Spiel auf Augenhöhe: 7 Erkenntnisse zum deutschen 2:1-Erfolg gegen Frankreich | OneFootball

Icon: 90min

90min

·28. Juli 2022

Spiel auf Augenhöhe: 7 Erkenntnisse zum deutschen 2:1-Erfolg gegen Frankreich

Artikelbild:Spiel auf Augenhöhe: 7 Erkenntnisse zum deutschen 2:1-Erfolg gegen Frankreich

Deutschland hat das EM-Halbfinale gegen Frankreich mit 2:1 für sich entschieden und ist nur noch einen Schritt vom großen Triumph entfernt. 90min hat die Partie gegen Les Bleus genau verfolgt und sieben Beobachtungen gemacht, die eine nähere Betrachtung verdienen.

1. Deutschland verlässt sich auf seine Stärken und nutzt eine französische Schwäche zweimal aus

Die unglaubliche Geschichte von Alex Popp bei dieser EM geht weiter, mit sechs Toren liegt sie nun mit der Engländerin Beth Mead gleichauf in der Torschützenliste. Ein Spiel, ein Tor, darauf war bisher bei Popp Verlass, nun waren es gleich zwei. Deutschland ließ sich auch von der Präsenz von Wendie Renard nicht beirren und setzte weiterhin auf Hereingaben, die Popp verwerten konnte. Deutschland versuchte nicht, um jeden Preis die französische Offensive auszuschalten, sondern spielte selbst nach vorn und wusste um die eigenen Stärken.


OneFootball Videos


Dabei konnten sie auch eine französische Schwäche ausnutzen. Wendie Renard war in diesem Spiel viel unterwegs und klärte links, rechts, in der Mitte. Teilweise waren daher aber die Lücken zwischen ihr und Mbock Bathy groß, Popp nutzte das beim 1:0 perfekt aus, die Zuordnung der beiden war nicht ganz klar. Renard hatte auch ein paar Mal die Nase vorn, aber Popp bewies wieder ihr instinktives Timing, das Gefühl für den richtigen Moment, das für jede Verteidigerin schwer zu verteidigen ist. Mit Millie Bright wartet auf Alex Popp nun eine weitere sehr kopfballstarke Spielerin im Finale, packende Duelle sind vorprogrammiert.

2. Deutschland will dynamische Läufe und Dribblings von Frankreich vermeiden

Frankreich hat bekanntlich sehr schnelle und dynamische Flügelspielerinnen, die sie auch in diesem Spiel wieder oft suchten. Über das Zentrum gehen eher wenige Angriffe aus dem eigenen Ballbesitz aus. Dementsprechend war ein Kernelement von Deutschlands Erfolg, Cascarino und die sehr offensiv ausgerichtete Sakina Karchaoui aus dem Spiel zu nehmen. Bei Diani versuchte es Deutschland auch, aber mit weniger Erfolg.

Dieses Verteidigen war durchaus riskant, weil die Mittelfeldspielerinnen ihre Posten aufgaben, um eine Spielerin zu attackieren, und damit auch viel Platz entstand, aber auch die beste Dribblerin kam nicht an vier Spielerinnen vorbei. Außerdem war die Methode sehr laufintensiv und verlangte von allen Spielerinnen höchste Konzentration, sodass dieses schwarmartige Verteidigen in der zweiten Hälfte weniger zu sehen war. Die eingewechselte Selma Bacha konnte das in einigen Situationen nutzen, da sie mehr Zeit hatte, um eine Entscheidung zu treffen, und mehr Raum, um vorzustoßen.

3. Frankreich presst aggressiv mit zwei Sturmspitzen, aber Deutschland kennt den Ausweg

Besonders in den ersten Minuten geriet die deutsche Viererkette immer wieder schwer unter Druck, Melvine Malard und Grace Geyoro bildeten die Spitze des französischen Pressings und liefen scharf an. Geyoro etwa verfolgte in der Anfangsphase die Verteidigerinnen teils bis zur Seitenlinie, das französische Pressing funktionierte gut und Deutschlands Verteidigung suchte nach Optionen. Eine davon war der lange Ball auf außen, aber als einzige Angriffsvariante wäre das doch etwas dünn.

Dazu kamen also Pässe ins Mittelfeld, wobei Oberdorf und Däbritz öfter der Verteidigung entgegenkamen. Von dort an versuchte Deutschland, mit schnellem Passspiel das französische Pressing zu umgehen. Die Mittelfeldspielerinnen bewiesen dabei wieder, dass sie einen sehr guten Überblick haben. Besonders Lena Oberdorf hatte oft schon ihren nächsten Pass geplant, als sie den Ball bekam, und schaute ständig, wo sich die Mitspielerinnen hinbewegten. Auch in der Offensive war dieses schnelle Kurzpassspiel ein Mittel, mit dem Frankreich mehrmals in Not gebracht wurde.

4. Popp macht gegen gleichwertige Französinnen den Unterschied

Von Anfang an war deutlich zu erkennen, dass beide Mannschaften großen Respekt voreinander haben und kein Risiko eingehen wollten. Deutschland und Frankreich lieferten sich ein intensives und hochspannendes Duell auf Augenhöhe, das die DFB-Elf mit Geschick und dem nötigen Glück für sich entschied.

Deutschland überstand die starke französische Anfangsphase ebenso wie die Schlussoffensive ohne die ganz großen Gelegenheiten zuzulassen. Mitte der zweiten Halbzeit geriet das Team von Martina Voss-Tecklenburg am stärksten unter Druck. Merle Frohms musste zwei Mal stark gegen Renard (64.) und Diani (67.) reagieren, den Versuch von Bacha blockte Hendrich mit dem Kopf (63.). In diesen Minuten vermissten die Französinnen ihre verletzte Torjägerin Marie-Antoinette Katoto am meisten. Die Weltklasseangreiferin hätte die deutsche Defensive noch einmal vor eine ganz andere Herausforderung gestellt als ihre Vertreterinnen Malard und die eingewechselte Sarr.

