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·10. November 2019
Rocco Kühn: „Sprintwerte wie Andy Möller, aber ’ne Ausdauer wie ming Oma!“

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·10. November 2019
Er setzte sich neben das Spielfeld und zog seine Stutzen aus. Er hatte noch einmal alles versucht, aber ein Tor war ihm nicht mehr vergönnt gewesen. Die kurzen Rufe der Trainer, das Keuchen der Akteure auf dem Feld, die Flüche nach einer verpassten Torchance, all dies drang kaum zu ihm durch. Er spürte die Wärme des Frühsommers, die sich an diesem 10. Juni 2012 wie ein Handtuch über den Platz gelegt hatte, mit dem Handrücken wischte er sich den Schweißfilm von seiner Stirn.
Einige Minuten zuvor hatte er eine Viertelstunde vor Ende des Spiels Deutz 05 gegen den Siegburger SV zum letzten Mal das Spielfeld als Aktiver verlassen. Die Spieler beider Mannschaften hatten ein Spalier gebildet, durch das er unter dem Beifall der Teams und der vielleicht 200 Zuschauer vom Platz gegangen war.
An der Außenlinie hatte einer seiner Mitspieler mit einem Holzbrett gewartet, das mit den Unterschriften des gesamten Teams versehen war, sowie mit einem Hammer und zwei Nägeln für seine Fußballschuhe. Die Trainer und Betreuer hatten ihn umarmt.
Diese Gesten hatten ihn berührt, in seinen Augenwinkeln hatte es verdächtig geschimmert. Er war einige Schritte weg von den Trainerbänken und Zuschauern gegangen und hatte sich diese Stelle gesucht. Er wollte einige Augenblicke allein sein, brauchte einen Moment der Ruhe. Trainer, Betreuer und Zuschauer konzentrierten sich derweil wieder auf das Spiel, das nach der Auswechselung wieder hin- und her wogte. Er kniff die Augen zusammen, die Sonne schien ihm ins Gesicht.
Ein Betreuer hatte ihm vorhin ein frisch gezapftes Glas Kölsch in die Hand gedrückt, das er nun gegen seine Schläfe hielt, um sie ein wenig zu kühlen. Er nahm einen großen Schluck, betrachtete danach das von der kalten Flüssigkeit beschlagene Glas. Seine Gedanken gingen weit zurück. Zu den Anfängen auf dem Bolzplatz in Dresden, zum ersten Oberligaspiel im alten Dynamo-Stadion, zu dem ihn sein ältester Bruder als Sechsjähriger mitgenommen hatte, zu seinem ersten Spiel in einem richtigen Fußballdress als Achtjähriger bei einem kleinen Dresdener Verein.
Er erinnerte sich, wie stolz er war, als er zum ersten Mal das Trikot mit dem großen „D“ auf der Brust überstreifen durfte oder als er vor seinem ersten Spiel für die deutsche Jugendnationalelf die Hymne hörte. Er dachte auch an die zwei Jahre beim 1. FC Köln, an das Auf und an das Ab dort und an die zahlreichen Amateurclubs im Umkreis dieser Millionenstadt, für die er die Fußballschuhe geschnürt hatte. Er blickte auf das Brett mit seinen aufgenagelten Schlappen. Das war‘s, dachte Rocco Kühn. Er nickte kaum merklich. Das war das Ende seiner Karriere.
Sieben Jahre später treffe ich Rocco Kühn in einem Café in Köln-Ehrenfeld. Es ist kurz nach Mittag, der Laden ist voll, ich kann mich glücklich preisen, noch einen freien Tisch ergattert zu haben. Fünf Minuten vor der verabredeten Zeit kommt Rocco Kühn. Er sieht athletisch aus, ist nicht besonders groß, sein fester Händedruck ist jedoch kraftvoll und vermittelt etwas Zupackendes. Im Gespräch entpuppt er sich als Freund klarer Worte, der lebendig von seiner Laufbahn als Fußballer in Ost und West erzählt, ohne irgendetwas zu beschönigen.
Gebürtig stammt Kühn aus Dresden. Seine Eltern wählen den in der ehemaligen DDR gar nicht so selten vorkommenden Vornamen Rocco, weil sie vom Film „Rocco und seine Brüder“ fasziniert sind. Der 1960 entstandene Spielfilm des italienischen Starregisseurs Luchino Visconti wird in Rocco Kühns Geburtsjahr 1976 im DFF, dem Staatsfernsehen der DDR, ausgestrahlt und trifft nicht zuletzt wegen der Darstellung des Rocco durch den jungen Alain Delon auf große Resonanz.
