FC Schalke 04
·8. Mai 2023
Norbert Nigbur wird 75: Flugshow

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·8. Mai 2023
Der Parade – und davon gab es reichlich in Norbert Nigburs Karriere – folgte in der Regel die mehrfache Seitwärts-Rolle, an der sich alleine schon die Geister schieden: „Pure Show“, rümpften Fußballpuristen entsetzt die Nase, während Schalkes Jahrhunderttorwart stets argumentierte, dass er sich so vor Verletzungen habe schützen wollen. Am 8. Mai feiert der einstige Keeper seinen 75. Geburtstag.
Norbert Nigbur ist stets aufrecht durchs aufregende Leben gegangen. Die vergangenen Monate aber musste Schalkes Jahrhundert-Keeper an seiner Haltung arbeiten: die Hüfte, lädiert nach einem Unfall mit Pferd, bei dem er „im hohen Bogen geflogen“ ist, wie er im Gespräch lebhaft skizziert. Dem schlossen sich negative Diagnosen an. Verkürztes Bein und Arthrose in der Hüfte, dazu Operationsaufschub, weil die Krankenhausbetten während der Pandemie komplett belegt waren.
Nun aber, nach OP und erfolgreicher Reha, bleibt Ruhestand ein Fremdwort – auch zum 75. Geburtstag, den er im Urlaub zelebriert. „Einfach mal wegfliegen, die Feier kann man immer noch nachholen“, erklärt die Schalker Kultfigur. Ihn umgibt die Aura des Unnahbaren, irgendwie gilt er als schwieriger Typ, in den „wilden Siebzigern“ hat der herausragende Torhüter den Ruf des Paradiesvogels. Versuchen wir, uns dem Unnahbaren, der er in Wahrheit gar nicht ist, zu nähern. Mit siebeneinhalb Kapiteln, die es für Norbert Nigbur zu parieren gilt …
Nigbur atmet durch. Er kennt die Schublade, in der er steckt: „Und wenn dieses Klischee einmal über jemanden existiert, dann kannst du machen, was du willst: Du kommst da nicht mehr raus.“ Natürlich hat er auch ein wenig dazu beigetragen. In den Siebzigerjahren fällt er nicht nur durch ausgezeichnete Leistungen auf, sondern auch durch unkonventionelle Frisuren und schrille Torwartoutfits. Typen wie er machen die Bundesliga schon damals bunter, werden aber noch skeptisch beäugt. Ähnlich sieht es mit der freien Meinungsäußerung aus: „Heute würde man mich dafür als Führungsspieler, als Persönlichkeit, als starken Typen feiern. Damals wurde es am liebsten gesehen, wenn man den Mund gehalten hat.“
Nigbur sagt seine Meinung, eckt auch manchmal an, über allem steht aber die Leistung, und die ist meist herausragend. Als er Anfang der Siebziger trotzdem nur für die B-Nationalmannschaft berufen wird, tauchen plötzlich Gerüchte auf, er würde seinen Einsatz dort boykottieren. „Dabei war das völliger Quatsch“, wehrt er ab. „Ich habe das weder geäußert noch vorgehabt. Und mit Bundestrainer Helmut Schön war nach einem klärenden Gespräch alles in Ordnung. Aber in der Öffentlichkeit hatte ich den Ruf des Aufmüpfigen weg.“ Ist Nigbur während seiner Karriere ein extrovertierter Typ, dessen Privatleben reichlich Stoff für den Boulevard liefert, zieht er sich danach vom großen Fußball zurück. Er hat nicht das Bedürfnis, zu allem seinen Senf beizumischen. In einer Branche mit stetig aufwärts gewandter Aufgeregtheitsspirale lässt ihn das als unnahbar erscheinen. Dass über diverse Aktivitäten in der Zeit nach seiner Profilaufbahn oft genug der Kopf über ihn geschüttelt wird, lässt ihn kalt: „Ich bin mit meiner Karriere im Reinen!“
Wer die Karriere Norbert Nigburs durchleuchtet, landet irgendwann bei Sepp Maier. Der vier Jahre ältere Keeper des FC Bayern München stand dem Schalker Torhüter bei der großen internationalen Karriere im Weg. „Natürlich war der Sepp ein Weltklasse-Torwart, keine Frage“, lobt Nigbur. Aber er bleibt der Meinung, in der Nationalmannschaft vielleicht ähnlich gute Karten gehabt zu haben, wenn er selbst bei den Bayern unter Vertrag gestanden hätte. Er trägt es mit Fassung: „Ich konnte ja nicht mehr machen, als meine Leistung zu bringen. Und das habe ich auf Schalke und auch in den drei Jahren bei Hertha gemacht.“ Vereine, in denen man nicht automatisch Kandidat für die Nationalmannschaft war.
