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·21. Januar 2025

Standardsituationen – Der unschöne Teil des schönen Spiels oder doch die Zukunft des Fußballs?

Artikelbild:Standardsituationen – Der unschöne Teil des schönen Spiels oder doch die Zukunft des Fußballs?

Standardsituationen sind nicht besonders sexy. Sie gelten als langweilig, als ein Bereich, den vor allem spielerisch limitierte Mannschaften zu ihren Gunsten nutzen. Und doch erleben ruhende Bälle im modernen Fußball zweifelsohne eine Renaissance. Woran liegt das? 90PLUS wagt eine Bestandsaufnahme.

Standardsituationen: Das hässliche Entlein des Fußballs?

Ob „Joga Bonito“ oder „The beautiful game“ – der Fußballsport kennt global gesehen viele Namen. Das „schöne“ und weltweit beliebteste aller Spiele lebt dabei von Hackentricks, von kunstvollen Dribblings auf engem Raum, von technisch hochwertigen Außenristschüssen und von unvorhersehbaren Zuckerpässen. Jeder Junge, jedes Mädchen, das sich im Kindesalter einen Ball schnappt, träumt davon, eines Tages so zocken zu können, wie es Pelé, Johan Cruyff oder Diego Maradona konnten.


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Sind wir doch mal ehrlich: Kein junger Mensch verliebt sich aufgrund einer taktisch ausgeklügelten Standardvariante in den Fußball. Kein junger Mensch träumt davon, mal so perfekte Ecken schlagen zu können wie Vincenzo Grifo. Ruhende Bälle sind viel eher ein uncharmantes Anhängsel des schönen Spiels, als dass sie dieses ausmachen oder gar prägen würden.

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Lange Zeit wurden Standardsituationen daher sträflich vernachlässigt. Auch auf dem allerhöchsten Niveau. Tore nach Eckbällen oder Freistöße waren als reine Zufallsprodukte verschrien, als ein Stilmittel, dem sich sowieso nur Mannschaften bedienen würden, die ihrerseits wenig mit dem Ball am Fuß anfangen können.

Nicolas Jover: Der beste seines Fachs?

Doch diese Zeiten sind vorbei. Auch den spielerisch besten Teams der Welt ist bewusst geworden, welch lange unentdecktes Potenzial im Training von Standardsituationen schlummert. Nehmen wir die deutsche Nationalmannschaft: Auf dem Weg zum WM-Titel 2014 erzielte die DFB-Elf satte fünf Tore nach ruhenden Bällen. Angesichts der eher geringen Erfolgsquote bei vorherigen Turnieren rieben sich viele Beobachter überrascht die Augen. Was war passiert? Ganz einfach: Im Vorfeld der Weltmeisterschaft nahmen Standardsituationen einen zuvor nie da gewesenen Trainingsschwerpunkt ein. Das ging maßgeblich auf Co-Trainer Hansi Flick zurück, der Joachim Löw eindringlich von der enormen Relevanz ruhender Bälle überzeugte.

Oder nehmen wir den FC Arsenal: Der Wiederaufstieg der Gunners in den vergangenen drei Jahren wurde insbesondere auf die taktische Genialität von Trainer Mikel Arteta zurückgeführt. Der Spanier ist der Zauberlehrling des fußballerischen Obermeisters Pep Guardiola und implementierte viele bei Manchester City aufgesogene Spielformen in das Arsenal-System. Dass die Nord-Londoner im selben Zeitraum aber auch zum mit Abstand erfolgreichsten Ecken-Team der Premier League avancierten, lief dabei völlig unter dem Radar. Auf 100 Ecken hochgerechnet generieren die Gunners in dieser Spielzeit 5,1 erwartete und 6,1 tatsächliche Tore – beides absolute Spitzenwerte in der besten Liga der Welt.

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(Photo by Alex Pantling/Getty Images)

Das heimliche Gesicht hinter dieser Entwicklung ist neben Arteta vor allem Nicolas Jover. Der Franzose arbeitet seit 2021 als Standardtrainer des 13-fachen englischen Meisters. Mit durchschlagendem Erfolg. In der Saison 2023/2024 erzielte Arsenal sagenhafte 20 Tore nach Standardsituationen, 16 davon nach Ecken. Das ist geteilter Rekord in der Ligageschichte. „Er ist definitiv einer der besten Standardtrainer im modernen Profifußball. Speziell in der Premiere League über einen derartig lagen Zeitraum zu liefern, ist eine beeindruckende Leistung“, zeigt sich Standard-Experte Clemens Zulehner im Gespräch mit 90PLUS beeindruckt. Der 33-Jährige ist Sportlicher Leiter der Akademie des österreichischen Zweitligisten SV Ried und war zuvor unter anderem als Co-Trainer des Linzer ASK tätig.