Mit seinen beiden älteren Brüdern sammelt er auf einem Bolzplatz erste Erfahrungen im Umgang mit dem runden Leder und stellt sich dabei im Laufe der Zeit so geschickt an, dass sie ihm zureden, sich einem Fußballverein anzuschließen. Die Betriebssportgemeinschaft (kurz: BSG) Sachsenwerk Dresden wird der erste Club, dessen Trikot der inzwischen achtjährige Rocco überzieht.
„Gott hat mir schnelle Füße gegeben, auch wusste ich recht bald, dass das Runde ins Eckige muss,“ sagt Kühn. „Ich wurde Stürmer, meine Welt war der Strafraum, und ich erzielte Tore.“ Die Tore summieren sich, sein Talent spricht sich herum, mit 10 Jahren kommt er ins Bezirksleistungszentrum Dresden-Ost und läuft von da an für die BSG Empor Tabak Dresden auf.
Hat er in seinem vorigen Verein zweimal pro Woche trainiert, muss er nun viermal in der Woche die Trainingsschuhe schnüren. „Wir haben uns vor allem in fußballspezifischen Fertigkeiten geübt,“ erzählt Kühn. „Ballbehandlung, Spielformen und Schusstechniken waren dabei die hauptsächlichen Trainingsinhalte. Der Ball stand immer im Mittelpunkt, Ausdauerläufe haben wir nie gemacht, auch später bei Dynamo Dresden nicht. Die Kondition holten wir uns in ballorientierten Übungsformen.“
Auch hier erzielt er Tore, viele Tore, wird in die Bezirksauswahl Dresden berufen und sticht mit seinen Leistungen so heraus, dass man ihn Anfang 1989 auf die Aufnahmeprüfung für die Deutsche Kinder- und Jugendsportschule Dresden vorbereitet. „Auch bei der Aufnahmeprüfung wurden in erster Linie fußballspezifische Anforderungen an uns gestellt,“ erinnert sich der frühere Dresdener. Aus der großen Zahl der Bewerber ist er einer von sieben Glücklichen, die die Prüfung bestehen und in diese Elitesportschule aufgenommen werden. Damit verbunden ist ein Wechsel zu Dynamo Dresden, seinem Herzensverein.
Dort gehört er nun der Altersklasse 13 an, was der jüngeren C-Jugend entspricht. Nach kurzer Zeit wird er zu einem Lehrgang eingeladen, in dem die besten Spieler der Kinder- und Jugendsportschulen des Landes getestet werden, um aus ihnen eine Vorauswahl für die künftige U15-Jugendnationalmannschaft der DDR zu treffen. Auch hier gehört Rocco Kühn zu den besten Jugendlichen. „In dem Augenblick wurde mir bewusst, dass, wenn ich jetzt nicht viel falsch mache, ich bald Jugendnationalspieler der DDR sein würde,“ sagt er.
Wenig später ist vieles nicht mehr so, wie es mal war. Die Mauer fällt, bald darauf hört die DDR auf zu existieren. Wie hat er die Wende als damals 13jähriger wahrgenommen? „Die Demonstrationen wurden damals in der Schule thematisiert, allerdings erst zu einem Zeitpunkt, als sie sich nicht mehr verheimlichen ließen,“ erinnert er sich. „Mein zweitältester Bruder versuchte vor dem Mauerfall, über Ungarn in die Bundesrepublik einzureisen, scheiterte jedoch und musste zurückkehren.“
Er hält einen Augenblick inne. „Das Leben ging irgendwie weiter; ein Gefühl von Leerlauf breitete sich aus. Das alte System war weg, das neue musste sich erst noch etablieren,“ berichtet Kühn. „Sportlich wussten wir natürlich auch nicht, wie es weitergehen sollte, eine Jugendnationalmannschaft der DDR gab es ja nicht mehr.“
Kurz vor seinem 15. Lebensjahr erhält er seinen ersten Vertrag bei Dynamo Dresden. „Das war natürlich ein tolles Gefühl, als Jugendlicher, der ja noch zur Schule ging, mit dem, was ich am liebsten tat, mein erstes Geld zu verdienen,“ räumt Kühn ein. Er wird in die Sachsenauswahl berufen; zu seinen Mitspielern dort gehören Michael Ballack, der damals beim Chemnitzer FC spielt, und Marco Rose, heute Trainer von Borussia Mönchengladbach.
Beim Länderpokal in Duisburg belegen die Sachsen 1991 unter den 15 Landesauswahlmannschaften den 2. Platz, was den vielen Talentspähern nicht entgeht, und so landet Rocco Kühn zum ersten Mal in den Notizbüchern des 1. FC Köln. Mit der B-Jugend von Dynamo Dresden gewinnt er 1992 die sächsische Landesmeisterschaft und nimmt an der Endrunde um die deutsche B-Junioren-Meisterschaft teil, scheitert dort jedoch im Achtelfinale am Karlsruher SC.
