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·13 septembre 2024
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Der 1. FC Heidenheim schreibt momentan an einem weiteren Kapitel einer ohnehin märchenhaften Fußball-Romanze. Die Mannschaft von Frank Schmidt trotzt den Abgängen sämtlicher Leistungsträger und hat sich zu DER Geschichte des Saisonstarts aufgeschwungen. Im Mittelpunkt dieser Story steht Paul Wanner. Doch es wäre fatal, den Erfolg der Schwaben auf nur einen Namen zu reduzieren.
Fünf Pflichtspiele, fünf Siege: Momentan mischt ein gallisches Dorf von der schwäbischen Ostalb den deutschen und sogar europäischen Fußball auf. Der 1. FC Heidenheim hat sich nur ein Jahr nach seinem Aufstieg für die UEFA Conference League qualifiziert und grüßt darüber hinaus nach zwei Spieltagen von der Tabellenspitze der Bundesliga. Es ist die vorläufige Krönung eines Märchens, das ohnehin schon seinesgleichen sucht. Noch 2008 spielte der FCH in der Oberliga Baden-Württemberg und war weiter vom Profifußball entfernt als die Brenz vom Mississippi River. Mit behutsamer und nachhaltiger Arbeit führte Trainer Frank Schmidt seine Mannschaft Stück für Stück nach oben und ließ dabei zahlreiche Branchengiganten hinter sich. Doch auch der Erfolg veränderte den Charakter des Klubs nicht. Das stellten die Heidenheimer erst im vergangenen Sommer wieder unter Beweis.
Nach einer überragenden Debüt-Saison im deutschen Oberhaus, die auf dem achten Platz abgeschlossen wurde und den Verein zur Teilnahme an der Conference-League-Qualifikation berechtigte, passierte das, was nun einmal immer passiert, wenn vermeintlich kleinere Klubs Erfolg haben: Die größeren Geier kreisten über der Ostalb und krallten sich sämtliche Leistungsträger. Mit Jan-Niklas Beste (SL Benfica), Tim Kleindienst (Borussia Mönchengladbach) und Eren Dinkci (SC Freiburg) musste Schmidt den Verlust dreier Spieler verkraften, die noch im vergangenen Jahr an sage und schreibe 53 Toren direkt beteiligt waren. Auch den im Saisonendspurt wichtig gewordenen Kevin Sessa zog es zu Hertha BSC.
(Photo by Selim Sudheimer/Getty Images)
Wer nun dachte, dass Heidenheim angesichts einer möglichen Europapokal-Teilnahme und der generierten Transfereinnahmen über seinen Verhältnissen einkaufen würde, den belehrten die Schwaben eines Besseren. Gerade einmal sechs Millionen Euro nahm der der Provinzklub in die Hand, wovon alleine 3,5 Millionen Euro auf die Rückholaktion von Niklas Dorsch und 1,25 Millionen Euro auf die Verpflichtung von Mikkel Kaufmann entfielen. Ansonsten wilderte der Bundesliga-Achte vor allem in der 2. und 3. Liga und nahm Spieler wie Sirlord Conteh, Leo Scienza, Julian Niehues, Matthias Honsak und Maximilian Breunig unter Vertrag. Abgesehen vom Last-Minute-Wechsel von Dorsch wurden alle Transfers bereits frühzeitig unter Dach und Fach gebracht. Während andere Bundesligisten ihre Sommer also inmitten einer Umbauphase verbrachten, konnte Frank Schmidt in aller Seelenruhe und abseits jeglicher Medienöffentlichkeit mit seiner neuen Mannschaft arbeiten. Und dafür sollte er schon bald die Früchte ernten.
Gegen den schwedischen Vertreter BK Häcken qualifizierte sich der FCH in zwei Spielen für die UEFA Conference League, wo man unter anderem auf den FC Chelsea treffen wird. Eine Reise an die Stamford Bridge? Zum Champions-League-Sieger von 2021? Frank Schmidt muss sich am Tag der Gruppenauslosung wie in einem Paralleluniversum gefühlt haben.
Auch im DFB-Pokal hatten die Württemberger keinerlei Probleme. Gegen den FC 08 Villingen gewann man souverän mit 4:0, wobei Neuzugang Maximilian Breunig einen Dreierpack erzielte. Der Stürmer steht dabei sinnbildlich für die bodenständige Heidenheimer Transferpolitik. Noch in der Vorsaison spielte Breunig im „fortgeschrittenen“ Fußball-Alter von 24 Jahren bei der zweiten Mannschaft des SC Freiburg in der 3. Liga. Doch die Gallier von der Ostalb sahen in dem Angreifer etwas, was kein anderer Verein sah und schlugen zu. Mit Erfolg: In fünf Partien war der 1,95-Meter-Mann bereits an fünf Toren direkt beteiligt. Mit seinen physischen Attributen, der Giftigkeit im Spiel gegen den Ball und den trotzdem vorhandenen fußballerischen Qualitäten kommt Breunig einem direkten Kleindienst-Ersatz sehr nah. An die Vereinsikone, die Heidenheim überhaupt erst in die Bundesliga geschossen hatte, denkt im beschaulichen Städtchen an der Brenz aktuell niemand mehr.
(Photo by AXEL HEIMKEN/AFP via Getty Images)
Auch ein Nachfolger für den abgewanderten Top-Scorer Jan-Niklas Beste scheint bereits gefunden. Leo Scienza kam für den schmalen Taler von 600.000 Euro vom SSV Ulm, den er in der letzten Spielzeit mit zwölf Toren und 15 Vorlagen zum Aufstieg in die 2. Bundesliga geschossen hatte. In Heidenheim fügte sich der beidfüßige Brasilianer blendend ein und übernahm direkt die linkte Seite von Beste. Auch Scienza ist in der noch jungen Saison bereits an drei Treffern direkt beteiligt gewesen.
