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·6. April 2023

Mythos Timo Kunert: Ich hatte einen Pfeil im Kopf

Artikelbild:Mythos Timo Kunert: Ich hatte einen Pfeil im Kopf

Timo Kunert legte eine, nun ja, ziemlich haarsträubende Karriere hin: 2006 zum S04-Profi befördert, kam der Blondschopf nur zu einem einzigen Bundesliga-Einsatz. Im Internet aber ist Kunert bis heute Kult – wegen seiner teils todesmutigen Frisuren. Grund genug für ein schnittiges Kreisel-Gespräch über Vokuhilas, Irokesen und Strähnchen, ausgedehnte Sonnenstudio-Besuche, ständige Streiche von Gerald Asamoah und ernsthafte Ermahnungen von Frank Rost.

Man erkennt ihn fast nicht wieder: Der Timo Kunert von heute ist 35, erfolgreicher Unternehmer, glücklicher Familienvater, ambitionierter Verbandsliga-Spieler und Träger eines unauffälligen Kurzhaarschnitts. Aber das weltweite Netz vergisst ja bekanntlich nichts – zum Glück …


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Timo, wie sieht eigentlich die optimale Frisur für einen Fußballer aus? Heutzutage am besten kurz. Und bloß nicht zu auffällig.

Also ganz anders als zu deiner Schalker Zeit. Tja, was soll ich sagen? Eintönig war mir zu langweilig. Im Ruhrpott gab es damals überall diese Friseurkette namens „Unisex“. Die haben auf ihren Plakaten immer mit so abgefahrenen Haar-Kreationen geworben. Also bin ich alle drei Wochen dahin gerannt und hab gesagt: „Ey Leute, habt ihr Bock, mir wieder ‘ne bekloppte Frisur zu verpassen?“ Der Spaß hat mich an die 100 Euro im Monat gekostet. War es aber wert, fand ich.

Hattest du auch prominente Vorbilder? Anfang des Jahrtausends war die Zeit von David Beckham und anderen großen Fußballern mit großartigen Frisuren. Denen habe ich ein Stück weit nachgeeifert: Irokese, Gelfrisur, Strähnchen, Vokuhila – egal, hauptsache irgendwie aus der Masse herausstechen. Darum ging es mir. Und wenn ich mal keine eigene Idee hatte: Die bei „Unisex“ hatten immer eine.

Das sieht man auf deiner Profi-Autogrammkarte aus der Saison 2006/2007. Hilf mir mal auf die Sprünge, was für eine Frisur hatte ich da?

Ist schwer in Worte zu fassen: blond mit frechen schwarzen Strähnchen, im Nacken etwas länger und im Ganzen ziemlich unsymmetrisch. In Form gebracht mit sehr, sehr viel Gel. (lacht) Ja, da klingelt was. Unser Trainer Mirko Slomka hat immer gesagt: „Timo, bitte nicht nur durch deine Haare und die Farbe deiner Schuhe auffallen!“ Im Nachhinein war es vielleicht nicht so clever, dass ich mich immer so exponiert habe. Aber ich dachte mir: Hey, ich bin Jugend-Nationalspieler, ich habe ein dickes Fell und mach mein Ding. Und wenn man mich auf Schalke nicht mehr will, starte ich halt woanders durch.

Du kamst bereits 1999 als Zwölfjähriger vom VfB Kirchhellen zum geilsten Club der Welt. Was ich lange Zeit nicht wusste: Schon 1997 hatte jemand von Schalke bei uns zu Hause angerufen, da war ich zehn. Wäre ich an diesem Tag selbst ans Telefon gegangen, hätte ich mit Sicherheit sofort zugesagt. Aber meine Eltern fanden es damals noch zu früh. 1999 wurde der S04 erneut auf mich aufmerksam: In einem Spiel gegen die königsblaue D2-Jugend schoss ich drei Tore. Kurz darauf waren ein paar Leute von Schalke bei uns zu Hause, und meine Eltern gaben grünes Licht. Ein halbes Jahr nach mir kam übrigens Alexander Baumjohann in den Nachwuchs, wo er prompt mein bester Kumpel wurde.

Hattest du in der D-Jugend schon die Haare schön? Nicht so wie in späteren Jahren. Aber ich war immer recht experimentierfreudig. In der B-Jugend ging‘s dann richtig los, da habe ich mir eine krasse „Frise“ nach der anderen verpassen lassen. Außerdem bekamen wir als Schalker Jugendspieler immer Freikartenblöcke fürs Sonnenstudio. Damals habe ich – wie Markus Krebs sagen würde – „‘ne Zehnerkarte so runtergesonnt“. Natürlich hatte ich einen Pfeil im Kopf, so ehrlich muss man sein. Aber hey, ich war jung.

