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Rund um den Brustring

·15. Mai 2022

Wie ein Märchen

Artikelbild:Wie ein Märchen

Der VfB hat das Wunder und den direkten Klassenerhalt geschafft. Aber wer schreibt bitte so ein Drehbuch?

Es gibt nicht viele positive Situationen bei VfB-Spielen, die ich im Stadion erlebt habe und die sich mir für immer ins Gedächtnis gebrannt haben: Cacau in Bielefeld. Hildebrand gegen Dabrowski, Hitzlsperger gegen Cottbus natürlich, Gentner zum 4:4 im Westfalenstadion. In Paderborn war ich leider nicht. Und jetzt: Endo gegen Köln. Wobei ich ehrlich sein muss. Meine Wahrnehmung vom Tor ist eine Ecke, mutmaßlich die letzte in diesem Spiel. Dortmund hat das Spiel gegen Berlin gedreht wir brauchen nur dieses eine verdammte Tor, das wir schon mehrfach in diesem Spiel hätten schießen müssen. Aber ausgerechnet heute erlaubt sich der sonst nicht überragende, aber solide Müller einen Patzer und der unvermeidliche Modeste trifft. Die Kurve, nein das ganze Neckarstadion ist heißgelaufen in den letzten Minuten. Jetzt macht ihn doch endlich rein. Die Ecke kommt, ich seh den Ball nicht mehr und dann sehe ich die Ecke des Tornetzes und den Ball in unmittelbarer Nähe. Von innen oder von außen? Diese Frage erübrigt sich, als Florian Müller vor der Kurve eskaliert und alle anderen Geräusche von einem gefühlt fünfminütigen Torschrei übertönt werden. Wir haben wirklich dieses Tor gemacht. Also Endo natürlich, aber wir haben es reingeschrien. Es steht wirklich 2:1. Aber Dortmund läuft noch.


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Als dann nach ein paar, auf Stundenlänge gedehnten Minuten alle, aber wirklich alle Dämme brachen, war mein Blick auf die Situation schon etwas klarer. Wir haben es wirklich geschafft, was ich nach Berlin und Wolfsburg schon für völlig utopisch, nach dem Punkt in München aber wieder für etwas realistischer erachtet hatte: Keine Relegation, kein weiteres Zittern, kein feixender Tim Walter auf der Pressekonferenz. Einfach nur Sommerpause und die Aussicht auf ein weiteres Jahr Bundesliga und vor allem auf mehr finanzielle und hoffentlich auch personelle Stabilität. Aber da war vor allem dieses Gefühl, dass uns – und damit meine ich zuvorderst uns Fans – endlich mal wieder etwas richtig gutes widerfahren ist. Kein Warten auf den Donnerstag, kein Bangen, keine Tränen, sondern einfach nur eine Explosion der Freude.

Gerettet

Und vor allem ein Märchen. Der ganze Nachmittag lief wie ein kitschige Sportfilm. Der VfB lässt von Beginn an sein Herz auf dem Platz, kämpft um wirklich jeden Ball, ohne die Angst vor Fehlern, die uns durch die ganze Rückrunde begleitet hat. Und trotzdem passieren Fehler: Sasa Kalajdzic verschießt den Elfmeter, über Florian Müller haben wir schon gesprochen, Wataru Endo vergibt, bevor er sich in die Geschichtsbücher des Vereins schreibt, reihenweise beste Chancen. Aber die Mannschaft kommt zurück. Kalajdzic köpft die aus der Parade seines Elfers resultierenden Ecke zum 1:0 ein und aus der Führung des direkten Konkurrenten wird wenige Minuten vor dem eigenen Tor ein Rückstand. Genau der Rückstand, den der VfB braucht. Um sich in allerletzter Minute in die neue Saison zu retten. Ich hatte es bis zuletzt erhofft, hatte aber nicht zu glauben gewagt; dass es wirklich so kommt.

