
OneFootball
Helge Wohltmann·22. September 2023
Wann darf er starten? Deutschlands größte Tormaschine sitzt auf der Bank

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Helge Wohltmann·22. September 2023
Den Chipball von Joshua Kimmich nimmt er in einer fließenden Bewegung mit dem Oberschenkel genau so an, dass er ihn im vollen Lauf mit dem zweiten Kontakt unter die Latte jagen kann. Es ist die 92. Minute in der Champions League und Mathys Tel hat Manchester United gerade den Todesstoß versetzt. Die Paradedisziplin des 18-Jährigen, der in Deutschland aktuell schneller knipst als jeder andere.
Schon vor zweieinhalb Wochen gelang ihm in der Crunchtime eines Spiels die Entscheidung. Gegen Borussia Mönchengladbach köpfte er seine Bayern in der 87. Minute zum Sieg. Gezwungenermaßen ist Tel ein Spezialist für die späten Tore. Thomas Tuchel lässt ihn zu Spielbeginn nämlich immer erstmal draußen. Zu gut ist er als Joker: „Wenn du einen Spieler hast, der so regelmäßig den Unterschied macht von der Bank, dann ist das eine Qualität“, erklärte der Coach am Mittwoch nach dem Spiel gegen United bei ‚DAZN‘.
Gleichzeitig machte er dem Franzosen Hoffnung, bald in der Startaufstellung stehen zu können. „Jetzt kommen aber die Spiele alle drei Tage. Ich denke, es ist eine Frage der Zeit, wann er beginnt.“
Macht Tel so weiter wie bisher, wird sein Trainer nicht mehr an ihm vorbeikommen. In Champions League und Bundesliga trifft er aktuell alle 19 Minuten. Damit stellt er selbst Serhou Guirassy in den Schatten, der in sechs Pflichtspielen bereits elf Mal für Stuttgart netzte, pro Tor allerdings 47 Minuten braucht.
„Er will immer ein Tor machen, deswegen lieben wir ihn“, schwärmte auch Thomas Müller nach der Partie in der Königsklasse. Tel vereint dabei Qualitäten, die nur wenige Spieler haben. Gegen Gladbach traf er per Kopf, beim Tor gegen Manchester United zeigte er seine technische Stärke und am ersten Spieltag gegen Bremen seine Schusskraft und -präzision, als er das Leder unhaltbar ins untere linke Eck schweißte.
Seine größte Stärke dürfte aber sein unerschütterliches Selbstvertrauen sein, das für einen Spieler seines Alters fast schon unheimlich ist. Im Sommer stand durchaus im Raum, dass Tel verliehen werden könnte, um Spielpraxis zu bekommen und nicht hinter einem Stürmer wie Harry Kane zu versauern.
Tel erteilte dieser Idee über seinen Berater eine klare Absage: „Bei allem Respekt – es interessiert ihn nicht, wer in diesem Sommer kommt“, sagte Gadiri Camara zu ‚Sky‘. Stattdessen will er sich unbedingt beim FCB durchsetzen.
Und genau das zeigt Tel auch auf dem Platz. Nichts scheint ihm aus dem Konzept zu bringen, Selbstzweifel gibt es bei ihm nicht. Manchmal geht es sogar so weit, dass ihn sein Trainer für sein zu großes Selbstbewusstsein rüffelt. Im November 2022 dribbelte er beispielsweise mit dem Ball in die Hälfte von Werder Bremen und hätte eigentlich auf den deutlich besser postierten Kingsley Coman abspielen müssen.
Da er aber wieder mal nur eingewechselt worden war, wollte Tel sich die Möglichkeit auf ein eigenes Tor nicht entgehen lassen und ballerte das Ding von der Strafraumkante kurzerhand selbst ins Netz. „Eigentlich darf er da nicht schießen“, hatte Julian Nagelsmann, damals noch Bayern-Coach, danach zu ‚Sat 1‘ gesagt. Wahrscheinlich braucht es aber genau diese kleine Portion Egoismus, um sich beim FC Bayern durchzusetzen.
Tel beherrscht bereits jetzt perfekt den Mix, auf dem Platz die Ellenbogen auszufahren, um sich im Konkurrenzkampf zu behaupten, sich aber auf der anderen Seite in Interviews demütig zu zeigen.
So hört man von ihm keine Beschwerden über mangelnde Einsätze, im Gegenteil. Über die letzte Spielzeit sagte er im August laut ‚DAZN‘ folgendes: „Die erste Saison war gut für mich, weil ich viel gelernt habe. Das war sehr wichtig für mein Selbstvertrauen. Ich bin noch jung und muss arbeiten, lernen, jeden Tag.“
Trotzdem macht er immer wieder deutlich, sich über kurz oder lang bei den Münchenern durchsetzen und Stammspieler werden zu wollen: „Ich will für immer hierbleiben“, so sein erklärtes Ziel.
Dass es dafür nicht reicht, klaglos auf der Bank zu sitzen, ist auch Tel klar, der in jedem Training um seinen Platz kämpft. Diese Einstellung werde bei Bayern intern positiv gesehen und geschätzt, schrieb der ‚kicker‘. Es ist auch genau die Einstellung, die er braucht, um die in ihn gesteckten Erwartungen zu erfüllen, die Nagelsmann bei Tels Ankunft in München so formulierte: „Ich habe die Vision, dass er eines Tages 40 Tore schießt.“
Vor einem Jahr klang das noch nach einer unnötigen Bürde, die einem Teenager auferlegt wurde. Inzwischen hat Tel aber gezeigt, dass er sich davon überhaupt nicht beeindrucken lässt. Genauso wenig wie von einem Champions-League-Spiel gegen Manchester United. Er jagt die Dinger einfach weiter unter die Latte.