Der erste Jugendspieler hat Dynamo Dresden mittlerweile verlassen, Sören Holz, wie Kühn Jugendnationalspieler, geht zu Bayer Uerdingen. Rocco Kühn bleibt – noch.
Inzwischen ist Rocco Kühn auch in die U16-Nationalmannschaft des DFB berufen worden und absolviert in Budapest sein erstes Jugendländerspiel gegen Ungarn, bei dem er in der 2. Halbzeit eingewechselt wird; zwölf weitere Länderspiele werden folgen. Mit Dynamo Dresden nimmt er an internationalen Turnieren teil, so auch 1992 am Westerwälder Keramik-Cup in Wirges. In der Zwischenrunde wird der 1. FC Köln 2:1 besiegt, beide Tore erzielt Rocco Kühn.
Wenige Monate später meldet sich der Geißbockclub bei ihm. „Frank Schaefer kam zu uns nach Dresden und teilte uns das Interesse des Vereins an meiner Verpflichtung mit,“ erinnert sich der frühere Dresdener. „Er sagte uns, dass der FC mir die Chance geben wolle, mein Talent in den beiden Jahren in der A-Jugend und in einem anschließenden Jahr als Vertragsamateur unter Beweis zu stellen. Falls mir dies im erforderlichen Maße gelingen sollte, gäbe es eine Perspektive für den Profibereich.“
Rocco Kühn gerät ins Grübeln. Sicher, das Angebot, bei einem Top-Club der Bundesliga eine mögliche Perspektive zu erhalten, dort Profi zu werden, ist verlockend. Der junge Torjäger nutzt jede Gelegenheit, die Stars der Liga, zu denen inzwischen auch einige ehemalige DDR-Nationalspieler gehören, im Fernsehen zu bewundern. Das ist sein Traum, die große Welt des Fußballs.
Doch Dresden ist seine Heimatstadt, Dynamo sein Heimatclub, sein Herzensverein, dessen Trikot er inzwischen in weit über 100 Spielen übergestreift hat. Unzählige Male hat er bei Oberligaspielen selber in der Fankurve gestanden, um seine Schwarz-Gelben anzufeuern, hat mitgefiebert, mitgelitten, mitgejubelt. Zudem stammt sein Vorbild aus dem Verein. Ulf Kirsten ist eine Dynamo-Ikone, verhalf dem Club mit seinen Toren zu jeweils zwei Meisterschaften und Pokalerfolgen, wurde 1990 zum Sportler des Jahres gewählt.
„Er war Mittelstürmer wie ich,“ sagt der frühere Auswahlspieler. „Athletisch und von Verteidigern kaum zu fassen, hat er Fußball „gearbeitet“ und in der Offensive gewuselt, war ausgesprochen lauffreudig, was mir völlig abging.“ Trotz seiner für einen Mittelstürmer recht geringen Körpergröße von 175 cm war Kirsten ein gefürchteter Kopfballspieler. „Hier zahlte sich das Training bei Dynamo aus“, erläutert Kühn. „Im Kopfballtraining gab es 15, 20 Flanken von links, die gleiche Anzahl von rechts und dazu noch 15, 20 Bälle von hinter dem Tor auf den Elfmeterpunkt, immer und immer wieder.“
Ich schaue Rocco Kühn an, er scheint meine Gedanken zu erahnen. „Ich selber bin sogar noch drei Zentimeter kleiner als Ulf Kirsten, habe aber in meiner Laufbahn nicht wenige Tore mit dem Kopf erzielt,“ sagt er. „Das ist die alte Dynamo-Schule, den Körper spannen wie einen Flitzebogen, zur richtigen Zeit abspringen und den Ball stets im Blick haben beim Kopfball.“
In Dresden bleiben, nach Köln gehen? Er wägt Vor- und Nachteile ab, geht alle Gesichtspunkte noch einmal durch. Der 1. FC Köln ist eine Topadresse in der „stärksten Liga der Welt“, der Verein rangiert regelmäßig im oberen Tabellendrittel, in der Spitzengruppe, da, wo Dynamo erst noch hin will. Und hat nicht auch Ulf Kirsten Dresden verlassen und schießt nun seine Tore für Bayer Leverkusen? Rocco Kühn entscheidet sich schließlich für den Wechsel. Er ruft Frank Schaefer an und gibt ihm sein Wort.
Wenig später erhält er ein Angebot vom VfB Leipzig. Der Club steht kurz vor dem Aufstieg in die erste Bundesliga. Das Angebot ist gut, von Leipzig sind es nur 120 Kilometer bis nach Dresden, von Dresden nach Köln sind es weit über 500. Er könnte von Leipzig aus einmal pro Woche nach Hause fahren, bliebe in Sachsen, dort, wo er sich auskennt. Sein Entschluss, nach Köln zu gehen, gerät kurzzeitig ins Wanken.
