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Matti Peters·17. September 2023
🤔 Wie konnte das passieren? Vom Rekordtransfer zum Mobbing-Opfer

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Matti Peters·17. September 2023
Es ist noch gar nicht lange her: Da wollte José Mourinho ihn, Pep Guardiola sah in ihm den prädestinierten Nachfolger von Vincent Kompany und am Ende machte Manchester United ihn im Sommer 2019 zum teuersten Verteidiger der Welt.
Innerhalb von vier Jahren hat er sich vom begehrtesten Verteidiger im Weltfußball zum Social-Media-Gespött und Sündenbock in der Öffentlichkeit entwickelt. Von Englands Kultkicker bis zum Manchester United Meme. Der Werdegang von Harry Maguire ist eine moderne Tragödie und ein alarmierendes Beispiel für Grenzüberschreitungen. Wie konnte das passieren?
Mittlerweile sieht sich aber selbst ein sonst sehr nüchterner und besonnener Gareth Southgate als Nationaltrainer Englands dazu aufgefordert, der Hetzjagd gegen seinen Schützling Einhalt zu gebieten.
„Es ist ein Witz. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Spieler so behandelt wurde wie er“, platzte es aus Southgate nach dem jüngsten Länderspiel der Three Lions gegen Schottland raus. Maguire rückte nach seiner Einwechslung durch ein Eigentor erneut in den kritischen Fokus. Und zwar „nicht von den schottischen Fans, sondern von unseren eigenen Kommentatoren, Experten, was auch immer.“
Der Rucksack mit Kritik und Anfeindungen hat über die Jahre deutlich an Gewicht zugenommen. Anfangs trug Maguire „nur“ die Bürde der Rekordablösesumme von 87 Millionen Euro mit sich in die erste Saison bei United. Er sollte als gefeierter WM-Held von 2018 die wacklige Abwehr der Red Devils wieder auf Vordermann bringen. Bereits nach wenigen Monaten sorgte der damalige Trainer Ole Gunnar Solskjaer allerdings für Zusatzgewicht, in dem er Maguire zum Kapitän einer sonst scheinbar führerlosen Mannschaft machte.
In der Öffentlichkeit gab es nun also schon zwei Gründe, weshalb seine Leistungen stets besonders unter die Lupe genommen wurden. So lange der sportliche Erfolg da war, hielt sich die Kritik an seiner Person auch noch in Grenzen.
Den ersten Einschnitt gab es tatsächlich auch nicht durch seine Performance auf dem Platz, sondern nach einem Vorfall im Sommerurlaub 2020 auf Mykonos. Dort wurde Maguire wegen einer mutmaßlich tätlichen Auseinandersetzung festgenommen und später wegen schwerer Körperverletzung und versuchter Bestechung eines Beamten zu einer Bewährungsstrafe von 21 Monaten verurteilt. Er wiederum dachte, entführt zu werden.
Ich hatte Angst um mein Leben. Sie haben mir auf die Beine geschlagen und gesagt, dass meine Karriere vorbei sei.“
Ein Erlebnis, was den Rucksack weiter beschwerte und in einem ersten kleinen Fehlerfestival zu Beginn seiner zweiten United-Saison resultierte. Schon damals trendete #Maguire in den sozialen Netzwerken vermehrt. Die ersten Maguire-Memes gingen viral. Er zeigte aber eine Reaktion und steigerte sich im Verlauf der Spielzeit massiv, führte bis zur Rückrunde sein Team sogar in vielen Statistiken an.
Die starke EM-Leistung mit den Three Lions inklusive Berufung ins Team des Turniers ließ seine Kritiker aber nur für den Moment verstummen. Sportlich sollte die Abwärtsspirale mit der neuen Premier League Saison 2021/2022 Fahrt aufnehmen. Die Erwartungshaltung mit den Neuzugängen Cristiano Ronaldo oder Raphaël Varane ins Unermessliche gestiegen.