Auch Mesut Özil, mit dem du 2006 Deutscher Meister der A-Junioren geworden bist, galt als Freund des experimentellen Haarschnitts. Und Ralf Fährmann nicht zu vergessen! Aber im Vergleich zu Mesut und mir waren Ralles Frisuren eher harmlos.

Und dann gab es damals noch einen B-Jugendlichen namens Danny Latza. Danny ist auch immer zu „Unisex“ gerannt, ohne Rücksicht auf Verluste. Natürlich habe ich mich mit ihm über die neuesten Trends ausgetauscht. Schwer zu sagen, wer von uns die krassesten Frisuren hatte.

Hattest du auch mal eine Dauerwelle? (winkt ab) So was kann nur Atze Schröder tragen.

Einen Schnäuzer? Dafür wäre ich durchaus der Typ gewesen, und das hätte zu manchen meiner Frisuren gut gepasst. Allerdings hatte ich in jungen Jahren kaum Bartwuchs, leider. Oder Gott sei dank – wie man‘s nimmt.

Dein U19-Jugendtrainer Norbert Elgert trägt selbst eine eher unkonventionelle Frisur. Wie fand er deine regelmäßigen haarsträubenden Typ-Veränderungen? Norbert Elgert hat die Leute nicht nach der Frisur beurteilt. Wenn man ihn heute fragt, sagt er vermutlich: „Der Timo war ein pflegeleichter Spieler.“ Ich würde eher sagen: Er hat aus mir einen pflegeleichten Spieler gemacht. Auf dem Weg dorthin hat er mich auch mal in der ersten Minute ausgewechselt. Natürlich war ich vor A-Jugend-Spielen ab und zu abends feiern – nicht unbedingt auf einer Flatrate-Party mit Komasaufen für 10 Euro, aber Manuel Neuer und ich sind samstags schon mal nach Mülheim in die Disco gefahren. Wenn man jung ist und wegen des Fußballs auf sehr viel Spaß verzichten muss, will man wenigstens manchmal die Sau rauslassen, auch in der Schule: Baumi (Alexander Baumjohann, Anm. d. Red.) und ich mussten manches Mal zum Rapport beim damaligen Schalker Nachwuchsleiter Helmut Schulte, wenn wir in der Gesamtschule Berger Feld wieder mal Mist gebaut hatten.

Trotzdem wurdest du Profi. Ich habe schon auch hart gearbeitet. In der A-Jugend war ich zwar nie Kapitän, aber ganz sicher einer der Führungsspieler. Ich war ein laufstarker Sechser, fußballerisch absolut verlässlich. Also bekam ich 2006 einen Zweijahres-Vertrag. Hammer!

Die Herren Bordon, Kuranyi, Krstajic, Asamoah & Co. haben vermutlich gestaunt, als da plötzlich ein 18-Jähriger mit blondem Kunstwerk auf dem Kopf in der Kabine hockte. Die meisten kannten mich doch längst vom Sehen, ich war ja nicht der Unauffälligste. Bei den Profis bekam ich die Rückennummer 15 und saß in der Kabine folglich neben Asa, der die 14 trug. Natürlich hat er seine Sprüche gemacht. Und dann gab es da noch so Old-School-Typen wie Frank Rost: „Timo, zieh gefälligst schwarze Leder-Fußballschuhe an. Timo, lass dir eine vernünftige Frisur machen.“ Und so weiter. Aber sonst war mein Äußeres kein großes Thema. Die Jungs störten sich eher an meiner beängstigend guten Laune. „Timo, geh uns nicht früh morgens auf den Sack!“, hieß es in der Kabine, wenn ich um halb neun bereits voll auf Sendung war.

Bis zu deinem ersten Profi-Einsatz musstest du lange warten. Am 7. April 2007 war es so weit: Beim 2:0-Heimsieg gegen Gladbach kamst du in der Schlussphase für Mesut Özil in die Partie. Es lief bereits die 85. Minute. Ich wärmte mich mit den verbliebenen Einwechselspielern hinterm Tor auf, als unser Co-Trainer Olli Reck aufsprang und wild gestikulierte: Wechsel! Ich schaute fragend in Richtung Bank: Ich? Plötzlich hüpfte Asa, der bereits ausgewechselt war, wie wild herum und zeigte in meine Richtung. Ich dachte, der will mich bloß verarschen – so, wie er es zuvor schon mindestens achtmal getan hatte. Aber diesmal sollte ich wirklich eingewechselt werden. Ich rannte im Vollsprint zur Bank und suchte panisch nach meinen Schienbeinschonern. Asa hatte sie versteckt und machte sich vor Lachen fast in die Hose. Als ich zur Einwechslung bereitstand und der Ball endlich ins Aus flog, lief bereits die 90. Minute.

