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·17. Juli 2024
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·17. Juli 2024
Mit dem 2:1-Finalsieg Spaniens über England hat die EM 2024 ihren würdigen Sieger gefunden. Nach sieben Siegen aus sieben Spielen besteht daran kein Zweifel. Doch es sind nicht nur die Ergebnisse, sondern auch die Art und Weise des spanischen Spiels, die für ein eindeutiges Votum sorgen. Das liegt auch daran, dass die Iberer aus taktischer Sicht eher eine erfrischende Ausnahme dieses Turniers waren.
Bevor es richtig in den Inhalt geht, muss an dieser Stelle etwas Erwartungsmanagement betrieben werden. Die großen Turniere der Nationalmannschaften sind schon lange nicht mehr die Speerspitze der taktischen Entwicklung im Weltfußball, das gilt auch für die EM 2024. Die Mannschaften und ihre Trainer haben einfach zu wenig Zeit, um tatsächliche Innovationen, vor allem im Spiel mit dem Ball, umzusetzen. Anders als Vereinsmannschaften, die daher oftmals deutlich anspruchsvollere und ausgefeiltere Ansätze entwickeln können.
Für Nationalmannschaften geht es in erster Linie um Klarheit und darum, die vielen Spieler aus ganz unterschiedlichen Klubs mit ganz unterschiedlichen Spielideen auf eine Linie zu bringen. Dabei steht meist die Defensive an erster Stelle, weil defensive Abläufe schneller zu erlernen sind, ausschließlich im Kollektiv funktionieren und als Grundlage gelten, um überhaupt bestehen zu können.
Von daher ist es eigentlich wenig überraschend, dass sehr viele Teams vor allem auf die Spielphase “gegnerischer Ballbesitz” fokussiert waren. Gerade in dieser Spielphase haben viele Teams – erwartungsgemäß – auf einen tiefen Block gesetzt. Diesen Teams ging es vornehmlich darum, das eigene Defensive-Drittel zu verteidigen, das Zentrum zu schließen und keinen Raum zwischen den Ketten herzugeben.
Viele Teams setzten dabei auf ein System mit einer Fünferkette, wahlweise in einer 5-4-1 oder einer 5-2-3 -Grundordnung, je nach Präferenz, Gegner und der Notwendigkeit auf den Flügeln zu doppeln. Ungarn, Schottland, Georgien, die Ukraine und Serbien sind nur einige Beispiele.
Die Auswirkungen dieses relativ negativen Ansatzes waren vielfältig, manifestierten sich aber u.a. auch in der hohen Anzahl an Eigentoren und Fernschusstoren, was auch schon die Nachteile dessen aufzeigt. Weil diese Teams sich teilweise so tief hinten reindrängen lassen, fehlt oftmals der Druck auf Fernschüsse oder die eigenen Spieler sind so nah am eigenen Tor, dass sie den Ball hier und da auch in das eigene Tor lenken.
Das Spiel aus einem tiefen Block heraus ist allerdings keineswegs ein Alleinstellungsmerkmal der vermeintlichen Underdogs. Auch einige sehr prominent besetzte Teams wie Belgien, Frankreich oder auch England haben sich ebenfalls dessen bedient, was schon ein wenig mehr verwundern dürfte. Vor allem in den Fällen von Frankreich und England dürfte man in Ballbesitz deutlich mehr erwarten, zumal die Trainer (Didier Deschamps und Gareth Southgate) schon viele Jahre im Amt sind/waren und ihnen etliche der besten Offensivspieler der Welt zur Verfügung standen.
(Photo by Stu Forster/Getty Images)
Gerade diese beiden Mannschaften verstehen “Spielkontrolle” aber grundlegend anders als z.B. Spanien oder Deutschland. Die französische Mannschaft beispielsweise versucht, Spiele durch das offensive Umschaltspiel zu kontrollieren. Die gegnerische Mannschaft kommt zwar oftmals zu viel Ballbesitz, ist aber gezwungen, viele Spieler für die Konterabsicherung abzustellen, um dem enormen Tempo der Franzosen nicht chancenlos ausgeliefert zu sein. Auf diese Weise ist der Gegner oft bereits im eigenen Ballbesitz gehemmt, was es den Franzosen defensiv deutlich leichter macht.