Dass in einem EM-Halbfinale die Leistungen einzelner Spielerinnen den Ausschlag geben, bewies die deutsche Mittelstürmerin Alexandra Popp. Deutschland hatte sich mannschaftstaktisch hervorragend auf die französische Offensivpower eingestellt, überzeugte mit hoher Passqualität und Laufstärke, aber ohne die individuelle Klasse ihrer Kapitänin hätte das DFB-Team das Spiel nicht gewonnen.

5. Diani und Bacha stellen Deutschland vor große Probleme

Insgesamt hatte sich Deutschland auf die französische Angriffswucht gut eingestellt. Die pfeilschnelle Kadidiatou Diani bekam das DFB-Team trotzdem nicht in den Griff. Zu Beginn des Spiels agierte die Französin noch auf ihrer angestammten Position auf der rechten Außenbahn, wo Felicitas Rauch im Verbund mit Svenja Huth und oftmals Sara Däbritz eine gute Figur machte. Im Laufe des ersten Durchgangs zog es Diani - wie beim Ausgleichstreffer - aber immer öfter ins Angriffszentrum. Nachdem Melvine Malard zur Halbzeit für Selma Bacha ausgewechselt wurde, rückte Diani endgültig nach innen. Dort hatte die deutsche Deckung ihre liebe Mühe, den Wirkungskreis der flinken PSG-Akteurin einzudämmen. Marina Hegering und Co. können von Glück reden, dass die 27-Jährige die einzige französische Offensivspielerin war, die an ihre bisherigen Turnierleistungen anknüpfen konnte.

Eine Ausnahme bildete die schon angesprochene Selma Bacha, die wie schon im Viertelfinale gegen die Niederlande für mächtig Schwung sorgte. Giulia Gwinn hatte eine Stunde lang gegen die seltsam mutlose Delphine Cascarino nichts anbrennen lassen. Als die erst 21-jährige Bacha ins Spiel kam häuften sich auch auf Deutschlands rechter Seite die Probleme. Wer weiß, wie die Begegnung ausgegangen wäre, wenn Frankreichs Trainerin Corinne Diacre mit Diani im Sturmzentrum begonnen und Bacha das Startelfmandat auf links erteilt hätte...

6. Deutschlands Innenverteidigung zeigt erste Schwächen

Marina Hegering und Kathrin Hendrich hatten im bisherigen Turnierverlauf kaum Schwächen offenbart. Gegen die Équipe Tricolore wirkten allerdings beide Innenverteidigerinnen nicht immer sattelfest. Hendrich verschuldete mit einem Fehlpass und ihrem zu inkonsequenten Zweikampfverhalten gegen Diani das 1:1, zudem ließ sich die Wolfsburgerin noch ein weiteres Mal von Diani düpieren (63.), hatte aber Glück, dass Bacha im Anschluss nicht genau genug zielte.

Hegering leistete sich ungewohnt viele Fehlpässe im Aufbauspiel. Ihr verheerender Rückpass in die Füße von Diani hätte um ein Haar das 1:2 bedeutet (67.). Die Abwehrchefin musste in der Schlussphase angeschlagen vom Platz, nachdem sie schon zuvor körperliche Probleme signalisiert hatte.

Im Finale muss die deutsche Abwehrzentrale zur Form aus der Gruppenphase und dem Viertelfinale zurückfinden. Ohne Hegering und Hendrich in Top-Verfassung wird es schwer, gegen die vom heimischen Publikum getragene und ohnehin schon Weltklasse besetzte englische Offensive zu bestehen.

7. Jule Brand als würdige Bühl-Vertreterin

Als Klara Bühls Halbfinal-Ausfall bekannt wurde, saß der Schock bei den deutschen Fans erst einmal tief. Die junge Münchnerin hatte bislang ein tolles Turnier gespielt und speziell in der Runde der letzten Acht gegen Österreich zu den besten Akteurinnen gezählt. Schnell war klar, dass die erst 19-Jährige Jule Brand den Platz ihrer zwei Jahre älteren Kollegin einnehmen würde. Brand hatte bisher als Jokerin agiert und einen vielversprechenden Eindruck hinterlassen. Aber würde die jüngste DFB-Kickerinnen dem Druck eines EM-Halbfinales standhalten?

Nach den 90 Minuten gegen Les Bleus lautet die Antwort: Ja, eindeutig. Die zukünftige Wolfsburgerin agierte in der Rückwärtsbewegung sehr diszipliniert und versuchte im Angriff ihre Schnelligkeit und Dribbelstärke einzubringen. Dass Brand gegen ein Top-Team wie Frankreich nicht alles gelang, versteht sich von selbst. Es drängte sich aber zu keinem Zeitpunkt der Verdacht auf, dass hier eine junge Spielerin mit der Größe der Aufgabe überfordert ist.

Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg wird gegen England nicht bange werden, wenn Bühl weiterhin nicht zur Verfügung und stattdessen erneut Brand von Beginn an auf dem Platz steht. Gegen Englands Linksverteidigerin Rachel Daley, die im Viertelfinale gegen Spanien einige Defizite offenbart hatte, könnte die dribbelstarke Brand eine womöglich noch bessere Figur abgeben als gegen Frankreichs Sakina Karchaoui.

Impressum des Publishers ansehen