Auch wenn der Heidenheimer Traumstart also viele Geschichten und Gesichter kennt, so sticht ein Name jedoch ganz besonders heraus: Paul Wanner. Das Super-Talent des FC Bayern lief im vergangenen Jahr leihweise für den SV Elversberg auf, wo er sein herausragendes Potenzial bereits andeutete. Der Rekordmeister wollte sein Tafelsilber daraufhin auf dem allerhöchsten Niveau testen und ging einen Leih-Deal mit dem FC Heidenheim ein. Auf der Ostalb benötigte Wanner keinerlei Eingewöhnungszeit und avancierte sofort zum Unterschiedsspieler in der Mannschaft von Frank Schmidt. Sechs Scorerpunkte in vier Spielen sprechen in dieser Hinsicht eine glasklare Sprache.
Der 18-Jährige ist ein Spielmacher der klassischen Schule, ist enorm ballsicher und verfügt über eine herausragende Übersicht. Trotzdem ist der Linksfuß durchaus schnell auf den Beinen und weist einen Top-Speed von fast 35 km/h auf, weshalb er stets dazu in der Lage ist, auch auf die Flügelpositionen auszuweichen. Mit einer Körpergröße von 1,85 Meter und sichtbar mehr Muskelmasse als noch im Vorjahr verfügt Wanner zudem über ein stattliches Gardemaß. Der Zehner bringt alle Anlagen eines kompletten Offensivspielers mit.
(Photo by Aitor Alcalde/Getty Images for DFB)
Dass dieses Gesamtpaket und die bisher gezeigten Leistungen auch dem DFB nicht verborgen geblieben sind, ist daher nur logisch. „Er macht es sehr gut. Er ist ein Spieler mit sehr viel Potenzial, den wir beim DFB fest in unseren Planungen haben. Wie früh er zur A-Nationalmannschaft stößt, entscheidet er selber. Er ist ein wirklich interessanter Spieler mit viel Potenzial“, lobte Bundestrainer Julian Nagelsmann den Youngster zuletzt.
Die Personalie Wanner ist dennoch auch aus einer weiteren Sicht interessant: Der Teenager ist in Österreich geboren und besitzt neben der deutschen Nationalmannschaft auch jene der Alpenrepublik. Im Juniorenbereich läuft der Heidenheimer Shootingstar bislang für die DFB-Elf auf, spielte bereits dreimal für die U20. Eine mögliche Nominierung für die U21 dagegen ließ er zuletzt aus, um sich auf das Tagesgeschäft Bundesliga zu konzentrieren. Wanner wolle „erst mal voll und ganz stabil bleiben, um in der ersten Liga anzukommen“, erklärte U21-Nationaltrainer Antonio di Salvo und ergänzte: „Wir haben demnach gemeinsam beschlossen, dass wir ihn für diese Maßnahme in Heidenheim lassen.“
Wie fokussiert und reif der 18-Jährige für sein junges Alter ist, unterstreicht darüber hinaus auch die Tatsache, dass er in der Heidenheimer Rangordnung bereits zum ersten Elfmeterschützen aufgestiegen ist. Als wäre es selbstverständlich, schnappte sich Wanner gegen den FC Augsburg den Ball und verwandelte den Strafstoß traumwandlerisch sicher. Dieses Selbstbewusstsein mit Arroganz zu verwechseln, wäre dabei aber gänzlich falsch. Der Teenager gibt sich stets demütig und besitzt keinerlei Allüren. „Ich habe ein gutes Elternhaus zu Hause, ich bin da gut aufgehoben“, sagte Wanner auf den Hype rund um seine Person angesprochen.
Doch Heidenheim ist viel mehr als nur ein hochtalentierter Youngster. Das stellte auch Frank Schmidt nach dem jüngsten 4:0-Kantersieg über die Fuggerstädter klar. „Ich bitte da um Verständnis. Es ist mir zu viel Paul Wanner“, erklärte der 50-Jährige im Anschluss an die Begegnung. Einerseits soll der hochbegabte Spielmacher geschützt werden, andererseits will Schmidt die herausragenden Leistungen des gesamten Kaders berechtigterweise nicht unter den Tisch kehren.
Im zweiten Bundesliga-Jahr läuft der FCH bereits wie eine gut geölte Maschine und verfügt über ein brutal stabiles Kollektiv, das es einzelnen Ausnahmekönnern wie eben Wanner überhaupt erst ermöglicht, derart glänzen zu können. Dabei ist allen Beteiligten gänzlich klar, dass der momentane Höhenflug nur eine Momentaufnahme und keinesfalls konservierbar ist. Bei den Schwaben würde sowieso niemand auf die Idee kommen, große Töne zu spucken oder markige Ansagen in Richtung der Konkurrenz zu richten. Das ist auch vor dem Freitagabendspiel gegen Borussia Dortmund so, wenn der FC Heidenheim zum Top-Spiel im Signal Iduna Park gastiert. Dort einen Sieg zu erwarten, wäre vermessen, doch die Gallier von der Ostalb werden alles dafür tun, um ihr Fußball-Märchen auch im Ruhrgebiet weiter schreiben zu können. Auch dank den herausragenden Leistungen des jungen Wanner wird der BVB sein Heimspiel keinesfalls auf die leichte Schulter nehmen.
(Photo by AXEL HEIMKEN/AFP via Getty Images)