Frank Schaefer erfährt von dem Leipziger Angebot und fährt nach Dresden. Im Gepäck hat er einen unterschriftsreifen Dreijahresvertrag, der dem Spieler neben seinen Bezügen auch die Vermittlung einer Lehrstelle sowie freie Kost und Logis zusichert und Dynamo Dresden eine Ablöse von 30 000 DM. Das Kölner Angebot ist gut, Schaefers Argumente überzeugen, Rocco Kühn unterschreibt.
Vor seinem Wechsel an den Rhein nimmt er mit Dynamo Dresden wie im Vorjahr an der Endrunde um die deutsche B-Juniorenmeisterschaft teil und erreicht dort mit seiner Mannschaft nach Siegen gegen den Kehler FV, Bayern München und die SpVgg Andernach das Halbfinale, wo der FC Carl Zeiss Jena mit Robert Enke im Tor die Finalträume der Dresdener beendet.
Rocco Kühn ist noch keine 17, als er im Sommer 1993 in die Millionenstadt am Rhein übersiedelt, weg von seiner Familie in Dresden, weg von seinen Freunden und den Mannschaftskameraden bei Dynamo. Er zieht ins Jugendhaus des 1. FC Köln in Hürth-Efferen, das von der Familie Ostmann geführt wird. Dort trifft er auf weitere auswärtige Spieler, Sven Fischer und Hagen Brinkmann, Jugendnationalspieler wie er, und auf Udo Kirst aus dem älteren A-Jugendjahrgang.
Seine neue Mannschaft lernt er im Trainingslager in Olpe kennen, in dem Trainer Frank Schaefer die älteste Nachwuchsmannschaft des FC auf die neue Saison vorbereitet. Ein immer wiederkehrender Bestandteil des Trainings sind Ausdauerläufe, von vielen gehasst, für Rocco Kühn gänzlich unbekannt. „In Olpe wurde ich zum ersten Mal in meiner Karriere nach der Schuhgröße meiner Laufschuhe gefragt,“ erinnert er sich. „Diese Läufe über fünf oder gar zehn Kilometer standen bei Dynamo nicht auf dem Programm, auch nicht in der Saisonvorbereitung.“
Neu ist für den Neuzugang aus Dresden auch der Cooper-Test, ein zwölfminütiger Lauf, der der Überprüfung der allgemeinen Ausdauer dient und bei dem der Sportler sein Tempo einschätzen können muss, um nicht zu früh zu viel Laktat aufzustauen und in den anaeroben Bereich zu kommen, aber auch nicht zu langsam zu laufen. „Ich kam dabei nicht über die Stufe 3 hinaus, was für einen Leistungssportler ganz und gar kein gutes Ergebnis ist,“ erläutert der frühere Torjäger.
Ein Jahr später, bei der Vorbereitung auf die Saison 1994/95, nimmt Frank Schaefer Rocco Kühn zur Seite. „Er sagte: ‚Rocco, ich weiß einfach nicht, was ich mit Dir anfangen soll. Du hast Sprintwerte wie Andy Möller und ’ne Ausdauer wie ming Oma!’“ Der ehemalige Dresdener bringt zu seiner Verteidigung vor, dass er eine Menge Tore schießt. Rocco Kühn erinnert sich: „’Das stimmt‘, bestätigte Frank Schaefer. Und dann sagte er einen Satz, den ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde: ‚Rocco, wenn Du richtig fit bist, gibt es in Deinem Jahrgang keinen Verteidiger in Deutschland, der dich halten kann!‘ Das war ein Ritterschlag von einem Trainer, der den Nachwuchsfußball in Deutschland kannte wie kein Zweiter!“
Wie vereinbart hat der FC ihm eine Lehrstelle besorgt, die Zimmerei Meyer in Köln Rondorf wird für die nächsten drei Jahre seine berufliche Ausbildungsstätte. Sportlich läuft es in seiner ersten Saison beim Geißbockclub gut, mit seinen Toren trägt Rocco Kühn zum Gewinn des Mittelrheinpokals bei, der zur Teilnahme an der Endrunde um den DFB-A-Junioren-Vereinspokal berechtigt. In der ersten Runde erzielt Kühn zwei Tore zum 5:0-Auswärtssieg beim Magdeburger SV, im Viertelfinale gelingt ein 3:0-Sieg gegen den Wuppertaler SV, bevor im Halbfinale ein Elfmeterschießen gegen die SF Oestrich-Iserlohn notwendig wird, um ins Finale einzuziehen.