Sie verzichten dafür aber fast vollständig auf ein eigenes Offensivpressing und setzen auch das Gegenpressing nur sparsam ein. Beides dadurch bedingt, dass ihre offensiven Starspieler, allen voran Kylian Mbappe, defensiv nur wenig beitragen. Das macht ihr Spiel zwar oftmals eher unattraktiv, aber es erzielt zumindest die erhoffte Wirkung: Die 0,7 Non-Penalty Expected Goals Against per 90 – also alle zu erwartenden Nicht-Elfmetertore pro 90 Minuten – wurden nur von Portugal unterboten, während sie offensiv mit 0,32 Toren pro 90 bei 1,3 Non-Penalty Expected Goals per 90 vor allem ein Output-Problem hatten.
Frankreich ist, angesichts der individuellen Qualität, natürlich ein besonderes Beispiel, aber die Allgemeingültigkeit ist damit natürlich nicht gegeben. Was aber interessant ist: Sie legen ihren Fokus vor allem auf eine der Umschalt-Spielphasen und genau darin liegt ein ganz entscheidender Punkt, der fast alle Teams dieser Euro in zwei Pole einteilt.
Ein Pol setzt vor allem auf aggressives Gegenpressing, zumeist gepaart mit viel eigenem Ballbesitz, um in Ballbesitz die nötige Struktur aufzubauen, während der andere Pol auf Konter bzw. ein sehr direktes, offensives Umschaltspiel setzt. Die erste Gruppe umfasst vor allem Teams wie Spanien, Deutschland oder die Schweiz, während Frankreich, im Turnierverlauf die Türkei und natürlich Georgien die “Posterboys” für den zweiten Entwurf waren.
Auffällig dabei ist aber, dass kein Team wirklich alle Spielphasen komplett dominiert hat. Spanien kam dem zwar mit Abstand am nächsten, doch auch nur mit Einschränkungen.
Die offensiven Umschaltmomente nutzte Spanien nur wirklich konsequent, wenn sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit auch zum Abschluss kommen würden, oft nur zum Ende eines Spiels. Ansonsten verzichteten auch sie oft freiwillig auf Konterchancen, um sich zu ordnen und in die Struktur zu kommen. Andererseits wäre das Risiko eines offenen Schlagabtausches zu groß. Bezeichnenderweise ist das 1:1 im Finale in einer Situation zwei aufeinanderfolgender Umschaltsituationen gefallen. Es gibt also gute Gründe, dies zu vermeiden und das Spielgeschehen inzwischen zu beruhigen.
Auch die deutsche Nationalmannschaft hat sich weitestgehend ähnlich verhalten. Kontersituationen blieben oftmals bewusst zu Gunsten der Stabilität ungenutzt und auch in der Phase “gegnerischer Ballbesitz” fehlte es oft an Kontrolle. Wobei man hier klar unterscheiden muss: Im Offensivpressing, das man vor allem zu Beginn des Turniers sehen konnte, zeigte sich die Mannschaft von Trainer Julian Nagelsmann stark und dominant, während sie im tiefen Block oftmals Probleme bekam. Im Spiel gegen Ungarn, in dem man es phasenweise verpasst, das Spiel zu beruhigen, ging auch die Kontrolle verloren. Es gab also gute Gründe, vor allem über den eigenen Ballbesitz und das hervorragende Gegenpressing Kontrolle auszuüben.
Die Schweiz fällt ebenfalls in dieses Cluster, doch die Schweiz bietet sich noch besser an, um andere interessante taktische Aspekte hervorzuheben: Flexible Formationen und Rotationen, Überlagerungen auf dem Flügel sowie Fokussierung auf die Halbräume.