Die Emotionalität dieses Nachmittags speist sich natürlich nicht aus dem Erreichten – schließlich war der Klassenerhalt das erklärte Saisonziel und die Voraussetzung für eine stabile nähere Zukunft des Vereins – sondern vielmehr aus dem Verhinderten: Wir steigen nicht zum dritten Mal in sechs Jahren ab, der Fahrstuhl ist an unserem Stockwerk durchgefahren. Wir müssen nicht schon wieder Spieler verkaufen, weil wir zweitklassig sind, wir müssen nicht einen Stadionumbau mit Zweitliga-Einnahmen finanzieren, es müssen keine Köpfe rollen. Und natürlich aus dem Saisonverlauf: Um den Jahreswechsel herum trafen wir nicht mal das verdammte Tor, dann die späten Nackenschläge gegen Bochum und Hoffenheim, die späten Glücksmomente gegen Gladbach, Union und Augsburg und dann die reihenweise vergebenen Chancen gegen Mainz und Bielefeld, die Angstlähmung gegen Hertha und Wolfsburg. Auch wenn sie aktuell in Mode kommen, vielleicht auch wegen pandemiebedingter Entzugserscheinungen: Ich kann den Platzsturm verstehen, auch wenn ich selber nicht unten war. War ich auch 2016 und 2017 nicht. Vielleicht bin ich immer enttäuscht, dass er mir unter Androhung von Punktabzug verwehrt und mit Zäunen verhindert wurde, als ich noch in dem Alter war und es der Anlass definitiv rechtfertigte: am 19. Mai 2007.

Gesprächsbedarf

Ich habe mir die diversen Videos seit Samstagabend mehrfach angeschaut. Diese unbändige Freude des Teams und des Staffs, wie man heute sagt. 2016 waren es Szenen, die man in seinem eigenen Stadion nicht sehen müssen will, diesmal kann ich gar nicht genug davon kriegen. Auch wenn deutlich wird, dass Platzstürme viel von ihrer Unschuld verloren haben. Schon 2016 nutzen Menschen den quasi feststehenden Abstieg des Vereins als Hintergrundkulisse für ihre nächste Instagram-Story. Die auf 1893 programmierte Auswechseltafel ist natürlich genial. Aber von oben im 35a konnte man relativ gut beobachten, wie spontane Freude in Selbstdarstellung und Egoismus umschlug. “Ich bin auf dem Rasen, rotzevoll, und könnte die Mannschaft als erstes sehen. Alles andere ist mir doch egal.” Sei es drum, man muss die Feste wahrscheinlich feiern, wie sie fallen. Definitiv Gesprächsbedarf besteht hingegen bei den Einsatzplänen von Personen, die an diesem Tag in und um das Stadion für Sicherheit sorgen sollten.

Und auch beim VfB muss nun geredet werden, wenn auch durch den Klassenerhalt in deutlich entspannterer Atmosphäre. Welche Faktoren haben dazu geführt, dass wir bis um etwa viertel nach fünf auf dem Relegationsplatz standen? Welche konnte man beeinflussen und welche nicht, gegen welche hätte man sich wappnen können? Klar ist, dass man die Saison nicht nur nur vom endgültigen Ergebnis her betrachten darf, sondern auf dessen Entstehung blicken muss. Dabei hat keiner einen Kardinalfehler begangen, aber viele kleine Fehler auf und neben dem Platz addierten sich zu diesem Herzschlagfinale auf. Deswegen ist jetzt auch nicht die Zeit für Rechthaberei. Denn wessen Meinung am Ende durch die Macht des Faktischen bestärkt werden würde, war abhängig von einem Kopfball in der Nachspielzeit.

Ein Fundament

Der VfB kann stattdessen mit der Wucht dieses Spiels ein emotionales Fundament bauen für eine nähere Zukunft, die vielleicht nicht glorreich ist, aber zumindest weniger nervenaufreibend als die letzten Jahre. Vielleicht werden wir ja irgendwann mal wieder ein ganz normaler Bundesliga-Verein!

An dieser Stelle ein herzliches Danke fürs Lesen unserer Vor- und Nachberichte in dieser Saison, wir hoffen, ihr habt Euch informiert gefühlt und könntet Eure Gedanken zum VfB in manch einem Text wiederfinden.

Zum Weiterlesen: Der Vertikalpass hält in einem ganz wunderbaren Text fest, dass es Wunder immer wieder gibt. Stuttgart.International feiert Wataru Endo.

Titelbild: © Matthias Hangst/Getty Images

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