
Textilvergehen
·28 mai 2023
Es sind die goldenen Zwanziger: So ne Scheiße, Champions League

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·28 mai 2023
Wo anfangen? Was aufschreiben? Wie nicht permanent die CAPS-Taste drücken um den gefühlten Emotionen noch ein bisschen mehr Ausdruck zu verleihen?
Es ist nicht das erste Mal, dass ich nach einem sehr erfolgreichen und historischen letzten Spieltag versuchen darf, ein paar passende Worte zu finden (vielen lieben Dank an dieser Stelle an unseren Leser Andreas!). Auch wenn alleine der Gedanken an die Eindrücke von gestern Gänsehaut auslöst und die Bilder noch sehr präsent sind, ist es gar nicht mal so einfach, dies ALLES (da ist sie die Feststell-Taste) in Textform zu gießen.
Nicht nur ein guter Verteidiger sondern auch ein sympathischer Typ mit bewegender Geschichte: Timo Baumgartl wird verabschiedet, Foto: Matze Koch
Diese Gefühle, Momente und Eindrücke. Die knisternde Stimmung vor Anpfiff. Die Spieler-Verabschiedungen von Timo, Niko, Levin oder Tim. Der Kloß im Hals, die emotionale Betroffenheit, die in der gestrigen Halbzeitpause wieder einmal sehr groß war, als Christian Arbeit vorlas, welche Unionerinnen und Unioner dies nicht mehr gemeinsam mit uns erleben können. Ein Stadion was in diesen Momenten ganz andächtig gemeinsam klatscht und ehrliche Anteilnahme zeigt.
Ein Stadion was sich in der zweiten Halbzeit genau wie die Mannschaft auf dem Rasen immer wieder pushte, die Lautstärke erhöhte. Bis es zum absolutem Freudentaumel. Zum erlösenden Tor von Rani nach einer tollen Kombination, bis zur Eruption mit unzähligen Bierduschen kam. Zu so vielen grinsenden, euphorisierten, ekstatischen Gesichtern.
Das erlösende Tor, der erlösende Jubel, Foto: Matze Koch
Aber auch zu ein paar kullernden Freudentränen bei einigen Unionerinnen und Unionern. Das Team, die Mannschaft auf dem Balkon. Schon wieder, im x-ten Jahr in Folge. Der damit verbundene Rausch, die roten Fackeln, eine neu interpretierte Version von Achim Mentzels „Stimmung in der Alten Försterei“ von den Milliarden, deren Sänger mal bei Union in der Jugend spielte, auf der Bühne am Parkplatz. Und die etlichen anderen Emotionen und Bilder, die unmöglich alle weder nacherzählt noch aufgesogen werden können und dennoch wieder für soviel Serotonin-Ausschüttung, für ein prall gefülltes Erinnerungskonto auf der Glücksbank fürs Herz sorgen.
Dies ALLES wegen einer Mannschaft, die gestern ein weiteres Mal bewiesen hat, dass sie mehr als ein Team ist, dass sie mit Druck umgehen kann, dass sie bis zur letzten Minute an sich glaubt und eben keine Angst vorm Verlieren sondern nur eine unbändige Lust auf das Gewinnen zu haben scheint. Eine Mannschaft, die eben mehr als die Summe ihrer Teile ist und sich daher kollektiv mit höchsten Vergnügen verausgabt, in Bälle und Zweikämpfe wirft und daher wieder eine Saison hinlegt, über „die du echt nich meckern kannst“.
Wat willste da noch sagen?, Foto: Matze Koch
Die über 34 Spieltage gesehen wiederum die beste Saison der Vereinsgeschichte ist, die zu 62 Punkten in der höchsten deutschen Spielklasse geführt hat. Und die der Mannschaft, dem Verein, damit das Recht erspielt hat, in einem Wettbewerb anzutreten, der aufgrund seiner Zusammensetzung gerade in den späteren Runden oftmals wie das Treffen von alimentierten und verwöhnten Privat-Uni-Studierenden wirkt, bei dem der Zugang beschränkt und die Gesichter nahezu immer die gleichen sind. In einem Wettbewerb in dem der 1. FC Union Berlin mit Blick auf die Begebenheiten des modernen Fußballs eigentlich nichts zu suchen hat. Ein Wettbewerb, der auch nicht durch die Teilnahme von Union auf einmal fairer und ausgeglichener wird und bei dem Union maximal (oder immerhin) der bunte Furunkel am dicken Hintern der protzigen Großklubs sein kann.