Rocco Kühn verwandelt seinen Elfmeter sicher, er ist der Elfmeterschütze Nummer eins, was auch wieder auf seine Ausbildung bei Dynamo Dresden zurückzuführen ist. „Wir hatten bei Dynamo eine Torwand, die in sechs Segmente unterteilt war,“ erklärt er. „Teil des Trainings, bisweilen auch des Aufwärmprogramms war es, nach Ansage das betreffende Segment, also zum Beispiel links unten, rechts oben oder Mitte unten aus einer Entfernung von 10 bis 15 Metern zu treffen. Die beständige Übung machte mich schließlich zu einem ausgesprochen sicheren Elfmeterschützen.“
Im Endspiel tritt Schaefers Team beim FC Augsburg an. Die 2:0-Führung der Schwaben hat bis zwei Minuten vor Schluss Bestand, als den Kölnern ein Foulelfmeter zugesprochen wird. Rocco Kühn verwandelt sicher und verkürzt auf 1:2, doch die Augsburger retten den Vorsprung über die Zeit. „Augsburg war einfach besser“, erinnert sich der frühere Dresdener. „Noch in der Kabine wurden deren beiden besten Spieler, Christian Krzyzanowski und Ilhan Mansiz, der später seine erfolgreichste Zeit bei Besiktas Istanbul hatte und 21 A-Länderspiele für die Türkei absolvierte, vom FC verpflichtet.“
Kühns Leistungen bleiben auch beim DFB nicht unbemerkt, und so beruft ihn Rainer Bonhof wiederholt in die U18-Nationalelf. Sein Mannschaftskamerad aus der Sachsenauswahl, Michael Ballack, gehört nicht zum Kader der DFB-Auswahl. „Ballack spielte damals beim Chemnitzer FC und gehörte weiterhin der Sachsenauswahl an, wurde jedoch vom DFB nie zur Jugendnationalelf berufen, sondern durfte erst in der U21 das Nationaltrikot überstreifen und wurde danach zum Weltstar“, berichtet Kühn.
„Einen vergleichbaren Fall hatten wir beim FC. In der A-Jugend waren wir damals gespickt mit Jugendnationalspielern, außer mir unter anderem Hagen Brinkmann, Marco Weller oder Sven Fischer, um nur einige zu nennen. Der einzige Spieler, der es nachhaltig in den Profibereich geschafft hat, war Alex Voigt, und der hat nie für eine Jugendnationalelf gespielt.“
Vor der Saison 1994/95 porträtiert der Express fünf Nachwuchshoffnungen des FC auf der Hauptseite seines Sportteils. Carsten Jancker und Pablo Thiam werden aufgeführt, Sven Fischer und Hagen Brinkmann – und Rocco Kühn.
Er gehört nun zum älteren A-Jugendjahrgang. Vieles ist ihm inzwischen vertraut, er hat sich an die anstrengende Arbeit als Lehrling in der Zimmerei Meyer gewöhnt und auch an die Ausdauereinheiten im Training, die ihn im letzten Jahr immens geschlaucht hatten. Die körperliche Beanspruchung bis hin zur Erschöpfung hatte in der vorigen Saison etwas überdecken können, was ihm nun immer stärker bewusst wird. In Köln hat er Mannschaftskameraden, Mitbewohner und Arbeitskollegen, aber er hat keine wirklichen Freunde. Er ist sportlich erfolgreich, Jugendnationalspieler, in einem Jahr winkt ihm möglicherweise einen Profivertrag, doch ein Gefühl ergreift immer mehr Besitz von ihm, das Gefühl von Einsamkeit.
Seine Familie und die Freunde aus Dresdener Zeiten sind weit weg. Die Mitbewohner des Jugendhauses und auch die anderen Mitspieler in der A-Jugend des FC gehen noch zur Schule und haben dort ihre Freunde gefunden, treffen sich mit ihren Cliquen. Rocco Kühn verbringt die Samstagabende alleine in seinem Zimmer vor dem Fernseher, schaut die Sportschau und das Sportstudio und trinkt dazu ein, zwei Flaschen Kölsch. Die leeren Flaschen stapeln sich in seinem Schrank, er vergisst einfach, sie zu entsorgen.
Sonntagsvormittags, während die A-Jugend ihre Meisterschaftsspiele austrägt, putzt Frau Ostmann die Zimmer der vier Nachwuchsspieler, so auch Kühns Zimmer. Dabei stößt sie zu Beginn des Jahres 1995 versehentlich an seinen Schrank und hört ein klirrendes Geräusch. Sie schaut nach, findet die leeren Bierflaschen und informiert Frank Schaefer über den offensichtlichen Verstoß gegen das im Jugendhaus bestehende strikte Alkoholverbot.
