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Vertikalpass

·23. November 2020

Vermissung

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Sitzschalen. Sitzschalen in rot. Sitzschalen in blau. Sitzschalen in gelb, Sitzschalen in grün. Sitzschalen. Ich hasse Sitzschalen. Denn sie sind das Symbolbild des Fußballjahres 2020. Das letzte Mal, als alle Sitzschalen im deutschen Fußball standesgemäß von Fan-Ärschen besetzt wurden, ist knapp 300 Tage her. Es war das Spitzenspiel der zweiten Liga. VfB Stuttgart gegen Arminia Bielefeld. 1:1 ging es aus. Die Älteren unter uns werden sich erinnern.

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Danach: Lockdownle, Spielunterbrechung und die Bemühungen der DFL und der Clubs, den Profifußball schnellstmöglich gegen alle Widerstände und gute Argumente wieder ans Laufen zu bringen. Kein Wunder, schließlich ging es um die TV-Gelder. Und so kamen die Geisterspiele.


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Bitte, lasst uns nicht darüber diskutieren, ob manche Partien mit Fans eventuell anders ausgegangen wären! Dann könnten wir auch darüber diskutieren, ob Spiele ein anderes Resultat gefunden hätten, wenn man ohne Abseits gekickt hätte. Oder mit größeren Toren. Oder mit Medizinbällen. Fans sind Teil des Spiels. Fußball ohne Kurven ist für mich kein Fußball. Allerhöchstens Fußball light. Und den erleben wir aktuell. Und das tut weh. Denn ausgerechnet seit jenem Spiel gegen Bielefeld spielt der VfB Stuttgart mit einigen Ausnahmen so aufregend wie seit Jahren nicht mehr. Bei Castros last minute Treffer zum 3:2 im Spitzenspiel gegen den HSV hätte vermutlich das gesamte Neckarstadion gewackelt. Beim 5:1 gegen Sandhausen am 32. Spieltag hätten wir so laut gejubelt, dass man es in Stuttgart-West noch gehört hätte. Doch so wurde der Aufstieg unter Ausschluss der Öffentlichkeit mit einer Heimniederlage gegen Darmstadt zelebriert. Naja. Immerhin schoss Mario Gomez sein Abschiedstor – und beendete seine grandiose Karriere vor leeren Rängen. Fick dich, Corona.

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Zugegeben: Auch ich war skeptisch, was die Bundesliga-Saison anging. Der gleiche Kader, der sich gegen Größen des Weltfußballs wie Wehen Wiesbaden, Holstein Kiel und den VfL Osnabrück so schwer tat, sollte es in der Bundesliga richten? Verstärkt mit Spielern wie Coulibaly, der bislang in der 5. Liga kickte oder Matteo Klimowicz, der in der Zweitliga-Saison auf 131 Minuten Spielzeit kam? Man hat uns VfB-Fans ja schon viel Blödsinn erzählt, z. B., dass Adam “Lord” Hlousek auch Innenverteidiger spielen kann. Aber, ganz ehrlich: Ich bin zu alt für diesen Scheiß.

Umso überraschender ist es natürlich, dass der “neue” VfB nach acht Spieltagen nur ein Mal verloren hat. Viel überraschender: Das Team hat acht Mal mutig und leidenschaftlich gespielt! Es ist ein bisschen wie unter Alex Zorniger in der Saison 2015/2016 – nur mit Punkten. Diese Mannschaft hat es definitiv verdient, dass knapp 60.000 Fans sie im Stadion frenetisch anfeuern. Und umgekehrt haben die es die treuen und leidensfähigen Fans verdient, diese Mannschaft live im Stadion zu erleben und anzufeuern. Sozusagen als Wiedergutmachung für die vielen blutleeren Auftritte in der vergangenen Zweitliga-Saison.

Unter uns: Würde der VfB Stuttgart aktuell nicht so wahnsinnig viel Spaß machen, ich wüsste nicht, ob ich noch Lust auf Geisterspiele hätte. Ich hasse – neben den Sitzschalen – auch das ständige Gebrüll der Spieler auf dem Platz und der Verantwortlichen daneben. “Hey, hey, hee, he, HEY!” Und das 90 Minuten lang. Inklusive des Echos, das von den leeren Rängen zurückgeworfen wird.  Schlimmer ist nur die Tonspur mit den fake Fangesängen. Ebenso intensiv vermisse ich die Statements der organisierten Fanszenen. Das tagesaktuelle Gegengewicht zum Establishment fehlt komplett – und das seit Monaten. Letzte Woche möchte uns Karl-Heinz Rummenigge erklären, was Solidarität bedeutet. Diese Woche erklärt uns Oliver Mintzlaff von RB Leipzig im kicker, wie man solide wirtschaftet, ohne Kredite aufnehmen zu müssen. Was kommt nächste Woche? Manuel Baum erklärt uns, warum er auf Schalke so erfolgreich ist?

Würde der VfB Stuttgart – trotz Datenskandals – aktuell nicht wie ein Eisberg mit rotem Brustring aus dem schmutzigen Meer, das der Profifußball aktuell ist, herausragen, ich würde mir vermutlich eine andere Sportart suchen. Achso, gibt’s ja gerade nicht wirklich, Okay, fick dich, Corona.

Was ich sagen will: Der Fußball braucht seine Fans. Ich brauche seine Fans. Für ihre Stimmung. Für ihre Meinung. Für den Fußball.

Dietmar Hopps vollmundiges Versprechen, dass das von ihm finanzierte Unternehmen bereits im Herbst einen Impfstoff gegen Corona auf den Markt bringt, hat sich leider erwartungsgemäß nicht bestätigt. Aber immerhin liefert offenbar die Konkurrenz. So besteht Hoffnung, dass wir spätestens zur neuen Saison wieder volle Stadien erleben dürfen. Ich freue mich wahnsinnig auf den Moment, wenn endlich wieder Fans in den Kurven stehen und Ärsche auf den verdammten Sitzschalen hocken – und zwar auf allen.

Denn ohne Zuschauer und ohne organisierte Fanszenen bewegt sich der Vereinsfußball dorthin, wo die Nationalmannschaft längst angekommen ist: in die Bedeutungslosigkeit.

Alle oder keiner. Ich freue mich darauf, wenn es endlich soweit ist!

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