(Photo by Alex Livesey/Getty Images)
Die Schweiz ist natürlich nur eins von vielen Beispielen, aber vor allem die linke Seite war ein Musterbeispiel. Auf dem Papier begann Ricardo Rodriguez als linker Innenverteidiger einer Dreierkette, Aebischer als “Wing Back” davor und Ruben Vargas als “Halbraum-Zehner” (wenn man so will). Defensiv blieben die Spieler auch zumeist ihren Rollen in der 5-4-1-Grundordnung treu, offensiv genossen sie aber viele Freiheiten. Sehr häufig konnte man beobachten, wie Aebischer vom Flügel in den Halbraum zog, während Vargas entgegengesetzt auf den Flügel auswich. Der gelernte Außenverteidiger Rodriguez unterstützte zusätzlich oft noch hinterlaufend, was wiederum zu Überlagerungen führte. Komplettiert wurde dies dann gelegentlich von diagonalen Tiefenläufen von Remo Freuler, der von der Acht oftmals bis in die Box stieß. Sehr schön anzusehen und sehr schwer zu verteidigen.
Doch auch weniger attraktiv spielende Teams nutzen flexible Formationen. Vor allem England variierte zwischen Grundordnungen, sowohl mit Vierer- als auch mit Dreierkette. Hierbei nutzte Trainer Southgate vor allem die Variabilität von Spielern wie Kyler Walker und Bukayo Saka, auch um die Probleme auf der linken Seite zu kompensieren und Spieler wie Jude Bellingham und Phil Foden in die Halbräume zwischen den Linien zu bekommen.
Ganz Ähnliches war auch bei den Niederlanden und Belgien zu sehen. Die Niederlande verteidigten oft mit einer Viererkette, waren aber durch die sehr unterschiedlichen Profile von Nathan Aké auf der linken Seite und Denzel Dumfries auf der rechten Seite durchaus asymmetrisch. In Ballbesitz ergab sich so zumeist ein Dreier-Aufbau, mit Aké im linken Halbraum und Dumfries sehr hoch auf dem rechten Flügel. Bei Belgien war es dagegen oft Arthur Theate, der die Rolle Akés einnahm, um Jeremy Dokus defensive Schwächen als konservativer Linksverteidiger aufzufangen, während er offensiv den linken Flügel im Grunde alleine bespielte.
Vor allem die letzten drei Beispiele sind mittlerweile natürlich nicht mehr unüblich und können nur schwer als “innovativ” beschrieben werden, zeigen aber doch worum es für die meisten Nationaltrainer geht: Die besten Einzelspieler bestmöglich in Szene zu setzen.
Kollektive Ansätze wie der der Schweiz waren dagegen seltener zu finden. Dynamische Überzahlsituationen sind dafür aber natürlich ein gutes Mittel. Die Schweiz war hier beispielhaft, weil sowohl Rodriguez als linker Innenverteidiger einer Dreierkette, als auch Fabian Schär als Counterpart auf der rechten Seite viele offensive Impulse gaben. Hier kamen leichte Erinnerungen an Sheffield United unter Chris Wilder in dessen erster Premier League Saison hoch. Vergleichbares war sonst selten zu finden.
Aber auch Europameister Spanien hatte eigene Wege, um einen Flügel zu überlagern. Interessant wurde es oft, wenn Nico Williams phasenweise auf den rechten Flügel drängte, um Yamal (und Carvajal) zu unterstützen und die Zuordnung des Gegner zu stören.
Die Deutsche Nationalmannschaft löste es unterdessen oft über die sehr flexiblen vier Offensivspieler, Jamal Musiala, Ilkay Gündogan, Florian Wirtz und Kai Havertz, die gerade in den ersten Spielen die Räume sehr fließend besetzten. Hier ging es aber weniger darum, einen Flügel zu überlagern, sondern darum, die Halbräume und den Raum zwischen den Linien zu fluten, dort Überzahl zu schaffen und mit Tiefenläufen in den Raum hinter den Schnittstellen zwischen den gegnerischen Innen- und Außenverteidigern, sowie vielen gegengleichen Bewegungen Räume zu schaffen. Das erste Tor des Turniers von Wirtz ist hierfür beispielhaft.