„Frank Schaefer sprach mich darauf an,“ erinnert sich Kühn. „Ich versuchte ihm den Sachverhalt zu erklären, allerdings ohne Erfolg. Ich wurde zu den 2. Amateuren des FC geschickt, die damals unter Trainer Georg Winkelhoch in der Bezirksliga spielte, und musste dort trainieren und spielen.“ Der junge Torjäger ist am Boden zerstört, bezieht aber etwas Hoffnung aus der Tatsache, dass der Verein dem DFB nichts von dem Vorfall mitteilt. Rocco Kühn wird weiter zur deutschen U18-Nationalelf eingeladen, die Anfang 1995 zu einem Dreiländerturnier nach Namibia eingeladen wird.
„Auf diese Weise kam ich zum ersten Mal in meinem Leben nach Afrika,“ erzählt der frühere Dynamo-Spieler. „Wir flogen von Frankfurt los bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und stiegen in Windhoek bei 40 Grad im Schatten aus dem Flugzeug. Uns wurde dort wirklich viel geboten. Ein Empfang durch den deutschen Botschafter und sogar eine unvergessliche Safari in die Kalahari standen auf dem Programm.“
Nach Hause zurückgekehrt, wird Rocco Kühn der bizarre Charakter seiner Situation bewusst. Vor wenigen Tagen in der Mannschaft der elf besten A-Jugendlichen seines Jahrgangs auflaufend und als Jugendnationalspieler willkommener Gast der deutschen Botschaft, spielt er nun weiter für die 2. Amateure des 1. FC Köln – auf den Aschenplätzen der Bezirksliga.
Er schießt auch dort seine Tore wie auch für die deutsche U18-Nationalelf, an seinem Status beim Geißbockclub ändert sich jedoch nichts. Das große Stürmertalent gehört einfach nicht mehr dazu. „Ich kann verstehen, dass Frank Schaefer als verantwortlicher Trainer der A-Jugend auf meinen Verstoß gegen die Regel des Jugendhauses reagieren musste,“ räumt er ein. „Ich hatte allerdings gehofft, dass man einem jungen Spieler wie mir vom Verein wieder eine Chance geben würde, da ich weiterhin meine Tore schoss und ordentliche Leistungen zeigte.“
Eigentlich hat er noch ein Jahr Vertrag beim FC, aber Rocco Kühn merkt, dass sein Weg beim FC zu Ende ist und fordert das ihm zustehende letzte Vertragsjahr nicht ein. Er absolviert bis Ende 1995 noch einige Spiele für die 2. Amateure, seine Gedanken kreisen aber nicht mehr in erster Linie um den Fußball.
Seine Jugendfreundin ist inzwischen nach Köln gezogen, nach einiger Zeit kündigt sich Nachwuchs an. „Da bekam ich ein Angebot vom VFB Leipzig, der mittlerweile in der 2. Liga spielte“, erzählt der frühere Dresdener. „Da war sie doch, die Chance, Profi zu werden; allerdings hätte ich bei einem Wechsel meine Lehre abbrechen müssen. Ich musste mich entscheiden, sollte ich alles auf die Karte Fußball setzen oder die Berufsausbildung zu Ende bringen und einen ‚ordentlichen‘ Beruf ergreifen? In einigen Monaten würde ich meine junge Familie ernähren müssen. Ich sagte Leipzig ab.“
Er tut dies, schweren Herzens zwar, schlussendlich aber mit Überzeugung und aus Verantwortung Mutter und Kind gegenüber. 1996 kommt die Tochter Marie zur Welt, Rocco Kühn ist gerade 20 geworden. Er schließt seine Lehre zum Zimmermann erfolgreich ab, Beruf und Familie füllen Rocco Kühns Leben so aus, dass der Fußball darin zunächst keinen Platz mehr findet.
1997 bekommt er ein Angebot des PSI Yurdumspor Köln, einem aufstrebenden Bezirksligisten, der einiges Geld in die Hand nimmt, um möglichst bald höherklassig zu spielen. Der Aufstieg gelingt, in der darauffolgenden Saison in der Landesliga erzielt Rocco Kühn 35 Tore.
„Danach konnte ich mir die Vereine im Kölner Amateurbereich aussuchen,“ erzählt der frühere Torjäger. Auch ein Profiverein zeigt Interesse, der türkische Erstligist Antalyaspor, zu dem die Verantwortlichen von Yurdumspor gute Kontakte haben. Rocco Kühn winkt ab. Seine junge Familie hat sich gerade in Köln eingelebt, der Wechsel in die Türkei wäre da kontraproduktiv.