Aber United lieferte nicht, spielte eine historisch schlechte Saison, in der erst Chefcoach Solskjær seinen Hut nehmen musste und Ralf Rangnick als Interimstrainer die Wende mit den Red Devils verpasste. Als größter Sündenbock wurde dabei der Kapitän ausgemacht. Von den Medien, von TV-Experten und vor allem von den Anhängern.
Auf YouTube kursieren Fail-Compilations von Maguire, die binnen eines Jahres 13 Millionen Mal aufgerufen wurden. Auf Twitter oder TikTok sind solche Clips sogar einer noch größeren Follower-Anzahl ausgesetzt. Um seine Person hatte sich eine regelrechte Meme-Kultur gebildet.
Mit schwerwiegenden Fehlern (Fehlpass, Abseits aufgehoben, Elfmeter) war Maguire laut dem britischen Statistikportal ‚InStat‘ an insgesamt 16 Liga-Gegentoren entscheidend beteiligt. Seine unterdurchschnittlichen Leistungen und teilweise hilflose Interviews nach Pleiten fütterten die Kapitäns-Debatte bei United. Mit Ronaldo und Varane hatte man schließlich Leadership ins Team geholt.
Im Netz blieb diese Diskussion aber keineswegs sachlich. Mittlerweile hatte es eine derart toxische Dynamik angenommen, das Ex-Profis wie Gary Neville oder Jamie Carragher Mobbing-Opfer Maguire psychologischen Beistand nahelegten.
Eine Twitter-Analyse des ‚Alan Turing Institute‘ belegt den widerlichen Umgangston mit Maguire allein in der Saison 21/22 konfrontiert wurde. Knapp 90.000 Tweets fielen dabei in die Kategorie „Hate-Speech/ Missbrauch“. Während das bereits als Grenzüberschreitung betrachtet werden muss, war eine an Maguire adressierte Bombendrohung im April 2022 der absolute Tiefpunkt.
Da war selbst für den stets selbstkritischen Maguire „eine Grenze erreicht“. Er könne mit Kritik nach Fehlern leben, aber „wir sind auch nur Menschen. Ich habe eine Familie.“, betonte der United-Profi gegenüber der ‚Daily Mail‘.
Maguires persönlicher Negativtrend nahm sportlich auch unter dem neuen Trainer Erik ten Hag keine Wende. Im Gegenteil. Er kam im neuen Spielsystem nur noch seltener zum Einsatz, rutschte als Rechtsfuß, der bevorzugt auf der linken IV-Position agiert in Uniteds Hackordnung sogar ins letzte Glied, was auch zum Verlust der Kapitänsbinde führte. Zuletzt scheiterte ein Wechsel zu West Ham United und damit auch vorerst die Chance für Maguire auf einen Neustart nach dem Absturz in der jüngeren Vergangenheit.
Doch während sich in den Untiefen der Social-Media-Plattformen der verkommene Teil der Gesellschaft für die nächste Episode bereits die Hände reibt, um verbal mal wieder über die Stränge zu schlagen, stellte sich Harry Maguire trotz der Rolle als Mobbing-Opfer in seinem jüngsten Interview in einer Medienrunde erneut dem leidigen Thema: „Ich würde nicht sagen, dass ich jemand bin, der mental Probleme damit hat, mit Druck umzugehen. Ich habe in den letzten Jahren viel erlebt. Auch viel Mist und trotzdem war ich fast vier Jahre Kapitän von Manchester United.“
Dass Harry Maguire seine Situation nach all diesem dem Boden der Realität so fernen Hass noch so realistisch einordnen kann, beweist eine mentale Stärke, die zeigt, dass die Kapitänsbinde bei ihm während dieser vier Jahre trotz manch schwacher Leistung vielleicht doch ganz gut aufgehoben war. Und womöglich findet er mit dieser mentalen Stärke auch wieder zu dem Verteidiger zurück, den Guardiola und Mourinho einst so unbedingt haben wollten. Denn wie schon gesagt: Lange her ist das noch nicht.