Ohnehin hat dieses Turnier abermals bewiesen, wie wertvoll diese “Pockets” (Halbräume zwischen den Linien) sind. Spanien ist auch hier ein Musterbeispiel, weil sie es verstehen, die Räume flexibel zu bespielen, egal ob durch anrückende Achter, wie Fabian Ruiz oder einrückende Flügelspieler wie Yamal, durch Dribblings mit Ball am Fuß oder durch kurze Pässe aus nahen Räumen. Auch die Engländer haben diese Räume im Verlauf des Turniers immer besser bespielt. Gerade zu Beginn blieben die Räume zu oft unbesetzt, was das englische Spiel unfassbar abhängig von Sakas Eins-gegen-Eins-Situationen machte. Später kamen Bellingham und Foden aber immer besser in diese Räume und damit auch besser zur Geltung.
Dennoch bleibt, dass die deutsche Mannschaft diese Räume am besten und aggressivsten bespielt hat und niemand hat das besser gemacht als Musiala, der ein fantastisches Turnier spielte.
(Photo by Dean Mouhtaropoulos/Getty Images)
Darüber hinaus war vor allem auffällig, dass es vielen Teams an echten Abläufen fehlte. Der Abstand zwischen Vereins- und Nationalmannschaftsfußball erscheint größer zu sein als in den Jahren zuvor. Nur wenige Teams traten tatsächlich wie Vereinsmannschaften auf.
Die deutsche Nationalmannschaft, die gerade mit dem extremen Fokus auf kurze Abstände, Pässe in Drucksituationen und einem aggressiven Gegenpressing durchaus Parallelen zu Bayer Leverkusen aufzeigte, war eines von wenigen Beispielen. Die Schweiz zeigte Anleihen von Bologna (nicht zuletzt weil drei Bologna-Spieler zum festen Stamm zählten), aber auch eine starke eigene Identität. Österreich war natürlich vor allem durch den “RB-Fußball”, der primör ein starkes Offensivpressing, direktes Umschaltspiel und eine hohe Intensität charakterisiert ist, geprägt und stellte damit eine echte Ausnahme dar. Und auch Slowenien, das aus einer klaren 4-4-2-Grundordnung in einem klassischen Mittelfeldpressing verteidigte und über hohe Außenverteidiger und Flanken oder durch ein direktes Konterspiel angriff, vermittelte mit sehr guten Abläufen den einer Vereinsmannschaft. Doch, wie gesagt, das war eher die Ausnahme.
Überraschend dagegen, dass insgesamt spürbar weniger Fokus auf Standardsituationen gelegt wurde. Das belegt zum einen der Output, doch auch der “Eyetest” legt nahe, dass weniger Zeit auf klare Abläufe und Varianten verwendet wurde. Vermeintliche “low hanging fruit”, die nicht eingesammelt wurden.
Natürlich gibt es viele Gründe, die dazu führen, dass so ein Turnier so läuft, wie es eben gelaufen ist. Es steht viel auf dem Spiel, Trainer wollen kein unnötiges Risiko eingehen, die Spieler sind erschöpft nach einer langen Saison mit vielen Spielen und können kaum noch die höchste Intensität anbieten, die Vorbereitungszeit war kurz, … . Trotzdem blieben vor allem bei Teams wie England, Frankreich, Belgien, Portugal, den Niederlanden oder Italien viele Wünsche offen. Inhaltlich wäre mehr drin gewesen, vor allem mit den vorhandenen Spielern.
Doch gerade wenn man sich diese Teams ansieht und sie mit den vorher genannten, positiven Beispielen vergleicht, bleibt vor allem die Erkenntnis, dass eine gute Balance, auch in der Kaderzusammenstellung, eine klare Spielidee und ein funktionierendes Kollektiv vielversprechender sind als der Versuch, nur die besten Individualisten in eine Mannschaft zu bringen. Insofern hat das Turnier mit Spanien den richtigen und verdienten Sieger bekommen.