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·18. Juni 2025

Wie Alexander Blessin den FC St. Pauli verändert hat

Artikelbild:Wie Alexander Blessin den FC St. Pauli verändert hat

Alexander Blessin hat mit dem FC St. Pauli den Klassenerhalt geschafft. Gemeinsam mit dem Global Soccer Network schauen wir uns an, wie er den Fußball am Millerntor verändert hat.(Titelfoto: Stefan Groenveld)

Als klar wurde, dass Alexander Blessin Cheftrainer des FC St. Pauli wird, haben wir in der MillernTon-Redaktion als erstes den Kontakt zum Global Soccer Network gesucht. Denn es waren die Daten-Expert*innen vom GSN, die uns wenige Tage zuvor erklärt hatten, dass der Cheftrainer von Royal Union Saint-Gilloise mit Leipziger Vergangenheit die größte Ähnlichkeit mit dem just gen Brighton abgewanderten Fabian Hürzeler aufweise.


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Doch als Blessin dann tatsächlich im Frühsommer 2024 als neuer Cheftrainer des FC St. Pauli vorgestellt wurde und ich etwas tiefer in den von ihm praktizierten Fußball einstieg, fielen mir hauptsächlich die Unterschiede zwischen Hürzeler und Blessin auf. In einigen Phasen des Spiels könnten beide Übungsleiter mit ihren Ideen nicht weiter auseinanderliegen. In anderen wiederum sind die Muster extrem ähnlich. Und nachdem ich vorletzte Woche beschrieb, dass es bei dem „Fokus auf die Null“ deutliche Unterschiede zwischen ihnen gibt, hat mir das Global Soccer Network einen Vergleich zwischen den Spielweisen beider Trainer geschickt. Ein Vergleich, der sehr stark ins Detail geht und dessen Quintessenz ich niemandem vorenthalten möchte.

Doch da ist noch etwas, was ich seit Monaten machen möchte: Den Fußball des FC St. Pauli unter der Leitung von Alexander Blessin eingehend beschreiben. Was sind die Kernelemente und Ideen, auf dem die taktische Ausrichtung fußt? Was hat funktioniert, was kann und muss verbessert werden? Warum hat der FC St. Pauli damit die Klasse gehalten? Wie wurde diese Spielidee im Saisonverlauf umgesetzt? Und wie kann sie weiterentwickelt werden? Viele Fragen, auf die ich nun versuche, Antworten zu liefern. Das Wort Zeichenbegrenzung kennt dieser Text auf jeden Fall nicht, so viel kann ich schonmal vorwegnehmen.

FC St. Pauli defensiv – getrieben von der „Null“

Eigentlich könnte diese Überschrift auch für das gesamte Spiel des FC St. Pauli gelten. Denn der Fokus darauf, keinen Gegentreffer zu kassieren, ist beim FCSP sehr deutlich ausgeprägt. Damit ist er in der Bundesliga alles andere als allein. Viele Clubs sind darauf bedacht, sich bloß kein Gegentor zu fangen. Was den FC St. Pauli aber besonders macht: Er hat das besonders gut hinbekommen. Das gelang, weil bereits aus der Zeit unter Hürzeler eine gute Basis vorhanden war und diese an die Gegebenheiten der Bundesliga angepasst wurde. Einschub: Beide Trainer, Hürzeler und Blessin, haben diesen Fokus auf die Null so sehr auf die Spitze getrieben, dass er jeweils als identitätsstiftend für das Team genannt werden muss.

