
Aber genau zum richtigen Moment scheint sich für Japan alles zu fügen. Die Frage ist nur, ob sie dieses hohe Niveau bis zum Ende halten können. Wenn das gelingt, wird es sehr schwer, Nadeshiko zu stoppen. In puncto Spielintelligenz, Effizienz und Taktik macht ihnen bisher niemand etwas vor. Vielleicht gelingt es Jun Endo und Co. sogar, einen neuen Homare-Sawa-Moment zu schaffen.