1. FC Köln
·29 June 2023
Thorsten Friedrich: „Es herrscht eine unglaubliche Ambivalenz vor Ort“

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·29 June 2023
Hallo Thorsten, eine Woche ist die Reise in die Ukraine schon her, konntest du alle Eindrücke schon verarbeiten? Hat es dir geholfen, dass du im vergangenen Jahr bereits zweimal für Hilfsaktionen an die polnisch-ukrainische Grenze gereist bist? Ja, die Ortskenntnisse haben ein wenig geholfen. Wir sind nach Warschau geflogen und von dort mit dem Zug in Richtung Ukraine gefahren und an exakt dem Bahnhof in Przemyśl angekommen, an dem ich im letzten Jahr direkt nach Ausbruch des Krieges war, um Geflüchtete mit dem Bus abzuholen. Das hat mich stark emotionalisiert. Auf negative aber auch auf positive Weise. Es hat viele Erinnerungen wachgerüttelt. Plötzlich sah ich wieder hunderte Menschen vor meinem inneren Auge, die teilweise heulend in diesem Bahnhof saßen und nicht wussten, wie es weitergehen soll. Menschen, für die wir damals innerhalb von zwei Stunden zu Ansprechpersonen geworden sind. Das ist heute anders. Inzwischen ist alles strukturiert. Damals war es ein heilloses Durcheinander. Heute ist alles geordnet und sauber. Es gibt eine Essens- und eine Getränkeausgabe und die Ukrainerinnen und Ukrainer, die hier ankommen, wenden sich an die Mitarbeitenden des UN-Flüchtlingskommissariats.
Bedeutet das, dass dort nach wie vor Geflüchtete ankommen? Ja, die Flucht geht immer weiter, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie damals. Aber die Leute werden dort jetzt professionell in Empfang genommen und es wird ihnen geholfen. Diese Entwicklung ist für mich das Positive.
Wie macht sich der Krieg in Lviv bemerkbar? In Lviv vor Ort zu sein war ein bisschen surreal. Alles geht mit einer unfassbaren Ambivalenz einher. Auf der einen Seite kann man tagsüber ganz normale Szenen beobachten: Menschen gehen einkaufen, essen Eis, sitzen in der Sonne. Als wäre nichts los. Die Stadt ist weitgehend unversehrt. Überall stehen wunderschöne Altbauten, aber wenn man genauer hinsieht, dann sieht man die Spuren des Krieges überall.
Kannst du ein bisschen genauer erklären, was du damit meinst? Wir waren an einem Abend in einem Irish Pub mit einem netten Besitzer, allgemein sind die Ukrainerinnen und Ukrainer sehr gastfreundlich. Wir haben etwas getrunken und ich habe mich ein bisschen umgesehen. Dann habe ich plötzlich die Überreste von Raketen entdeckt, mit denen sie beschossen wurden. Die lagen vor ihrer Tür und sie haben sie jetzt als Mahnmal des Krieges bei sich im Pub liegen. In vielen Gebäuden sind außerdem die Erdgeschoss- und die Kellerfenster mit meterhohen und dicken Sandsäcken zugemauert. Dabei handelt es sich um Fluchtkeller, zum Schutz. Dann siehst du einen Mann über die Straße laufen, dem ein Bein fehlt, der Wunden hat und du weißt sofort, das sind keine alten Wunden. Das sind Kriegswunden. In der Stadt herrscht blühendes Leben, aber man muss nicht lange suchen, um die Spuren des Kriegs zu entdecken.
Und die Menschen in Lviv, wie hast du die wahrgenommen? Auch hier passt das Wort ambivalent wieder sehr gut. Die Menschen stehen zwischen Mut und Hoffnung auf der einen Seite und Angst und Verzweiflung auf der anderen. Sie leben mit einer ständigen Ungewissheit. Niemand kann ihnen sagen, wie lange der Krieg noch dauern wird. Sie alle dort bewältigen ihren Alltag, während die Stadt nachts manchmal angegriffen wird. Der Luftalarm wird aktiviert, die Drohnen verursachen Schäden, und am nächsten Morgen gehen die Kinder zur Schule. Aber obwohl man den Menschen all das anmerkt, sind sie freundlich, warmherzig und voller Dankbarkeit, sobald sie merken, man möchte ihnen etwas Gutes.
Hast du Erlebnisse im Kopf, die dir besonders in Erinnerung geblieben sind? Wir durften einer Beerdigung eines ranghohen Soldaten beiwohnen, der einige Wochen vermisst wurde. Das war einerseits sehr beeindruckend, weil es etwas so Offizielles und Würdevolles hatte. Andererseits war es grausam, weil sie uns dort erzählten, dass sie täglich Soldatenbeerdigungen abhalten. Sie mussten den Zentralfriedhof in Lviv um die daran grenzende Wiese erweitern, weil sie so viele Leichen beerdigen müssen. Das schockiert einen dann sehr. Es gab aber auch kurze Momente, die Freude auslösten und die dazu motivieren, das, was wir tun, auch weiterhin zu tun.
Zum Beispiel? Wir haben in einem Waisenhaus Trainingsmaterialien und Plüschgeißböcke verteilt. Dort war ein kleines Mädchen, Katharina, sie hat sich so sehr über den Geißbock gefreut, sodass sie ihn gar nicht mehr losgelassen wollte und strahlte. Die Kinder sind die, die am meisten leiden. In Lviv sind 200.000 Binnengeflüchtete aus dem Osten der Ukraine, 70.000 von ihnen sind Kinder, 10.000 davon sind Vollwaisen. Man kümmert sich dort gut um sie und die Erwachsenen sind sehr bemüht darum, ihre eigenen Sorgen zu verstecken, um den Kindern einen zumindest ansatzweise normalen Alltag zu ermöglichen. Trotzdem wachsen sie ohne ihre Eltern auf. Das ist wieder das mit der Ambivalenz, ein glückliches Mädchen in der einen Sekunde, die Tatsache, dass sie ohne ihre Eltern aufwächst, in der nächsten.
Kannst du schon sagen, wie das Erlebte dich persönlich beeinflusst hat oder ist es dafür noch zu früh? Für mich ist es noch zu früh. Ich habe das alles noch nicht realisiert und merke, wie es in mir arbeitet. Was ich allerdings sehr sicher sagen kann, ist, dass mich der Besuch in der Ukraine noch einmal mehr dazu motiviert hat, weiterzumachen. Wir können nicht die Welt retten und haben als Fußballclub nur einen bestimmten Rahmen, in dem wir agieren können. Aber ich habe jetzt sehen dürfen, wie sehr sich die Menschen vor Ort über Kleinigkeiten wie Trainingskleidung und Bälle gefreut haben. Solche Dinge fehlen und sie tragen dazu bei, wieder einen Alltag herzustellen, der viele Monate nicht existent war. So abgedroschen die Phrase auch sein mag, häufig sind es eben die kleinen Dinge im Leben.
Die FC-Stiftung wird weiterhin auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam und sich für die Ukrainerinnen und Ukrainer stark machen, egal ob in Köln oder in der Ukraine selbst. Dabei braucht die FC-Stiftung finanzielle Unterstützung.
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