Der FC St. Pauli spielt unter Blessin also einen Fußball, der vorrangig defensiv denkt. Nicht alle, aber die meisten Elemente des FCSP-Spiels sind klar diesem Ziel untergeordnet. Das bedeutet auf keinen Fall, dass der Offensivfußball vernachlässigt wird. Es ist eher blanker Pragmatismus, der zu diesem Defensivfokus führt. Der war auch notwendig, denn meine gar nicht mal so steile These: Hätte sich der FC St. Pauli unter der Leitung von Alexander Blessin vom Defensivfokus verabschiedet, dann hätten wir kommende Saison wieder Zweitligafußball am Millerntor sehen müssen. Etwas plakativ, aber trotzdem bezeichnend: Mit Holstein Kiel und dem VfL Bochum sind jene Teams abgestiegen, die eine Saison im Klassenkampf erwarten mussten, diese aber mit einem Fokus auf die Offensive angingen. Bochum änderte das zwar im Saisonverlauf, als Peter Zeidler entlassen wurde (der tollen Offensivfußball spielen ließ, den Gegner dadurch aber auch zu Treffern einlud) – doch da war es bereits zu spät, die schlechte Phase zu Saisonbeginn (zwei Punkte aus den ersten 13 Ligaspielen) konnte nicht mehr korrigiert werden.

Mutig und bloß nicht zu tief

Wie aber hat der FC St. Pauli es geschafft, die zweitbeste Defensive der Bundesliga zu stellen? Mit ganz klaren taktischen Abläufen, einem bemerkenswerten Zusammenhalt als Team und viel Mut. Denn wer gedacht hat, dass der FCSP einfach dort weitermachen würde, wo er in der Aufstiegssaison 23/24 aufgehört hatte (damals die beste Defensive der 2. Liga), der/dem muss klar widersprochen werden. Denn es gibt deutliche Unterschiede im Stil von Blessin und Hürzeler in der Arbeit gegen den Ball, aber auch eine große Gemeinsamkeit. Fangen wir ganz vorne im hohen Pressing an.

Ich vermute, dass Alexander Blessin, wenn er diesen Text lesen sollte, mir den folgenden Absatz um die Ohren hauen würde, wenn er könnte. Denn im Saisonverlauf ist mir mehrfach aufgefallen, dass es Unterschiede zwischen seiner und meiner Interpretation des Wortes „Mannorientierung“ gibt. Eigentlich ist es einfach: Wenn sich viele Pärchen auf dem Platz bilden und das nicht nur einmal passiert, sondern immer, wenn zum Beispiel der Gegner des FCSP in der eigenen Hälfte im Ballbesitz ist, dann spreche ich gerne davon, dass der FC St. Pauli in der ersten Verteidigungsphase mannorientiert verteidigt. Doch es gibt auch Situationen, die nur scheinbar eine mannorientierte Spielweise erzeugen: Wenn ein Team raumorientiert verteidigt, dann haben die einzelnen Spieler gewisse Zonen zu besetzen. Und sobald in dieser Zone ein Gegenspieler ist, dann orientiert man sich zu diesem Spieler. Fertig ist eine raumorientierte Manndeckung, wenn man es denn so nennen möchte. Jedenfalls würden einige Trainer zu Recht darauf verweisen, dass ihr Team im Raum verteidigt. Da der Gegner sich aber im Aufbau genau in diese Räume aufteilt (was natürlich aufgrund von Gegneranalysen – und diese waren beim FC St. Pauli in der Saison 24/25 oft passend – sehr oft passiert), sieht das dann für einige Journalisten wie eine mannorientierte Spielweise aus.

So. Setze ich mich also in die Nesseln: Der FC St. Pauli agiert unter Alexander Blessin im hohen Pressing mannorientiert. Dazu schieben die beiden Sechser und die beiden Außenverteidiger oft weit mit vor. Der Druck für den Gegner wird dadurch sehr hoch. Diese laufintensive Spielweise hat im Saisonverlauf in einigen Spielen extrem gut funktioniert. Das beste Beispiel ist das Heimspiel gegen Borussia Mönchengladbach (hier die Analyse), bei dem die Fohlen zu überhaupt keinem Zeitpunkt ihr eigentlich sehr ansehnliches Ballbesitzspiel auf den Platz brachten. Weil der FCSP sie durchgehend früh unter Druck setzte und diesen Stil mutig durchzog.Das Global Soccer Network bezeichnet den Pressingstil des FCSP in dieser Spielphase passenderweise als „kompromisslos“, betont zudem das so eine Spielweise eine „hohe physische Bereitschaft und viele intensive Läufe“ verlangt.

