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Florian Bajus·24. September 2023
🤔 Wie konnte das passieren? Gestern Sandhausen, heute Königsklasse

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Florian Bajus·24. September 2023
Ein Besuch an der Alten Försterei ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Es gibt keine moderne Anzeige für den Spielstand, Sitzplätze gibt es auch so gut wie keine, und andere Nahrungsmittel außer Bratwurst sind verpönt.
Max Kruse fühlte sich bei Union Berlin wie in einer Kreisliga-Mannschaft, aus Spaß wird unter Urs Fischer aber nicht gespielt. Stattdessen kicken mittlerweile Leonardo Bonucci, Robin Gosens und Kevin Volland mit den Eisernen in der Champions League und wollen sich in der Spitzengruppe der Bundesliga etablieren. Dabei war Union vor fünf Jahren noch Zweitligist. Wie konnte das passieren?
Wir schreiben das Jahr 2009, als Union Berlin nach fünf Jahren Abstinenz in die 2. Bundesliga zurückkehrt. Der Klub hat es wirtschaftlich nicht leicht, darf aber auf die Unterstützung seiner Fans bauen.
Im Jahr 2004 wurde die Aktion „Bluten für Union“ ins Leben gerufen, mittels Blutspenden konnten Fans Geld sammeln, um die Bürgschaft für die Regionalliga-Lizenz in Höhe von 1,46 Millionen Euro zu stemmen. Beim Umbau der Alten Försterei im Jahr 2008 packten über 2000 Fans an und errichteten das Stadiondach, zusätzlich beteiligten sich einige durch den Kauf sogenannter Gründersteine finanziell an der Modernisierung.
In Kombination mit der Arbeit des damaligen Cheftrainers Uwe Neuhaus entwickelten sich die Unioner zu einem etablierten Zweitligisten. Dabei sollte es aber nicht bleiben, weshalb Neuhaus im Sommer 2014 trotz drei aufeinanderfolgender einstelliger Tabellenplätze gehen musste.
In den Folgejahren kristallisierten sich zwei Schlüsselmomente für den steilen sportlichen Aufstieg heraus: 2016 schloss Union einen Deal mit dem Luxemburger Quattrex-Fonds ab, der laut ‚kicker‘ 6,3 Millionen Euro eingebracht hat; 2017 wurde Oliver Ruhnert als Chefscout vom FC Schalke 04 verpflichtet und nach einem Jahr zum Geschäftsführer Sport befördert.
Das frische Geld wurde in Transfers investiert, Sebastian Polter avancierte beispielsweise 2016 mit einer Ablöse von 1,6 Millionen Euro zum teuersten Neuzugang der Vereinsgeschichte. Bis zur Aufstiegssaison 2018/19 stieg der Personalaufwand, laut ‚kicker‘ verzeichneten die Eisernen damals die zweithöchsten Ausgaben in der 2. Bundesliga. Der Mut zum Investment sollte sich auszahlen, da Ruhnert unmittelbar nach seinem Amtsantritt Urs Fischer verpflichtete, der 2017 mit dem FC Basel das Double gewann.
Fischer hat den Köpenickern eine klare Spielidee verpasst, der Kader wurde konsequent an diese angepasst. In der Bundesliga zeichnet sich die Mannschaft durch ein funktionierendes Abwehrbollwerk samt pfeilschnellem Umschaltspiel aus. „Wir haben unfassbar gute Mechanismen“, sagte Robin Gosens nach dem 4:1-Sieg in Darmstadt bei ‚Sky‘, „jeder weiß in jeder Situation, was er tun muss.“
Ein Blick auf Ruhnerts Transferbilanz verrät, dass es durchaus erstaunlich ist, wie gut die Mechanismen greifen. In den vergangenen fünf Jahren wurden 79 Spieler verpflichtet und 98 Akteure abgegeben. Die Fluktuation im Kader ist enorm, im Zuge jedes Schrittes auf der Erfolgsleiter wird er optimiert.
Nach dem Aufstieg wurden erfahrene Kräfte wie Anthony Ujah, Neven Subotic, Christian Gentner und Manuel Schmiedebach verpflichtet, zeitgleich kamen vielversprechende Akteure wie Robert Andrich oder Sheraldo Becker. Auf die Transferliste gesellten sich später Max Kruse, Robin Knoche, Andreas Luthe, Taiwo Awoniyi, Josip Juranovic, Diogo Leite sowie eben Bonucci, Gosens und Volland.
Viele Spieler kamen und gingen, alleine in diesem Transfersommer investierte der Klub fast 30 Millionen Euro. Trotzdem ist Union noch immer Union: Jeder Einzelne ordnet sich der Mannschaft unter, Allüren gibt es keine, vom ersten Tag an wird die Disziplin vom Trainerteam und den neuen Teamkollegen vorgelebt.
So mühsam, wie sich das Eichhörnchen ernährt, arbeitete sich der Klub dadurch in der Bundesliga-Tabelle nach oben. In der Debütsaison wurde der Klassenerhalt auf Platz elf gefeiert, bereits im darauffolgenden Jahr gelang als Siebter die Qualifikation für die Conference League.
Wer dachte, höher könnte es nicht gehen, der irrte: 2022 wurde Union Tabellenfünfter und qualifizierte sich für die Europa League, in der vergangenen Spielzeit gelang der sensationelle vierte Platz und damit der Sprung in die Königsklasse.
Plötzlich mischen Fischer und seine Spieler mit im glanzvollen Theater der UEFA, statt gegen Teams wie Jahn Regensburg oder Sandhausen zu spielen. Dabei ist von Glamour an der Alten Försterei keine Spur, Top-Spieler sind nur ein Teil des Ganzen und keine Aushängeschilder wie Harry Kane beim FC Bayern.
Unter dem Deckmantel des Underdogs hat sich eine immer bessere Mannschaft gebildet, die ihre Aufgaben mit Bravour erledigt und nicht unterzukriegen ist. Selbst Real Madrid benötigte beim CL-Debüt des FCU ein Slapstick-Tor in der 94. Minute, um zu gewinnen.
Der Quattrex-Deal trübt das Herz aller Fußballromantiker ein wenig, durch das Geld allein ist Unions Aufstieg aber nicht zu erklären. Die Kontinuität auf den Führungspositionen und dem Trainerstuhl sowie die deutliche Handschrift auf dem Transfermarkt haben Strukturen wachsen lassen, auf denen die Mannschaft ihre Stärken ausspielt.
Der Klub zeigt ähnlich wie Brighton & Hove Albion in England auf, dass es auch im modernen Fußball, an dessen Spitze mit schwindelerregenden Summen um sich geworfen wird, möglich ist, aus eigener Kraft vom Ende der Nahrungskette wegzukommen. Das einzige Manko ist, dass jeder Fehler bestraft wird und es keine Garantien gibt, dass Union auch in fünf Jahren Königsklasse spielt.
Das weiß auch Fischer. „Du darfst nicht bequem werden. Wir wissen, was wir zu tun haben. Wir müssen immer am Limit sein, um Punkte mitzunehmen“, wurde der Schweizer im September 2022 von ‚DW‘ zitiert. Darum darf es sich auch keiner seiner Spieler erlauben, auch nur ein Prozent nachzulassen. Sonst geht es irgendwann wieder nach Sandhausen und nicht ins Bernabéu.