Es ist vor allem die Kreativität Jovers, die Zulehner dabei hervorhebt: „In dieser Liga gibt es kaum mehr Geheimnisse, jedes Team verfügt über eine Vielzahl an Analysten, sogar KI kommt im Bereich Daten- und Spielanalyse zum Einsatz. Und trotzdem findet er immer wieder neue Lösungen, um Tore zu erzielen.“ Und tatsächlich: Obwohl Arsenal schon im Vorjahr eine nicht zu stoppende Standard-Maschine war, sucht die Konkurrenz in der englischen Beletage noch immer nach einem Gegenmittel. Nach nur 20 Spieltagen haben die Gunners zehn Treffer nach ruhenden Bällen auf ihrem Konto, drei weitere gelangen in der Champions League. Eine Kostprobe der Gunners’schen Standard-Komplexität gewährte zuletzt der The Athletic, das Teile von Jovers Ecken-Playbook veröffentlichte.

Der „Standardtrainer“ hat Hochkonjunktur

Angesichts dieser zunehmenden Verwissenschaftlichung des Profi-Fußballs und dem damit einhergehenden Bedeutungszuwachs von Set Pieces erscheint es nur logisch, dass immer mehr Mannschaften einen eigens für Standardsituationen zuständigen Mitarbeiter beschäftigen. „Durch die fortschreitende Professionalisierung und die Spezialisierung in den Trainerteams der Topligen haben sich aus Co-Trainern, die „auch“ Standardsituationen trainieren, sogenannte „Standardtrainer“ entwickelt“, erklärt Zulehner. „Allerdings ist eine Vereins- oder Trainerphilosophie, ob ich eine Person im Staff haben möchte, die wirklich nur für diesen Bereich zuständig ist.“

Auch die deutsche Nationalmannschaft beschäftigt in Person von Mads Buttgereit einen solchen Spezialisten. Der Däne bereitete das DFB-Team in den letzten drei Jahren auf die Heim-EM 2024 vor. Auf den ersten Blick sind die erbrachten Resultate niederschmetternd: Dem viermaligen Weltmeister gelang im Sommer kein einziges Tor nach einem ruhenden Ball. Doch Buttgereits Arbeit war dennoch alles andere als sinnlos. Trotz des vorzeitigen Viertelfinal-Aus hatte im gesamten Turnier kein anderes Team eine höhere Anzahl an Torchancen (18) nach Standardsituationen. Die Abläufe stimmten also, es fehlte schlicht und ergreifend der Output. „Standards, die in letzter Konsequenz auch zu Toren führen, sind von vielen kleinen Merkmalen abhängig. Es kann daher auch schlichtweg Pech gewesen sein“, ordnet Zulehner die ungenügende deutsche Standard-Ausbeute ein. „Buttgereit ist ein absoluter Fachmann, der bereits bei vielen Stationen sehr erfolgreich gearbeitet hat.“

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(Photo by Christian Kaspar-Bartke/Getty Images)

Insgesamt ließ sich beobachten, dass die EM 2024 nicht das Turnier der ruhenden Bälle war. Elfmeter ausgenommen fielen in Deutschland nur 21 der 117 Treffer, also 18 Prozent, nach Eckbällen oder Freistößen. Bei der Corona-EM 2021 waren es noch 23 Prozent. Für Zulehner bedeutetet diese Tor-Ebbe allerdings kein Ende des Standard-Hypes. Viel eher ist sie der Beleg für „eine konservative Herangehensweise. Theoretisch kann das auch an einer höheren Aufmerksamkeit auf defensiven Standards liegen.“ Der Österreicher erwartet, dass der Stellenwert von Standardsituationen insbesondere bei großen Turnieren weiterhin enorm bleiben wird.

Zwei Bundesliga-Vereine als Pioniere

Aber was macht eigentlich eine gute Standard-Mannschaft aus? Ist der Erfolg bei ruhenden Bällen eine rein systematische Frage, die Spielern durch gutes Coaching und stetiges Wiederholen im Training eingeimpft werden kann? „Man kann durch einen guten taktischen Plan das Optimum aus diesen Fähigkeiten herausholen und Schwächen in der gegnerischen Struktur besser ausnutzen“, verrät Zulehner. „Die Basis wird jedoch immer die Qualität der Spieler bilden.“ Daher würden insbesondere im Ligavergleich schwächere Mannschaften bei Transfers ein ganz genaues Auge auf die Standardstärke ihrer Neuzugänge legen. Qualitativ hochwertige Schützen oder Zielspieler seien „echte Gamechanger“.