Nie das Zentrum offen lassen

Gerade weil so eine Spielweise ein hohe Intensität verlangt, ist es auch nicht möglich, diese dauerhaft durchzuziehen. Entsprechend hat der FCSP unter Alexander Blessin auch eine energiesparendere Art und Weise entwickelt, um den Gegner bereits früh im Spielaufbau vor Probleme zu stellen. Genau hier gab es dann auch die wohl deutlichste Überschneidung mit der Spielweise des FC St. Pauli unter Fabian Hürzeler zu sehen. Sie lässt sich grob als Aufteilung der zehn Feldspieler beschreiben: Eine Fünferkette mit einen Fünferblock davor, der stark auf das Zentrum fokussiert ist und das gegnerische Spiel auf die Außenbahnen lenken soll. Warum? Weil es dort mit der Seitenlinie eine natürliche Raumverknappung gibt, weil der Abstand zum eigenen Tor größer ist und sich für den Gegner weniger Passoptionen bieten.

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Ein seltenes Beispiel, wie es einem Gegner des FC St. Pauli gelang das Team in ein 5-4-1 zu zwingen seht ihr hier (hier der Spielbericht dazu). Ein wirkliches Problem war das für den FCSP nicht. Allerdings fehlte es durch das 5-4-1 an vielversprechenden Ballgewinnen – und genau deshalb möchte Alexander Blessin auch eine zu tiefe Spielweise immer vermeiden.

Diese Spielweise ist an sich kein Hexenwerk. Sehr viele Teams agieren im Spiel gegen den Ball mit diesem 5-2-3. Besonders wird sie aber in den Feinheiten, in den Prinzipien, die der FCSP dabei umsetzt. Darin unterscheiden sich auch die Ansätze von Hürzeler und Blessin. Unter dem jetzigen Brighton-Trainer hatte die Arbeit des FC St. Pauli gegen den Ball in dieser Spielphase laut GSN vorrangig das Ziel, das Spiel des Gegners auf die Außenbahn zu lenken (passierte das, bildete sich aus dem 5-2-3 schnell ein 5-4-1) und das Tempo des Gegners zu verlangsamen. In den Spielen kam es dann oft dazu, dass die gegnerischen Teams gerade in dieser Phase viel Ballbesitz hatten, mit diesem aber sehr wenig anfangen konnten.

Fokus auf Ballgewinne

Zwar lässt auch Alexander Blessin das Team des FC St. Pauli in diesem 5-2-3 verteidigen. Dieser Zentrumsfokus sorgt auch dafür, dass das Spiel des Gegners auf die Außenbahn gelenkt wird und der Ansatz ist daher von der Grundstruktur her ähnlich wie jener von Hürzeler. Doch Blessin lässt aggressiver spielen, wie das Global Soccer Network erklärt: „Blessins Team verfolgt im mittleren Block klare ballorientierte Prinzipien, geht früh in Zweikämpfe und sucht den Ballgewinn schon im zweiten Drittel durch aktive Balleroberung.“ Der Ansatz ist also deutlich aktiver mit einem starken Fokus auf Ballgewinne. Eines der zentralen Elemente, um in dieser Formation das Zentrum kompakt halten zu können und trotzdem genug Druck auf den Außenbahnen zu erzeugen: Das Vorwärtsverteidigen der äußeren Innenverteidiger, welches Blessin im Saisonverlauf immer wieder einforderte.

