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·21. Juli 2023
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Argentinien ist stolz darauf, ein Fußballland zu sein. Aber eigentlich müsste man sagen: Argentinien ist stolz darauf, ein Männerfußballland zu sein. Denn während jedes Kind den Namen von Messi kennt, fristete der Fußball der Frauen lange ein Schattendasein. Nach einem Protest gegen den Verband wurde Star Estefanía Banini gar vom Nationalteam ausgeschlossen. Jetzt ist sie wieder dabei, und will in ihrer letzten WM die Albiceleste aus der Gruppenphase führen. Das ist ihre Geschichte.
In Argentinien war der Fußball der Frauen lange nur zweitrangig. Wenn überhaupt, denn auch die Nachwuchsteams der Männer wurden vom Verband mehr gefördert. Estefanía Banini erlebte das, so wie viele andere Mädchen in Südamerika, selbst: Als sie mit fünf Jahren anfangen wollte, Fußball zu spielen, musste sie mit ihren Eltern sechs verschiedene Vereine anfragen, bevor sie eine Chance bekam.
Für das Nationalteam war die Lage wenig besser, und lange waren die Spielerinnen quasi unsichtbar in der Öffentlichkeit und vom Verband eher toleriert als unterstützt. Trotz der quasi nonexistenten Förderung erreichte die Albiceleste zweimal die WM, 2003 und 2007. Aber auch diese Erfolge änderten nichts, obwohl das Potenzial offensichtlich da war.
Es ist ein wiederkehrendes Muster in der Geschichte des Fußballs der Frauen: Wenn ein Team Erfolg hat, werden die Leistungen nicht honoriert. Wenn der Erfolg aber ausbleibt, wird das als Anlass genutzt, um die Förderung noch mehr zu kürzen. So auch bei Argentinien: 2015 hatte das Nationalteam gerade die Qualifikation zur WM verpasst. Wegen der unterirdischen Trainingsbedingungen wenig verwunderlich. Der Verband reagierte prompt und entzog dem Nationalteam die bereits minimale finanzielle Unterstützung.
Lieber wurde das Geld in das Männerteam investiert, das zu der Zeit eine erfolgreiche Ära erlebte: 2014, 2015 und 2016 zogen sie in das Finale eines großen Turniers ein. Wer braucht da schon ein Frauenteam? In den folgenden zwei Jahren existierte die Nationalteam praktisch nicht mehr. Sie hatten weder einen FIFA-Rang noch einen Trainer.
2017 gab es auf dem Papier dann wieder ein Nationalteam, aber an der Misere hatte sich wenig geändert. Die Spielerinnen trainierten auf Kunstrasen oder Sand, und mussten einmal auf einer Auswärtsfahrt im Bus übernachten. Als Kompensation für die Kosten sollten die Spielerinnen eigentlich lächerliche 7 Euro für jedes Trainingscamp bekommen. Aber selbst diesen Betrag erhielten sie selten pünktlich. Bis 2019 hatte das Land nicht mal eine eigene Liga. Um sich auf die Copa America vorbereiten, hatten sie genau 15 Tage.
Kurz, die Bedingungen waren desaströs. Trotzdem schaffte es die Albiceleste, sich für die Weltmeisterschaft 2019 zu qualifizieren, sondern holte auch ihren ersten Punktgewinn überhaupt. Endlich tat auch der Verband das, was lange überfällig gewesen war: Er gelobte Besserung, gab den Spielerinnen professionelle Verträge, investierte in die Liga.
Die WM wurde zu einem vollen Erfolg: Gegen Japan, den WM-Sieger von 2011, gewannen die Argentinierinnen überraschend einen Punkt und die Sympathien vieler Zuschauer. Gegen Schottland gelang ein spektakuläres Comeback: Nach einem 0:3-Rückstand kam Argentinien noch zu einem Unentschieden.
Banini, mit der ikonischen Nummer 10 auf ihrem Trikot, war Kapitänin der Mannschaft und spielte eine zentrale Rolle. Zum Weiterkommen reichte das nicht, aber 2019 war ein Wendepunkt. Zum ersten Mal gab es so etwas wie Aufmerksamkeit für das Nationalteam, und die Hoffnung auf bessere Zeiten blühte auf.
Die Hoffnung blühte nicht lange. Dass der argentinische Verband ausgerechnet jetzt die Frauen mehr unterstützte, war mehr Kalkül als Sinneswandel. Denn das Nationalteam der Männer war 2019 in einer schweren Krise - da konnte der Verband einen Erfolg für das Image gut gebrauchen. Schon als die neue Haltung der AFA zum ersten Mal auf die Probe gestellt wurde, zeigte sich wieder das gewohnte Bild. Denn trotz der Erfolge brodelten Probleme unter der Oberfläche - Probleme, die der Verband nicht sehen und hören wollte.
Kurz nach der Weltmeisterschaft kritisierten vier erfahrene argentinische Spielerinnen - eine von ihnen Banini - ihren Trainer Carlos Borrello. Sie forderten einen Trainerstab mit mehr Erfahrung und Sachverstand. "Wir sind alle der Meinung, dass er nicht genug Fähigkeiten hat", sagte Banini. Sie fügte hinzu, dass er technisch und taktisch nicht auf der Höhe sei.
Ihre Kritik stieß bei dem Verband und den Medien auf Unverständnis. Schließlich hatte das Nationalteam gerade einen der größten Erfolge ihrer Geschichte errungen, und der Verband hatte endlich ihren Forderungen nachgegeben - und sie wagten es, trotzdem weitere Verbesserungen anzuregen! Auch hier wurde ein Narrativ verbreitet, das im Fußball der Frauen sehr geläufig ist: Die Spielerinnen sollten doch nicht so undankbar sein, schließlich würden sie auch wenig Geld einspielen. Das Nationalteam solle froh sein, überhaupt wieder spielen zu dürfen, so der Konsens.