Als hervorragende Beispiele dienen in dieser Hinsicht Vereine wie der SC Freiburg oder Union Berlin, die in den vergangenen Jahren fast immer 40 bis 50 Prozent ihrer Treffer nach hohen Hereingaben erzielten. Beide Klubs verfügen mit Spielern wie Vincenzo Grifo oder Christopher Trimmel über individuell herausragende Schützen und holten sich darüber hinaus immer wieder kopfballstarke Abnehmer in den Kader. Kombiniert man diesen Ansatz mit der Wichtigkeit, die ruhende Bälle im Training beider Klubs einnehmen, verwundert eine derart starke Ausbeute nur wenig.

Sträflich vergessen? Die zunehmende Wichtigkeit von Einwürfen

Doch auch abseits der „klassischen“ Standards wie Ecken oder Freistöße erfährt derzeit ein weiteres Stilmittel eine Renaissance: Der Einwurf. Und folgt man der Erklärung Zuhleners, ist diese Entwicklung nur logisch: „Einwürfe sind die am häufigsten vorkommende Standardsituation. Durchschnittlich gibt es in etwa 50 Einwürfe pro Spiel. Aus diesem Grund erhalten Einwürfe im modernen Fußball eine höhere strategische Aufmerksamkeit.“

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(Photo by Michael Regan/Getty Images)

Gesichts dieses Trends ist ohne Frage der Däne Thomas Gronnemark. Von 2018 bis 2023 nahm der ehemalige Bobfahrer beim FC Liverpool die Position des Einwurftrainers ein. Äquivalent zum Eckball-Guru Jover hob Gronnemark die Reds in diesem Bereich auf ein neues Level, brachte den Einwurf in den medialen Fußball-Mainstream und sich selbst ins Gespräch bei zahlreichen Top-Vereinen. „Er hat unter anderem die Einwurflänge von Spielern verbessert, um im letzten Drittel eckballähnliche Situationen herzustellen“, so Zulehner. „Außerdem erreichte Liverpool durch Stürmerüberladungen im Zentrum eine enorm hohe Ballsicherungsquote.“ Der 33-Jährige gab jedoch zu, dass das Feld der Einwürfe „sicher noch nicht ausgeschöpft sei.“

„Standardformen müssen genauso variantenreich sein wie Rondos“

Ebenfalls noch Luft nach oben besteht zweifelsohne im Jugendbereich. Vor allem der deutschen Nachwuchsförderung wurde in den letzten Jahren vorgeworfen, viel zu viele Allrounder auszubilden, die alle Dinge gut, aber nur wenige Dinge überragend beherrschen. Selbiges gilt laut Zulehner auch für Standardsituationen: „In der Jugend sollte vor allem die Förderung von Spezialisten im Vordergrund stehen.“ Es sei daher wichtig, dass „die Spieler Lust auf Freistöße, Eckbälle und auch Einwürfe bekommen.“

Als Möglichkeiten führt der Nachwuchs-Experte unter anderem die Nutzung von weicheren Bällen und das Praktizieren von Freistoß- und Eckballchallenges ein. Erst im fortgeschrittenen Jugendalter könne man dann vermehrt Prinzipien und Varianten einstudieren. „Dabei sollten die Spieler aber unbedingt einen kreativen Planungsanteil übernehmen. Wovon ich wenig halte, ist isoliertes, mannschaftstaktisches „top-down“ Standardtraining, bei dem der Trainer im Vordergrund steht.“

„Standards können Spaß machen“, stellt Zulehner daher abschließend klar. „Und das sollte in der Trainingsplanung eine wichtige Rolle spielen. Das Ziel müsste sein, dass Standardformen irgendwann genauso variantenreich wie Rondos sind.“ Auf diesem Wege könnten ruhende Bälle ihr noch immer leicht verstaubtes Image mit Sicherheit einfacher ablegen.

Denn eine Sache steht fest: Die Bedeutung von Standardsituationen nimmt im modernen Fußball keineswegs ab. Ganz im Gegenteil. Das Feld ist noch lange nicht zu Ende erforscht und steht auch dank immer besser werdender technischer Hilfsmittel erst am Anfang seiner Entwicklung. Gelingt es daher, Spielerinnen und Spielern schon im Jugendbereich für Ecken und Freistöße zu begeistern, ist das in Standards schlummernde Potenzial schier grenzenlos.

(Photo by Justin Setterfield/Getty Images)

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