Dieser mittlere Block ist auch das, was man vom FC St. Pauli am häufigsten in der Defensivarbeit zu sehen bekommt. Alexander Blessin hat nämlich wenig Interesse daran, mit seinem Team noch tiefer zu verteidigen als in diesem mittleren Block. Oft hat er in dieser Saison genau das angesprochen, wenn er nach den Gründen gefragt wurde, warum ein Spiel nicht wie gewünscht lief, sagte: „Wir sind zu tief geworden“ oder „Wir haben nicht die richtige Höhe gefunden.“ Hohes, druckvolles Anlaufen oder ein aggressiver mttlerer Block – so soll der FC St. Pauli verteidigen. Das Fallen in eine tiefe Verteidigungslinie soll die Ausnahme bleiben. Hier unterscheiden sich Blessin und Hürzeler deutlich: Denn das Fallen in ein tieferes 5-4-1 war unter dem ehemaligen FCSP-Coach die Regel, das Team blieb auch in dieser Phase ruhig und organisiert. Ruhe gibt es unter Blessin nicht, auch nicht, wenn das Team mal tiefer stehen muss. Auch hier wird ein aktiver Ansatz präferiert, der möglichst schnelle Ballgewinn forciert. Je aktiver dieser Stil ist, umso näher kommt er an die Spielidee von Blessin heran, da hat der FC St. Pauli auf jeden Fall noch Entwicklungspotenzial.

Die defensiven Spielstile von Fabian Hürzeler und Alexander Blessin haben also ähnliche Elemente. Das Global Soccer Network beziffert diese Übereinstimmung auf 87,3 Prozent. Beide Trainer achten primär darauf, dass sich das Team kein Gegentor fängt. Bei Hürzeler wird das aber unter anderem mit längeren eigenen Ballbesitzphasen forciert („Wenn wir den Ball haben, kann der Gegner kein Tor schießen.“) und mit viel Raumkontrolle. Alexander Blessin hat einen deutlich aggressiveren Ansatz, möchte den Gegner zu Fehlern zwingen, ihn in ungünstigen Momenten kalt erwischen. Das passt zu dem generell viel stärker ausgeprägtem Fokus von Blessin auf offensive Umschaltmomente.

Artikelbild:Wie Alexander Blessin den FC St. Pauli verändert hat

Eines der wenigen Teams den es gelang den FC St. Pauli defensiv wirklich dauerhaft in Verlegenheit zu bringen, ist der SV Werder Bremen (hier geht es zum Spielbericht). Weil die beiden Achter des SVW sehr tief fielen, rückten die FCSP-Innenverteidiger Wahl und Nemeth nicht immer mit. Einer der zentralen Ansätze der Defensivarbeit des FC St. Pauli ist aber die vorwärtsverteidigende Spielweise des Teams.

FC St. Pauli offensiv – Dynamik schlägt alles

Da kommt sie dann doch relativ klar durch, die Leipziger Fußballschule, in der Alexander Blessin einige Jahre lang tätig war. Sie ist die Quelle einer Grundidee des Fußballs, die auf Tempo und Umschaltmomenten beruht. Und sie sorgt dafür, dass die Überschneidung im offensiven Spielstil von Hürzeler und Blessin nur bei 85,3 Prozent liegt. Gegner sollen möglichst durchgehend einen unangenehmen Druck spüren, aggressiv und beständig angelaufen werden. Und wenn der Ball dann gewonnen ist, dann geht es nur noch nach vorne und das schnellstmöglich. Von dieser grundsätzlichen Idee des Fußballs konnte man beim FC St. Pauli in der Saison 24/25 einiges erkennen.

Schnelle Tiefe

Denn „Tiefgang“ ist wohl das Wort, welches am besten zum offensiven Spielstil des FC St. Pauli in offensiven Umschaltmomenten passt. Nach Ballgewinnen suchen die Offensivspieler schnellstmöglich den Weg hinter die letzte Kette des Gegners. Das Tor von Morgan Guilavogui in Frankfurt ist ein gutes Beispiel dafür. Sobald der Ball in den eigenen Reihen ist, geht der Blick nach vorne, wird oft ein risikoreicher Pass in die Tiefe gespielt. Blessin möchte die fehlende Organisation des Gegners nach Ballverlust direkt für sein Team ausnutzen. Dazu geht er ein hohes, aber kalkuliertes Risiko ein, indem schnell Bälle in die Spitze gespielt werden.