Dazu war der Trainer für den Verband unangreifbar: Carlos Borrello war schon seit 1998 im Amt und hatte exzellente Verbindungen zu den mächtigen Männern bei der AFA. Dass das Team überhaupt erfolgreich gewesen war, wurde nicht den Spielerinnen, sondern ihm zugeschrieben. Wie falsch konnten Borrellos Methoden sein, wenn er sie in so kurzer Zeit zu einer Mannschaft gemacht hatte, die mit den Besten mithalten konnte?
Borrello und der Verband reagierten prompt: Banini und Belén Potassa, die ebenfalls zu der Gruppe von Spielerinnen gehörte, die ihn kritisiert hatten, wurden aus dem Kader für die Panamerikanischen Spiele gestrichen.
Aus sportlicher Sicht eine unerklärliche Entscheidung, da Banini eine Top-Spielerin ist. Als eine der wenigen Argentinierinnen hat sie in der NWSL gespielt und dort überzeugt. Die offensive Mittelfeldspielerin glänzt mit ihren technischen Fähigkeiten und ihrer Übersicht. Meghan Klingenberg, früher eine Top-Verteidigerin der USA, sagte über ihre Duelle mit Banini: "Wenn man gegen sie spielt, hat man große Angst, dumm dazustehen (...) Ich habe immer gehofft, dass sie auf der anderen Seite ist." Inzwischen ist Banini Leistungsträgerin bei Atlético Madrid.
Banini beschloss daraufhin, nicht mehr in die Mannschaft zurückzukehren, selbst wenn sie erneut eingeladen würde. Aus Solidarität schlossen sich drei weitere Spielerinnen ihr an. Im Oktober 2019 sagte sie:
"Ich wünsche mir weiterhin, wieder das Trikot der Nationalmannschaft zu tragen... Das Blau-Weiß zu tragen ist das Schönste, was mir in meiner Karriere passiert ist, es ist unerklärlich. Wenn einem der Traum, für Argentinien zu spielen, genommen wird, weil man Besserung gelobt, ist das sehr schmerzhaft, aber ich habe Vertrauen, dass alles besser wird."
Die Kritik richtete sich zu allererst an Borrello, viel mehr aber noch an den Verband. Die AFA verweigerte sich erneut einer konstruktiven Diskussion und war kritischen Stimmen gegenüber auf beiden Ohren taub. Wenn jahrelang, gar jahrzehntelang, das Frauenteam vernachlässigt wird, dann kann die Inkompetenz einer einzelner Person nur die Spitze des Eisbergs sein.
Hier zeigt sich wieder die Heuchlerei des argentinischen Verbandes: Einerseits verlangten sie von ihrem Frauenteam Top-Leistungen und drohten ansonsten mit Kürzungen im Budget (siehe 2015). Andererseits stellten sie sich aber aktiv gegen die nötigen Veränderungen und verhinderten jede Debatte über bessere Bedingungen.
Monate und Jahre vergingen, und nichts geschah. Dann, im Juli 2021, gab Borrello seinen Posten als Cheftrainer auf, um Koordinator der argentinischen Frauenmannschaften zu werden. Germán Portanova wurde neuer argentinischer Trainer, und nachdem Banini von einer Verletzung zurückkehrte, spielte sie endlich für die Albiceleste. Im April 2022 gab sie endlich ihr emotionales Comeback im blau-weißen Trikot:
Baninis Comeback sollte natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die tiefgreifenden Probleme noch nicht gelöst sind. Als Koordinator der Nationalteams hat Borrello nun eine Rolle, die vielleicht sogar noch wichtiger ist. Auch abgesehen von Borrellos Person liegt noch viel im Argen. Im Kern geht es bei dem Konflikt um die Kommunikation zwischen Spielern und Verband.
Ob die AFA das nächste Mal anders mit Kritik umgeht, bleibt noch offen. Und auch bei der Unterstützung für den Fußball der Frauen durch den Verband bleibt Luft nach oben: Wie Banini dieses Jahr in einem Podcast verriet, liegt das durchschnittliche Gehalt einer Spielerin in der argentinischen Liga bei etwa 40$ pro Woche - und damit unter der Armutsgrenze.
Aber es gibt auch Fortschritte: Im April 2023 kamen 31.800 Fans zu einem Freundschaftsspiel gegen Venezuela. Ein Rekord mit weitem Abstand. Eine erfolgreiche WM, mit Banini als Dreh- und Angelpunkt in der Offensive, könnte für die Entwicklung ein weiterer Katalysator sein.
In der Gruppe mit Schweden und Italien ist das erste Weiterkommen in Argentiniens Geschichte nicht selbstverständlich, aber auch keine Unmöglichkeit. Banini, inzwischen 33, wird bei ihrer letzten WM alles dafür geben, um die Entwicklung in Argentinien weiterzutreiben. Durch ihren Protest wird sie nicht nur als beste argentinische Spielerin angesehen, sondern auch als Botschafterin und Vorbild. Viele vergleichen ihren Status in Argentinien mit dem von Marta in Brasilien.
Ein Vergleich, der angemessener ist als der von Banini mit Messi, den sie als lästig empfindet, denn sie will als eigene Person, unabhängig vom Erfolg der Männer, angesehen werden. Die WM könnte ein weiterer Schritt in diese Richtung sein. Vielleicht ist das Land in einigen Jahren dann ein echtes Fußballland, ob Männer oder Frauen.
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