Stattdessen wechselt er zum SC West Köln. „Der Verein war damals gerade in die Verbandsliga aufgestiegen und hatte noch einmal eine Menge Geld investiert, um den erneuten Aufstieg, diesmal in die Oberliga Nordrhein zu schaffen.“ Rocco Kühn trifft hier auf ehemalige Mannschaftskameraden vom 1. FC Köln wie Christoph Fleck, Sascha Bauer, Volker Ahrens und Klaus Voike und auf Dirk Hebel, heute mit Volker Struth Geschäftsführer von SportsTotal, der größten Spielerberatungs-Agentur im deutschsprachigen Raum. „Das war eine Truppe, die von den Einzelspielern mit zum Besten gehörte, was es im Kölner Amateurfußball damals gab,“ erinnert sich Kühn.
Doch die Mannschaft startet schlecht, findet sich gar im Tabellenkeller wieder; Mike Reinartz, der Trainer, der ihn zum SC West geholt hat, wird in der laufenden Saison durch Harald Konopka, Mitglied des Double-Teams des 1. FC Köln, abgelöst, jedoch auch er kann den Abstieg nicht verhindern. Viele Spieler verlassen den Verein, Rocco Kühn aber bleibt. Der SC West kann sich in der nächsten Saison auch dank Trainer Joti Stamatopoulos wieder stabilisieren, der später unter anderem den griechischen Erstligisten Panionos Athen trainiert und von 2001 bis 2006 als „Hausmeister Joti“ im DSF-Fußball-Jugendmagazin Fujuma Fußballtricks erklärt.
Inzwischen ist Kühns zweite Tochter, Nora, auf die Welt gekommen. Um der mittlerweile vierköpfigen Familie größere finanzielle Sicherheit zu verschaffen, hat sich der frühere Dresdener beruflich umorientiert und eine Ausbildung bei der Berufsfeuerwehr begonnen, mit der Perspektive, städtischer Beamter zu werden. Die Belastung durch die auch körperlich anspruchsvolle Ausbildung, durch Training und Wettkampf wird für den jungen Familienvater auf die Dauer zu viel. Zum Saisonende verlässt Rocco Kühn daher den Verein und nimmt seinen vorläufigen Abschied vom Fußball.
Für den früheren FCler vergehen einige Jahre ohne Fußball, bevor er 2005 einen Anruf von Mike Reinartz, seinem ehemaligen Trainer beim SC West bekommt, der inzwischen den B-Ligisten VFL Sürth trainiert. „Er fragte mich, ob ich nicht wieder Lust hätte, ein bißchen zu kicken,“ erzählt Kühn. Der frühere Jugendnationalspieler verhilft den Sürthern zum Aufstieg in die Kreisliga A, bevor er seinem Trainer zu Beginn der Saison 2006/07 zum Landesligisten RSV Urbach folgt.
Dort bleibt der Erfolg allerdings aus, der Verein ist zudem knapp bei Kasse. „Ich war einer der Besserverdiener in der Mannschaft,“ erinnert sich Kühn. „Kurz vor Weihnachten bekam ich einen Anruf vom Club, in dem mir gesagt wurde, dass man mir so viel Geld nicht mehr bezahlen wolle, ich könne deshalb den Verein verlassen.“ Er hört zum zweiten Mal mit dem Fußball auf.
Nach nur einem Jahr juckt es ihn allerdings wieder in den Füßen. Die Kölner Trainerlegende Kurt Maus, sein ehemaliger Trainer bei Yurdumspor, holt ihn zum FC Pesch, der in der Landesliga in arge Abstiegsnöte geraten ist. Auch Rocco Kühn kann den Abstieg in die Bezirksliga nicht verhindern, ihm gefällt es jedoch im Verein. Zur Saison 2008/09 übernimmt Karl Slickers das Traineramt und baut mit wenigen älteren Spielern und vielen jungen Spielern eine neue Mannschaft auf. In der darauffolgenden Saison liegen die Pescher zur Winterpause klar auf Aufstiegskurs, wozu Rocco Kühn mit seinen 19 bis dahin erzielten Toren nicht unwesentlich beigetragen hat.
Die Fahrten quer durch Köln von seinem Wohnort Deutz nach Pesch, die Anstrengungen von Training, Wettkampf und Beruf zehren an seinen Kräften, und so beschließt er, zum Winter 2009 die Fußballschuhe endgültig an den Nagel zu hängen. „Irgendwie hat aber Deutz 05 eine Nase daran bekommen,“ berichtet er. „Sie haben mir ein gutes Angebot gemacht, zudem konnte ich die kurze Strecke zum Training nun mit dem Fahrrad zurücklegen.“ Er informiert den FC Pesch über das Deutzer Angebot, der Verein lässt ihn schweren Herzens zum Ligakonkurrenten ziehen. „Die Verantwortlichen in Pesch haben sich dabei absolut top mir gegenüber verhalten,“ betont Kühn.