Das ist ein deutlicher Unterschied zur Vorsaison. Denn unter Fabian Hürzeler war das offensive Umschaltspiel quasi nicht existent. Das Team suchte damals vielmehr die Sicherheit, spielte Bälle erstmal aus der Gefahrenzone, versuchte dem Gegenpressing des Gegners aus dem Weg zu gehen und baute dann in Ruhe auf, suchte geduldig die Lücken in der gegnerischen Abwehrreihe. Das war bekanntlich sehr erfolgreich, aber bedeutete eben auch, dass der FCSP weit davon entfernt war, Gefahr in Umschaltmomenten zu erzeugen. Der FC St. Pauli 24/25 ging der Gefahr nicht aus dem Weg, spielte oft den Ball direkt in die Tiefe oder auf die ballnahe Außenbahn. Dieser Ansatz beinhaltet eine hohe Laufintensität. Wenig verwunderlich also, dass der FCSP zu den sprintstärksten Teams der Bundesliga zählte.

Verhalten in offensiven Umschaltsituationen komplett verändert

Diese taktische Umstellung ist eine der größten beim Wechsel von Fabian Hürzeler zu Alexander Blessin gewesen. Sie verlangt von den Spielern ein ziemlich radikales Umdenken, die Bereitschaft, viele Tempoläufe zu unternehmen und auch die Bereitschaft im Kopf, im Passspiel ins Risiko zu gehen. Und es hat auch ziemlich lange gedauert, bis diese Umstellung Wirkung zeigte („Gegen das Stress-System“). Das lag nicht nur daran, dass zu Saisonbeginn direkt nach Ballgewinnen auf Altbewährtes zurückgegriffen wurde, sondern auch daran, dass die Ballgewinne in den gewünschten Zonen fehlten. Denn der FC St. Pauli fiel in den ersten Spielen 24/25 oft in alte Muster zurück, stand tiefer als gewünscht (wodurch vielversprechende Ballgewinne fehlten) und spielte in Umschaltmomenten vornehmlich auf Sicherheit und ging zu selten in das von Blessin gewünschte Risiko.

Das Umschaltspiel war zu Saisonbeginn offensiv also nicht so richtig stimmig und weit weg von dem, was Blessin gerne spielen lassen wollte. Das wurde während der Saison angepasst. Blessin machte dabei Schritte auf den Kader zu, der Kader auf Blessin – und so wurde es insgesamt immer stimmiger. Auch defensiv passte zu Saisonbeginn so einiges nicht zusammen. Alexander Blessin erklärte im Verlauf der Rückrunde, dass es seinem Team nun besser gelinge, unnötige Ballverluste zu vermeiden. Das Team agierte zudem viel klüger nach Ballverlusten, unterband Konter durch Fouls, die man sich in der Hinrunde (man erinnere sich an die Gegentore gegen Heidenheim und Mainz) gewünscht hätte, sicherte gekonnt die Tiefe, in dem Wissen, dass die Mitspieler in höchstem Tempo den Weg zurück in die Defensivposition antraten. Auch hier gilt: Ohne eine hohe Laufintensität funktioniert das nicht. Wie schnell es dem FCSP nach Ballverlusten gelang, mit möglichst vielen Spielern hinter den Ball zu kommen, war eines der wichtigsten Merkmale der erfolgreichen Defensive. Genauso wie das intensive Gegenpressing in dieser Phase. Erneut lässt sich das Team in zwei Teile aufsplitten: Jene, die direkt nach Ballverlust den Rückweg antreten, die Tiefe sichern und jene, die den Gegner direkt aggressiv anlaufen, im Gegenpressing den Ball gewinnen wollen.