Aber eben auch ein Wettbewerb der großes Anziehungspotenzial besitzt, der für jeden ambitionierten Fußballer zurecht das Maß aller Dinge im Vereinsfußball darstellt, der eine Hymne hat, die vor Spielbeginn schon eine Atmosphäre erzeugt, wie es sonst wohl keine offiziell-orchestrierte Darbietung im gesamten Fußball-Kosmos vermag zu erschaffen.
Und darüber hinaus, so ehrlich muss man sein, zudem ein Wettbewerb ist, bei dem einfach verdammt viel Geld verdient werden kann, was generell aber gerade angesichts der glücklicherweise (vorerst) gescheiterten DFL-Investorenpläne, für Union und den Stadionausbau sicherlich kein unwichtiger Nebeneffekt ist.
Noch ist der Pokal nur aus Pappe… Foto: Matze Koch
„So ne Scheiße, Champions League“ halt, die Ambivalenz des Fanlebens. Ich vermute die unbändige Freude der meisten Unionerinnen und Unionern rührt nicht unbedingt daher, den sicherlich vorhandenen Königsklassen-Mythos nun mit Union mitnehmen zu können, sondern liegt vielmehr im Stolz auf dieses Team, auf diese unglaubliche Mannschaft, begründet.
Auf den unwiderruflichen Fakt, dass „WIR.FUCKING.VIERTER.IN.DER.FUßBALL-BUNDESLIGA.SIND!“, wie es Stadionsprecher Christian Arbeit nach Spielschluss so oder so ähnlich formulierte. Im erst vierten Bundesliga-Jahr der Vereinsgeschichte, auf den Tag genau vier Jahre nach dem Aufstieg gegen den VfB Stuttgart.
Rein sportlich betrachtet gab es in der Vereinsgeschichte des 1. FC Union Berlin keine Zeit in der das Intro der Vereinshymne (nachträgliche Geburtstagsglückwünsche dem Sprecher des Intros an dieser Stelle!) wohl passender war: „Es war in den goldenen Zwanzigern!“ Seit Mai 2019 leben wir als Union-Fans in einem Rausch, in einer gefühlten Simulation. Seit 2020 in den goldenen Zwanzigern. Wo das noch alles hinführen wird, weiß niemand, die 2020er gehen ja schließlich noch ein paar Jahre…
Die goldenen Zwanziger… Foto: Matze Koch
Irgendwann werden wir sicher daraus aufwachen. Aber das ist gar nicht schlimm. Denn bis auf vielleicht einige wenige Union-Fans, die erst kürzlich welche geworden sind, glaubt wohl niemand ernsthaft daran, dass es immer so weitergehen kann. „Damals mit Damir Kreilach noch zweite Liga“ ist noch gar nicht solange her. Und auch das war super!
Mehr als diese vielleicht teilweise etwas konfus wirkende Worte habe ich dann zum gestrigen Tage, zu einem weiteren Höhepunkt der goldenen Zwanziger, auch nicht mehr zu schreiben, sodass ich es mit Urs Fischer halte, der auf dem Balkon im AFTV-Interview sagte:
„Lass uns jetzt endlich mal aufhören zu quatschen und feiern!“
Prost Urs, du Königsklassen-Macher! Foto: Matze Koch
Wie schon oben erwähnt, müssen wir leider Abschied von einigen beliebten und engagierten Unionerinnen und Unionern nehmen. Auch die langjährige Vereinsmitarbeiterin Heike Albrecht ist leider nach schwerer Krankheit verstorben. Sie wurde für ihre empathische und engagierte Art sehr geschätzt und hinterlässt eine große Lücke in der Union-Familie. Es ging Stadionsprecher Christian Arbeit gestern in der Halbzeitpause hörbar sehr nahe, schon wieder soviele Union-Fans für immer verabschieden zu müssen. Allen Hinterbliebenden gilt unsere Anteilnahme, EISERN UNION!
Auch die Union-Frauen haben einen erfolgreichen Saison-Abschluss feiern können. Sie schlugen den Rostocker FC mit 4:0.
Während gestern vor vier Jahren der Aufstieg in die Fußball-Bundesliga gelang, errang Union unter Trainer Karsten Heine heute vor 35 Jahren, am 28.05.1988, einen 3:2-Auswärtssieg in Karl-Marx-Stadt und stieg nicht aus der DDR-Oberliga ab.