In seinem letzten Spiel für den FC Pesch trifft er ausgerechnet auf Deutz 05. Seine Mannschaftskameraden sind über den Wechsel informiert. „Wir vereinbarten eine besondere Jubelzeremonie für den Fall, dass ich ein Tor erzielen würde,“ erinnert sich Kühn. Gesagt, getan, wenige Minuten vor Schluss erzielt er den Siegtreffer. „Ich bin zur Eckfahne gerannt, habe mich als erster hingesetzt und den ‚Busfahrer‘ gemacht mit der gesamten Mannschaft als ‚Fahrgäste‘ dahinter,“ schmunzelt er noch heute.
In der zweiten Saisonhälfte geht er für Deutz auf Torejagd, einem Verein mit familiärer Atmosphäre, bei dem er sich sehr wohl fühlt und mit Stefan Oventrop auf einen ehemaligen FCler trifft. In der Saison 2010/11 gelingt Deutz 05 unter Trainer Raphael Gilberg sogar der Aufstieg in die Landesliga. Rocco Kühn ist mit seinen 35 Jahren inzwischen der „Alte“, dessen Erfahrung und Können im Kampf um den Klassenerhalt in der Saison 2011/12 wichtig sind, der aber auch merkt, dass es ihm immer schwerer fällt, der Schnelligkeit junger Abwehrspieler Paroli bieten zu können.
Er beschließt am Ende der Saison aufzuhören. Im letzten Saisonspiel trifft er mit den Deutzern auf den Siegburger SV. „Deren Trainer war Markus Korek, mit dem ich in der A-Jugend des FC zusammengespielt habe,“ erinnert er sich. „Damit schloss sich der Kreis von meinen Anfängen als 16jähriger beim 1. FC Köln bis hin zum Abschied in Deutz.“
Er sagt Lebewohl zum Vereinsfußball, für die Berufsfeuerwehr jagt er aber noch ein bißchen länger dem runden Leder hinterher. „Es gibt eine deutsche Nationalelf der Berufsfeuerwehr“, erläutert er. „Für diese Mannschaft habe ich 2004 mein erstes Spiel bestritten und bin zweimal Europameister geworden.“ Er trinkt an seinem Kaffee. „2005 fand die Endrunde im irischen Cork statt. Im Endspiel besiegten wir dort England nach Elfmeterschießen, 2009 war Rotterdam der Austragungsort, und auch im Finale dort war wieder England unser Gegner; wir gewannen erneut im Elfmeterschießen, wobei es mir vergönnt war, den entscheidenden Strafstoß zu verwandeln.“
Bis 2013 läuft er für dieses Team auf, das aus Feuerwehrleuten besteht, die von der Bezirksliga bis zur Regionalliga Fußball spielen bzw. gespielt haben. Dann ist auch dort endgültig Schluss.
Wie sieht die Bilanz seiner Fußballkarriere aus? „Ich habe durch den Fußball viele Menschen kennengelernt und mit tollen Jungs zusammen gekickt,“ sagt er. „Die Länder, die ich durch den Sport bereisen durfte, die Spiele in der DFB-Auswahl, die Erfahrung, bei einem großen Club wie dem 1. FC Köln gespielt zu haben, all dies kann mir niemand nehmen.“
Rocco Kühn zog einst aus, um sich im Westen den Traum, Profi zu werden, zu erfüllen. Dass ihm dies nicht vergönnt gewesen ist, geschah nicht ganz ohne sein Zutun. Aber, wie es scheint, hat er seinen Frieden geschlossen damit. Mittlerweile ist er heimisch geworden in Köln; hier hat er seinen Freundeskreis, arbeitet in einem abwechslungsreichen wie verantwortungsvollen Beruf. „Ich bin gelassener geworden,“ sagt er und lächelt.
Entscheidenden Anteil daran hat wohl sein privates Glück, das er in der Millionenstadt am Rhein gefunden hat, bei seiner zweiten Frau Stefanie, einer Urkölnerin, und ihrer gemeinsamen Tochter Emma, die seit ihrer Geburt vor vier Jahren Mitglied beim 1. FC Köln ist und die schon mehrmals den Wunsch geäußert hat, mit ihren Eltern ein Heimspiel des FC zu besuchen.
Die Atmosphäre im RheinEnergieStadion wird Emma gefallen, die vielen kölschen Lieder, die Anfeuerung durch die Fans; vielleicht ist ihr auch das Glück beschieden, ein gutes Spiel des FC zu sehen. Nur, wenn Stadionsprecher Michael Trippel die Zuschauer mit den Worten „Willkommen in der schönsten Stadt Deutschlands“ begrüßt, wird sie ein leichtes Kopfschütteln ihres Vaters feststellen. Die schönste Stadt Deutschlands – für Rocco Kühn ist dies Dresden und wird es immer bleiben.