Viel Risiko vs. gar kein Risiko

In der Rückrunde klappte das dann insgesamt viel besser, in offensiven und defensiven Umschaltmomenten. Die Folge: Viele Teams agierten gegen den FC St. Pauli extrem vorsichtig, aus Sorge vor diesen Umschaltmomenten. Plötzlich waren dann doch wieder Lösungen gegen tieferstehende Gegner gefragt. Die wurden, wenngleich nicht durchgehend, gefunden. Auffällig war dabei das Verhalten der äußeren Innenverteidiger, die in der 3-4-3-Aufbaustruktur immer wieder die freien Räume nach vorne suchten. In Phasen gab es auch einige Ähnlichkeiten zum Aufbauspiel unter Hürzeler – vor allem direkt nachdem Eric Smith ins defensive Mittelfeld vorgerückt war. Diese waren aber nur in Sachen Grundstruktur erkennbar.

Denn es gibt deutliche Unterschiede in der Herangehensweise bei Ballbesitz zwischen beiden Trainern und damit auch beim FC St. Pauli 23/24 und 24/25, wie das Global Soccer Network sehr passend beschreibt: „Beide Trainer nutzen den Spielaufbau strategisch, aber mit grundlegend unterschiedlichem Ziel. Hürzeler will mit dem Ball die Kontrolle über den Gegner erlangen. Er lädt den Gegner bewusst ein, um Räume zu provozieren, die dann systematisch genutzt werden – stets abgesichert.Blessin hingegen betrachtet den Aufbau als ein Überbrückungsinstrument, um so schnell wie möglich in das Angriffsdrittel zu gelangen. Er nimmt mehr Risiko in Kauf, um Dynamik und vertikale Präsenz zu erzeugen.“

Mit „Steil-Klatsch“ ins letzte Drittel

Dieses „Überbrücken“ von dem GSN schreibt, geschieht bei Blessin entweder über progressive Läufe auf der Außenbahn, zum Beispiel durch Innenverteidiger, die den Ball ins letzte Drittel tragen. Auch eine vertikale Passlinie auf den Außenbahnen war öfter zu erkennen im Spiel des FC St. Pauli unter Blessin. Das Mittelfeld wurde aber auch gerne mal durch das Zentrum überbrückt. Die Stichwörter dazu lauten „Steil-Klatsch“ – aus dem eigenen Drittel wurden lange Pässe in die Halbräume oder Offensivzentrum gespielt (oft von Wahl oder Smith). Kamen sie dort bei Eggestein oder Sinani an, versuchten diese, den Ball direkt auf die Mitspieler abzulegen (Irvine, Treu, Boukhalfa). Wenn das gelang, dann hatte sich idealerweise bereits einer der offensiven Außenbahnspieler per Laufweg in die Tiefe aufgemacht und wurde per weiterem langen Pass gesucht. Ein Konzept, welches bei fein abgestimmter Ausführung vielversprechend ist, bei nicht so guter Ausführung aber natürlich zum Risiko werden kann. Entsprechend sind auch weniger zielgenaue und getimte lange Pässe ein Element des FCSP-Spiels. Weil das Team in gewissen Drucksituation dann überhaupt kein Risiko eingeht (das hat sich aber erst im Saisonverlauf entwickelt).

Artikelbild:Wie Alexander Blessin den FC St. Pauli verändert hat

Zwei unterschiedliche Aufbauvarianten des FC St. Pauli

Links: Im Rückspiel gegen Mainz präsentierte der FCSP (Spielbericht) erstmals erfolgreich eine Aufbauvariante, bei der die Schienenspieler ihre Gegenspieler hoch fixierten und so Räume für die äußeren Innenverteidiger öffneten. Diese Variante war bis zum Saisonende ab da häufiger zu sehen.

Rechts: Im Rückspiel gegen den FC Bayern München zeigte der FC St. Pauli (Spielbericht), welche Lösungen es gegen mannorientierte Gegner gibt: Mit „Steil-Klatsch“-Mustern konnte sich der FCSP besonders in der ersten Halbzeit einige gute Situationen erspielen.

