🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten | OneFootball

🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten | OneFootball

Icon: OneFootball

OneFootball

Paul Cichon·31. März 2024

🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten

Artikelbild:🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten

Anfang Dezember 2022 riefen die Fans des FC St. Pauli eine Petition ins Leben. Sie wollten verhindern, dass ihr Verein einen groben Fehler begeht. Über 6.000 Menschen forderten die Kündigung von Identitifikationsfigur Timo Schultz zurückzunehmen. Die Vereinsführung aber hielt an der Entlassung des Trainers fest und ging das Risiko ein, dass ihnen der gesamte Laden um die Ohren fliegt.

St. Pauli war zu diesem Zeitpunkt akut abstiegsgefährdet. Sie rangierten mit mageren 17 Punkten auf dem 15. Platz und hatten damit genauso viele Zähler, wie die am Ende der Saison abgestiegenen Bielefelder. Nur drei Siege fuhren die Hamburger unter dem heutigen Kölner Cheftrainer Schultz in der Hinrunde ein. Sportchef Andreas Bornemann sprach von „fataler Auswärtsschwäche“, von „fehlender Balance zwischen Defensive und Offensive“ und von „mangelnder Weiterentwicklung“ unter der Leitung des Coaches.


OneFootball Videos


Zunächst interimsweise wurde der damals 29-jährige Fabian Hürzeler installiert. Spätestens zehn Spiele später was klar, dass aus der Interims- eine Dauerlösung wird. Hürzeler brach mit zehn Siegen in Folge gleich zu Beginn seiner Amtszeit einen Vereinsrekord.

Dieser Browser wird nicht unterstützt. Bitte verwenden Sie einen anderen Browser oder installieren Sie die App

video-poster

In der Rückrunde schaltete sich St. Pauli, der miserablen Hinserie zum Trotz, noch in das Aufstiegsrennen ein und die Petition der Fans war schnell vergessen. Auch in dieser Saison hört das Team des jüngsten Trainers der deutschen Profiligen nicht auf zu siegen und befindet sich aktuell voll auf Kurs Richtung Zweitliga-Meisterschaft. Wie konnte das passieren?

Vater des Erfolgs ist zweifellos jener Fabian Hürzeler, der seit Amtsantritt nur fünf seiner insgesamt 47 Partien verlor. Grund dafür ist die taktische Idee des perfektionistischen und detailversessenen Trainers, dessen Punkteschnitt von 2,21 Zählern pro Spiel sich in den Sphären eines dauererfolgreichen Pep Guardiolas bewegt.

Kassierten die Kiezkicker in den ersten zehn Partien unter Hürzeler gerade einmal vier Gegentreffer, stellen die Hamburger auch in dieser Saison die mit Abstand beste Defensive der Liga. Hürzeler ist ein zuerst auf Sicherheit bedachter Trainer. Bei ihm geht es deshalb beim Spiel mit eigenem Ballbesitz immer auch schon darum, dass direkt verteidigt werden kann, wenn die Kugel mal verloren werden sollte.

Artikelbild:🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten

Defensiv agiert der FC St. Pauli in einer 5-2-3-Grundordnung. Diese ist auf dem Platz aber erst dann zu sehen, wenn dem Gegner etwas Zeit für den Spielaufbau zugestanden wird. Vorher, direkt nach Ballverlusten, wird sehr intensiv ins Gegenpressing gegangen. Dadurch ist die Elf von Hürzeler extrem schwer zu knacken und bringt reihenweise Offensivreihen zur Verzweiflung.

Beim Spiel mit Ball orientiert sich Hürzeler an Roberto de Zerbis Brighton. Sein Team eröffnet häufig in einem flachen 4-2 Aufbau. Das heißt, vier Spieler agieren in der letzten Kette und zwei Spieler im Mittelfeld-Zentrum.

Diese zwei Sechser bilden weiter vorn mit Stürmer und Achter eine Art Box, die das Spiel fast automatisch durchs Zentrum leitet. So ähnlich praktizieren das auch Stuttgart und Leverkusen, die beiden Erfolgsteams dieser Bundesligasaison. Hürzelers Offensivspiel ist dabei extrem flexibel, feste Positionen gibt es quasi gar nicht. Es geht bei ihm nicht darum wer, sondern dass die Positionen besetzt sind.

Eine Schlüsselrolle dabei übernimmt Allrounder Marcel Hartel. Der Vize-Kapitän der Hürzeler-Elf ist der kreative Dreh- und Angelpunkt am Millerntor. In neuer Rolle avancierte der 26-jährige zum Shootingstar dieser Saison und ist der aktuell beste Scorer der Liga.

Artikelbild:🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten

Das System Hürzeler sorgt auf den Tribünen aber auch mal für Unmut. Beispielsweise, wenn das Spektakel, wie in der Hinrundenpartie gegen den KSC, ausbleibt. Allem Erfolg zum Trotz pfiffen die Fans ihre Mannschaft nach 0:1 Rückstand phasenweise aus.

Doch Hürzeler sieht das gelassen. Der Erfolg gibt ihm schließlich recht. So äußerte das Trainertalent im Anschluss: „Von 30.000 haben vielleicht 5.000 gepfiffen. Die meisten verstehen inzwischen, wie wir Fußball spielen wollen und irgendwann verstehen es die restlichen 5.000 auch noch. Aber ich kann nicht alle 5.000 einladen zu einer Fortbildung und erklären, warum wir so spielen.“

Neben der taktischen Rafinesse Hürzelers ist noch ein weitere Aspekt entscheidend für den Erfolg. Das Mannschaftsgefüge der Paulianer scheint extrem intakt. Entscheidend dafür ist eine frühere Trainerstation ihres Chefs. Von 2016 bis 2020 war dieser als Spielertrainer beim FC Pipinsried engagiert und schaffte auf dem Platz und parallel an der Seitenlinie zweimal den Aufstieg in die Regionalliga.

Bei dieser für seine Entwicklung wichtigen Station lernte Hürzeler, dass der Zusammenhalt für den Erfolg entscheidend ist. Als er mit dem bayerischen Klub 2019 aus der Regionalliga direkt wieder abstieg, sagte er: „Es hört sich verrückt an. Aber ich bin dankbar für den Abstieg. Viele zeigen in solch einem Moment mit dem Finger auf andere und sagen: Der war schuld. So bin ich nicht. Ich war der Hauptschuldige, weil ich es nicht geschafft habe, ein Team zu formen.“

Artikelbild:🧐 Wie konnte das passieren? Vom Abstiegskampf zum Aufstiegskandidaten

Das Thema Mannschaftsgefüge stand fortan ganz oben auf der Liste Hürzelers: „Die Menschenführung entscheidet am Ende über den Erfolg. Hier habe ich noch am meisten Luft nach oben. Als Trainer musst du eine Mannschaft formen, die für dich durchs Feuer geht“, sagte er damals. Ganz offensichtlich hat er auch hier noch einmal dazugelernt und die Lektionen beim Zweitligaspitzenreiter angewandt.

Quasi ohne Neuzugänge und ohne echte Stars im Kader hat Hürzeler ein Team geformt, dass für ihn und seine Idee durchs Feuer geht und dabei so gut wie nie mehr verliert. Aktuell sieht es bei zehn Punkten Vorsprung auf den Relegationsplatz ganz danach aus, als könnte es am Millerntor erstmals seit 2010 eine Aufstiegsparty geben.