Erst recht nicht, nachdem sich auf das Verhältnis zwischen S04 und DFB ein langer, bleischwerer Schatten gelegt hat. Der Bundesliga-Skandal beeinflusst schließlich auch Nigburs Karriere, obwohl er nicht daran beteiligt ist. Der Torhüter sitzt in der Glückauf-Kampfbahn verletzt auf der Tribüne, als viele seiner Kollegen beim 0:1 gegen Arminia Bielefeld mit angezogener Handbremse spielen: „Das kam mir schon komisch vor, aber dass es Schiebung war, kommt einem ja nicht in den Sinn.“ Nigbur ist nicht eingeweiht, die Wahrheit kommt erst später stückchenweise ans Licht. Die Mannschaftskollegen, mit denen Nigbur beinahe täglich trainiert, schwitzt, am Wochenende gewinnt oder verliert, haben ein übles Spiel gespielt. „Sie haben ja nicht nur sich um eine größere Karriere gebracht“, betont Nigbur, an dem der Skandal noch heute nagt. „Das war damals eine so wunderbare Mannschaft, die ja erst am Anfang ihrer Entwicklung stand. Mit der wäre noch so viel möglich gewesen – auch die Deutsche Meisterschaft.“ Das Thema treibt ihn um, er hat sogar hochgerechnet, dass die Vize-Meister- und Pokalsiegermannschaft von 1972 umgerechnet so viele Punkte geholt hat, dass es damit in der Bundesliga-Geschichte schon mehrmals zu Meisterschaften gereicht hätte. Nigbur ist noch immer enttäuscht, über entgangene Karrierechancen und irgendwie auch über die Kollegen: „Als Torhüter bist du natürlich immer auch Einzelkämpfer, aber du fühlst dich doch als Teil der Truppe. Es tut dann schon weh, wenn solche Sachen hinter deinem Rücken passieren.“ Hat sich von den damaligen Mitspielern jemals jemand bei Nigbur entschuldigt? „Nein. Ich habe auch nicht erwartet, dass nun jeder förmlich mit Handschlag zu mir kommt. Aber ich hätte durchaus gerne mal erfahren, warum die Jungs das gemacht haben.“
„Talent ist gut und schön“, findet er, „aber mir hat das nie gereicht. Ich wollte immer noch ein Stückchen besser werden.“ Gegentore sind der beste Antrieb: „Wenn mir einer den Ball aus fünf Metern in den Winkel geschossen hat, und alle haben mir auf die Schulter geklopft und gesagt, der sei unhaltbar gewesen, habe ich mir gedacht: Nein, auch so ein Ball muss doch irgendwie zu halten sein.“ Nigbur arbeitet ständig an seinem Können, die Methoden sind damals in der Bundesliga noch nicht üblich. Autogenes Training, Blicke hinüber auf andere Sportarten: „Die wenigsten wissen, dass ich bei GW Heßler auch mal kurz im Handballtor gestanden habe. Alleine das hat mich als Torwart unheimlich weitergebracht.“ Tischtennis, Leichtathletik – Nigbur saugt alles auf, was Reaktionsschnelligkeit und Sprungvermögen verbessern könnten. Auch die Augen werden „trainiert“: „Ein Facharzt hat mal zu mir gesagt: ,Es sieht fast so aus, als könnten Sie um die Ecke gucken.‘“ Nigbur glaubt, dass ihn besonders diese Fähigkeiten zum Elfmetertöter gemacht haben. Sein Meisterstück liefert er im Pokal-Halbfinale 1972 ab: Im legendären Rückspiel gegen den 1. FC Köln hält er drei Elfmeter, einen verwandelt er selbst. „Ich habe mich nicht einfach in eine Ecke geschmissen und gehofft, dass der Ball dahinfliegt. Sondern ich habe immer versucht, auf die Schussbewegung des Schützen zu reagieren. Und es hat oft funktioniert. Aber manchmal lag ich natürlich auch daneben …“