Angekommen im letzten Drittel geht es beim FC St. Pauli darum, die Dynamik fortzusetzen, das Tempo hochzuhalten und damit den Gegner möglichst wenig Zeit zur Organisation zu lassen. Wenn Blessin in der Vorsaison über das Verhalten im letzten Drittel sprach, dann gab es dabei eigentlich immer nur zwei Themen: Abschlüsse und Strafraumbesetzung. Grundsätzlich sollen schnellstmöglich Abschlüsse gesucht werden, Blessin kritisierte mehr als einmal, dass seine Spieler vor dem Strafraum zu oft noch einen vermeintlich besser postierten Kollegen suchte, anstatt es selbst zu wagen. Und damit es gelingt, schnellstmöglich in die bestmögliche Abschlussposition zu kommen, wenn der Ball zwar im letzten Drittel, aber in keiner guten Abschlussposition ist (= auf der Außenbahn), ist ein stets gut besetzter gegnerischer Strafraum elementar, den Blessin ebenfalls immer wieder einfordert.

Der Blessin-Fußball kann somit ganz grundlegend als dynamischer als der von Fabian Hürzeler bezeichnet werden. Dieser größere Fokus auf das Erzeugen dynamischer Situationen äußert sich in allen Spielphasen. Mit dem Ball soll das Mittelfeld schnellstmöglich überbrückt werden, gegen den Ball soll dieser schnellstmöglich wiedergewonnen werden. Die Idee: Die Dynamik führt zu Hektik und Chaos beim Gegner, welches (bei Ballbesitz FCSP) Chancen erzeugt oder (bei Ballbesitz Gegner) Fehler erzeugt. Aber es erzeugt auch ein Risiko. Denn nicht nur der Gegner, sondern auch das eigene Team ist anfällig in dynamischen Situationen. Je länger die Saison dauerte, umso besser hat es das Team des FCSP aber hinbekommen. Ihr könnt es Euch sicher denken, ich schreibe es aber trotzdem auf: Dieser auf Dynamik beruhende Spielansatz ist das Produkt eines grundlegend anderen Konzepts des Fußballs als jenes von Hürzeler, welches auf Geduld und Absicherung beruhte. Interessant ist aber, dass es bei beiden Spielideen immer wieder zu Überschneidungen kommt.

Wohin geht die Reise?

Es ist bemerkenswert, dass der FC St. Pauli unter der Leitung von Alexander Blessin die Klasse gehalten hat, obwohl dem Kader eine elementare Fähigkeit für das Umsetzen einer auf Dynamik basierenden Spielidee fehlt: Tempo. Gemessen am Top-Speed hat der FCSP in der abgelaufenen Saison den langsamsten Kader der Bundesliga gehabt. Na klar, der Top-Speed ist nicht die einzige Messgröße, um das Tempo eines Spielers zu bestimmen. Trotzdem ist an der These des fehlenden Tempos des FCSP-Kaders schon was dran. Und wenn der bisherige Transfersommer eines gezeigt hat, dann, dass der FC St. Pauli mehr Tempo in den Kader bekommen möchte. Dadurch gibt es eine realistische Chance, dass das eigene Umschaltspiel noch einmal ein ganz anderes Level erreichen kann.

Aber es gibt natürlich auch die Gegenseite zum Erreichen eines neuen Levels: Denn es ist und bleibt eine mutige und risikoreiche Spielweise, die Alexander Blessin mit dem FC St. Pauli praktiziert. Das kann auch schiefgehen, wenn Muster nicht aufgehen oder vom Gegner entschlüsselt werden. Trotzdem ist es eine Spielidee, die für einen Abstiegskandidaten absolut sinnvoll ist, die taktische Umstellung mit höherem Fokus auf mehr Umschaltmomente und weniger Ballbesitzphasen ist den Ansprüchen der Bundesliuga gerecht geworden. Und sowieso gilt trotz allem Risiko: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Der FC St. Pauli muss mutig sein, um seine Ziele zu erreichen, muss die Dinge möglichst voll durchziehen. Auf dem Platz wird er es tun, höchstwahrscheinlich noch deutlicher als in der Saison 24/25. Ich freue mich schon sehr darauf mir das genau anzuschauen.// Tim

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