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Jan Schultz·30. April 2022
Der meistgehasste Spieler der Bundesliga - und warum er Liebe verdient

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Jan Schultz·30. April 2022
Die 90. Minute ist gerade abgelaufen, die Nachspielzeit bricht an. Von links segelt noch einmal ein hoher Ball vors Tor, es ist der finale Anlauf der Gäste. Ihr Stürmer schraubt sich hoch, setzt einen wuchtigen Kopfball ins rechte Eck, der Ball zappelt im Netz. Doch noch der späte Siegtreffer, die Erlösung in sprichwörtlich allerletzter Sekunde. Und dann ein Jubel, der dem kompletten Heimblock die Zornesröte ins Gesicht treibt – und dem Siegtorschützen selbst zahlreiche Bierbecher.
Davie Selke und der SV Meppen haben überhaupt keine gemeinsame Vorgeschichte, in jenem Moment aber könnten die Anhänger des Drittligisten wohl niemanden mehr hassen als den Hertha-Angreifer. Nicht wegen seines Treffers, sondern wegen der darauf folgenden Aktion. Selke dreht schließlich bewusst in die SVM-Kurve ab, baut sich vor dieser auf und liefert seinen typischen, mit drei Fingern salutierenden Jubel.
Der groß gewachsene Offensivmann beginnt damit allerdings keine Fehde, er bringt sie zum Abschluss. Denn obwohl sich die Wege vorher nie gekreuzt haben, ist Selke doch von der ersten Minute an die Reizfigur schlechthin in der Hänsch-Arena. Die Meppen-Fans beleidigen ihn die ganze Partie über, pöbeln immer wieder in seine Richtung.
„Das Gute ist, dass ich es gewohnt bin, wenn mal der eine oder andere Spruch von der Tribüne kommt. Das hat mir nichts ausgemacht“, spielte der Matchwinner dies nach Schlusspfiff herunter. Seinen großen Moment in der Nachspielzeit hat er trotzdem voll ausgekostet.
Womöglich auch deshalb, weil er diese Situationen nur selten bekommt. Schaut man auf die reinen Zahlen, war der frühere Junioren-Nationalspieler in den letzten Jahren selten einer, der Spiele entschieden hat. Nach seiner ersten Saison in Berlin verlor Selke auch verletzungsbedingt zunächst den Rhythmus, dann endgültig einen Platz in der Startelf. Die Rückkehr nach Bremen brachte nicht den erhofften Aufschwung. In anderthalb Jahren erzielte er vier Tore. Dem stehen neun Gelbe Karten gegenüber.
In der Hansestadt wurde der Angreifer so zu einem Gesicht des Abstiegs, für Unmut sorgte aber schon seine Ankunft. Einerseits hatte er Werder Jahre zuvor für RasenBallsport Leipzig verlassen, andererseits kehrte er mit einer horrenden Kaufpflicht im Gepäck zurück: Knapp 15 Millionen Euro hätte der Stürmer im Falle des zweimaligen Klassenerhalts gekostet.
Das wiederum war freilich eine Last, für die er selbst gar nichts konnte. Selbiges gilt aber auch für das Ausmaß an Häme und Kritik, das dem womöglich meistgehassten Spieler der Bundesliga tagtäglich in den sozialen Medien entgegenschlägt. Von Fans der eigenen Mannschaft ebenso wie von Anhängern gegnerischer Teams, sie alle ziehen über ihn her. Mal in Form von Memes, mal mit plumpen Schimpfwortfestivals. So zu sehen war dies erst am letzten Wochenende, als er Hertha gegen Stuttgart in Führung schoss.
Herablassende Aussagen finden sich aber nicht nur von frustrierten Fans, sondern auch von Gegenspielern. „Davie Selke ist ein Spieler, gegen den ich gerne spiele, weil ich weiß, ich bin besser. Das spornt mich nochmal mehr an. Gegen so einen spielt man auch gerne, um ihm zu zeigen: ‚Hey, was bist du eigentlich für einer?'“, erklärte Frankfurts Martin Hinteregger einst.
Es sind vergleichsweise nette Worte, gerade im Netz fallen sie oftmals drastischer aus. Bereits als Teenager hatte der Herthaner indes ein noch übleres, von Rassismus geprägtes Erlebnis: „Ich habe mit 15 Jahren eine heftige Erfahrung gemacht. Wir waren auf einem Dorffest, die Leute sind uns da mit aufgeschlagenen Flaschen und diversen Beleidigungen angegangen, sind uns sogar hinterhergerannt. Wir haben als Kinder das Weite gesucht und waren sehr schockiert. Das ist eine Erfahrung, die einen sehr prägt.“
Es ist ganz gewiss ein Erlebnis, das niemand machen sollte. Das Selke aber womöglich abgehärtet hat, lange bevor er ins knallharte Profigeschäft eingetaucht ist.
Zur Wahrheit des oftmals Kritisierten gehört indes auch, dass er nicht nur aktiv mit aufreizenden Jubelgesten provoziert, sondern auch mit seiner Spielweise. Selke geht gerne Mal rabiat in Zweikämpfe, nutzt aber ebenso sich anbietende Kontakte, um seinem Team Standardsituationen und Zeit einzubringen. Als Gegner will man ihn nicht unbedingt haben, er ist trotz seiner technischen Schwächen maximal unangenehm.
Gleichwohl bringt der 27-Jährige damit aber auch sehr viele Attribute mit, die jeder Fan, jeder Trainer in der eigenen Mannschaft haben will. Er schreckt vor keinem Zweikampf zurück, liefert immer maximalen Einsatz und jubelt authentischer, ausgelassener als jeder andere Bundesliga-Spieler – selbst dann, wenn der Treffer erst nach Eingreifen des VAR gegeben wird. Eigentlich eine beneidenswert kindliche Freude, die sich im Business, das der Fußball heutzutage ist, nur ganz wenige erhalten haben.
Und doch wird bei Selke selbst derartige Ekstase als Anlass genutzt, um über ihn zu spotten. So etwa gegen Frankfurt, als er für Hertha auf 1:3 verkürzte und das Stadion mit seinem energischen Jubel wachrütteln wollte – stattdessen aber medial ausgelacht wurde.
Ob die „Fußballgott“-Rufe, die im Olympiastadion immer mal wieder auf seinen Namen folgen, gänzlich ernst gemeint sind, ist unklar. Wahrscheinlich sind sie aufgrund der Leistungen der letzten Jahre auch nicht angebracht. Mit seiner authentischen, kämpferischen Art, zu der abseits des Feldes das breite Grinsen als steter Begleiter ebenso gehört wie die Offenheit und Freundlichkeit gegenüber den Fans, verdient sich Selke aber ohne Frage deutlich mehr Liebe.
So gesehen sollten wir es alle etwas mehr wie Hertha-Fan und Twitter-User @Ollixesh halten: Seitdem ihm der Stürmer zum Geburtstag ein Trikot überreicht hat, trägt er „Ein 💙 für Selke“ in seiner Twitter-Beschreibung.
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