Nigbur ist nicht nur ein Top-Torwart, er erkennt auch, dass Fußball Show ist. Als er zwei Schallplatten aufnimmt, glauben viele, die ihn ohnehin für ein Großmaul halten, dass er nun komplett die Bodenhaftung verlieren würde. Die wenigsten wissen, dass die Einnahmen seiner Gesangseinlage an die Deutsche Krebshilfe gehen. Wie auch immer: Typen wie Nigbur sind Personen des öffentlichen Lebens. Die zwei Scheidungen des Nationaltorhüters und Weltmeisters bleiben nicht privat. „Bunte, Stern, Bild – ich weiß gar nicht, wer da noch alles drüber berichtet hat.“ Heute kann Nigbur fast schon wieder darüber schmunzeln. Doch damals war die Sache ernst. Sie zehrte nicht nur am Geldbeutel, sondern auch an der Psyche: „Man kann ganz klar sehen: Wenn die Scheidungen auf dem Höhepunkt ankamen, war ich leistungsmäßig am Tiefpunkt. Mich hat das ungeheuer belastet.“ Es ist ruhiger geworden in seinem Leben: Seit September 1992 ist er mit Michaela verheiratet. Das Privatleben ist wieder privat.
Das Argument „Ich war jung und brauchte das Geld“, es zählt nicht. Finanziell steht Norbert Nigbur nach dem Karriereende 1985 gut da. Er besitzt mehrere Immobilien, „außerdem gehörte ich auf Schalke und bei der Hertha zu den Spitzenverdienern, da ist schon was hängen geblieben“. Abwärts geht es, im Wortsinn, sportlich. In der Kreisliga B trainiert er zunächst den FC Luthenburg, dann FC Istanbulspor. Bei allem Respekt vor diesen Clubs erwartet man dort nicht unbedingt einen Weltmeister – doch Nigbur ist es gleichgültig, dass ganz Gelsenkirchen über seine Aktivitäten, höflich formuliert, staunt. „Das war mir völlig egal, sollten sie ruhig lachen. Ich kannte den Präsidenten des FC Luthenburg, der hat mich gefragt, ob ich ihm nicht helfen könne – ohne selbst wieder im Tor zu stehen. Seine Mannschaft stand im Keller, da habe ich zugesagt. Warum denn auch nicht? Und mit Istanbul lief es ähnlich. Die Jungs haben sich gefreut, und mehr Zuschauer kamen auch. Ich habe das ja auch nur für eine kurze Zeit gemacht. Und hatte sogar Erfolg: Mit Luthenburg habe ich in der Kreisliga B Raumdeckung spielen lassen. In der Hinrunde hatten sie noch 60 Tore reinbekommen, als ich zur Rückrunde kam, nur noch sechs. Aber das war schon eine aufregende Zeit: Wenn wir Lokalderbys in Ückendorf hatten, kamen einem manche Regenschirme entgegengeflogen …“
„Der Herr Szepan war bei mir. Er würde dich gerne nach Schalke holen.“ Mit diesem Satz beendet der Vater von Norbert Nigbur im Prinzip die Pläne des Filius‘, eine Ausbildung zum Trabrenntrainer zu absolvieren. Norbert Nigbur wechselt 1966 also von Hessler 06 auf Schalke, „weil ich mir dachte: Wenn du wirklich so viel Talent fürs Tor hast, dann solltest du jetzt auch was draus machen“. Geblieben ist die Liebe zu den Pferden. „Wenn man so will, sind Pferde meine Mentoren für die Psyche“, schwärmt er von seinem Hobby, das fast Berufung ist: „Pferde schenken dir so viel Vertrauen, wenn du vernünftig mit ihnen umgehst, und signalisieren, dass sie mit dir durch dick und dünn gehen. Auch in schwierigen Zeiten, etwa während meiner Scheidungen, hat mir der Umgang mit Pferden sehr geholfen.“ Nigbur hat mehrere Trabrennpferde, Training und Versorgung in Bladenhorst bestimmen seinen Tagesablauf. Und seinen ursprünglichen Berufswunsch hat sich Norbert Nigbur nachträglich erfüllt: Mittlerweile hat er die Amateurfahrer-Lizenz und ist Besitzer-Trainer, darf seine eigenen Pferde also in Rennen fahren.
Mehr Ruhrgebiet geht fast gar nicht. Geboren in Gelsenkirchen, erster Verein Hessler 06, der Vater Bergmann auf der Zeche Wilhelmine Victoria in Hessler, der Opa liefert auf seiner Pferdekutsche Kohle für den Pütt aus. Im Brieftaubenschlag des Vaters hilft Norbert Nigbur, noch mehr als die „Rennpferde des kleinen Manns“ faszinieren ihn die richtigen Rennpferde. Als der Vater ihn zur Trabrennbahn mitnimmt und er später erstmals die Kohlenkutsche des Opas steuern darf, ist seine Liebe zu Pferden manifestiert. Das prägt. Nigbur lebt bis auf seine drei Profijahre in Berlin ausschließlich in Gelsenkirchen, auch heute. „Heimat ist für mich da, wo ich mich wohlfühle. Und hier fühle ich mich wohl. Ich hätte ja auch in Berlin bleiben können oder nach Köln gehen oder sonst wohin. Aber mich hat es zurückgezogen. Ich mag es, wie die Menschen hier reden, wie sie mir ohne Zögern auf die Schulter klopfen, wenn sie mich erkennen, und ihre ganze Art, dieses Gerade-Heraus-Sein, diese Ehrlichkeit. Das würde mir woanders fehlen. Und natürlich Schalke, mein Club.“
„Mein Club.“ Die Eiszeit ist beendet. Das Verhältnis war nicht immer spannungsfrei. Publikumsliebling Nigbur verlässt Schalke 1983 im Unfrieden, vor allem wegen Spannungen mit Manager Rudi Assauer. Der verhängt dann sogar ein Stadionverbot gegen ihn. Die Zeit heilt die meisten Wunden. Schalkes Fans haben Nigbur immer verehrt. Sie wählen ihn in die Jahrhundertelf der Königsblauen. Eine Wahl, die Nigbur unheimlich stolz macht: „Ich habe mich darüber wahnsinnig gefreut. Denn Schalke hatte außer mir ja auch andere richtig gute Torhüter. Aber man hat offenbar nicht vergessen, dass ich für diesen Verein immer alles gegeben habe, dass die Leistung gestimmt hat. Und vielleicht haben sich auch viele daran erinnert, dass ich mit Schalke nach dem Abstieg in die Zweite Liga gegangen bin. Das war ja damals keine Selbstverständlichkeit. Aber ich wollte mich nicht drücken.“
Das Alter geht an niemandem spurlos vorbei. Und so blickt auch Norbert Nigbur während seiner Reha in den vergangenen Monaten im medicos auf Schalke immer wieder mit ein wenig Sehnsucht hinunter auf die königsblauen Trainingsplätze. „Das ist heute eine ganz andere Welt. Früher haben wir richtig Gas gekriegt und auch unter der Woche mal ein Trainingslager abgehalten, wenn es am vorherigen Spieltag nicht so lief.“ Für seine 75 Jahre ist der einstige Torhüter aber noch überdurchschnittlich fit. „Nach 45 Minuten auf dem Crosstrainer staunt meine Therapeutin beim Blick auf meinen Puls – da liege ich noch bei 110, wo andere längst die 180 knacken würden.“
Auch mit den Pferden soll, trotz schmerzhafter Erlebnisse, noch nicht Schluss sein. „Vielleicht steige ich noch einmal in die Trabrennen ein, auch Galopprennen verfolge ich sehr gerne.“ Entsprechende Lizenzen sind eingereicht, eines seiner Pferde mischt regelmäßig auf Turnieren in München mit. Wo sich Nigbur künftig aber auf jeden Fall wieder häufiger sieht: im Stadion. „Es macht immer viel Spaß und ich hoffe sehr, dass Schalke die Klasse halten kann!“ Nachvollziehbarer Wunsch zum Geburtstag – gegen seine Erfüllung hätte an Nigburs einstiger Wirkungsstätte wirklich niemand was einzuwenden.