Was hatte der Coach dir mit auf den Weg gegeben? Slomka sagte: „Timo, keine Überdinger.“ Also spielte ich den ersten Ball ganz solide mit der Innenseite zurück. Beim zweiten Mal dachte ich mir: Okay, jetzt muss ich auch mal was zeigen. Ich ging am ersten Gegenspieler vorbei, am zweiten … Dann verstolperte ich den Ball, der bei Gladbachs Marcell Jansen landete. Ich setzte energisch nach und erwischte ihn voll an der Hacke.

Die daraus resultierende Gelbe Karte taucht in keiner Bundesliga-Statistik auf. Aber es gab sie. Ein Freund aus Kirchhellen schwört bis heute auf die Bibel, dass er gesehen hat, wie der Schiri Gelb zückte.

Ansonsten blieb nicht viel hängen von deiner Premiere. Doch, das hier: Am Abend nach dem Spiel waren wir mit der Mannschaft im „Kronski“ in Buer feiern. Irgendwann stand ich an der Rinne, und der Typ neben mir guckte begeistert zu mir rüber: „Ey, du bist doch der Kunert! Glückwunsch zum ersten Bundesliga-Einsatz.“

Im Internet bist du Kult. Im offiziellen Fanforum von Eintracht Frankfurt entstand Mitte 2006 der Thread „Timo Kunert wird Profi“, der sich bis heute mit deinen Frisuren beschäftigt – seit mittlerweile fast 17 Jahren. Davon hat mein Bruder mir eines Tages erzählt – vermutlich, weil er mich aufziehen wollte. Aber ich kann darüber lachen, bin sogar ein bisschen stolz. Wie viele One-Hit-Wonder der Bundesliga sind längst vergessen? Über mich wird immer noch diskutiert, auch wenn es nur um meine Haare geht.

Deine Zeit auf Schalke endete im Sommer 2007. Man darf nicht vergessen: In der Mannschaft standen damals Leute wie Lincoln, Rafinha, Fabian Ernst, Zlatan Bajramovic, Hamit und Halil Altintop, Levan Kobiashvili, Mesut Özil … Das war vielleicht die beste Schalker Truppe seit Einführung der Bundesliga. Wir sind 2006/2007 nicht von ungefähr fast Meister geworden. Mir war klar, dass es eng werden könnte mit Einsatzzeiten. Dann kam das Angebot des HSV, der dem FC Schalke 150.000 Euro Ablöse und mir eine Perspektive als Profi bot. Ich wollte unbedingt spielen – auch weil U20-Nationaltrainer Horst Hrubesch sagte: „Timo, wenn du auf der Bank versauerst, kann ich dich nicht mehr berufen.“

In Hamburg trafst du einen alten Bekannten. Marcell Jansen, der mir in meinem einzigen Bundesliga-Spiel den Ball abgeluchst hatte, kam ein Jahr nach mir zum HSV. Er fragte mich: „Sag mal Timo, wer war eigentlich dieser übermotivierte Schalker Jungspund, der mir damals voll in die Achillessehne gestiegen ist?“ Ich so: „Öhm, das war ich.“

Auch bei den Hanseaten sollte für dich kein Bundesliga-Einsatz hinzukommen. Stattdessen hagelte es Verletzungen. Ich spielte anfangs in der „Zweiten“ in der Regionalliga. Dort zog ich mir nach wenigen Spielen einen Innenbandriss im Knie zu. Kurz nach meiner Genesung erlitt ich eine Schambeinentzündung. Während dieser Zeit war ich gut ein Jahr lang nicht beim Friseur. Damit wollte ich meine Unzufriedenheit ausdrücken. Am Ende sah ich ziemlich wild aus.

Nach zwei glücklosen Jahren in Hamburg folgten verschiedene Stationen bei hochklassigen Amateurklubs wie Sportfreunde Lotte, Rot-Weiß Oberhausen, VfL Osnabrück, 1. FC Saarbrücken oder FSV Frankfurt – hinzu kamen weitere Zwangspausen. Möglicherweise hätte ich mehr erreichen können, wenn mein Körper mitgespielt hätte. Zu einer ordentlichen Zweitliga-Karriere hätte es sicher gereicht. Heute spiele ich als lupenreiner Amateur beim SV Zeilsheim in der Verbandsliga Hessen-Mitte und trainiere nur noch dreimal die Woche. Seitdem hält mein Körper. Im „richtigen“ Leben betreibe ich eine Immobilienfirma, biete Maklerdienste an, aber auch Komplettlösungen von der Immobilienakquise über Renovierung bis zur Vermietung oder zum Weiterverkauf. Der Großteil meiner Objekte ist im Ruhrpott, weshalb ich noch regelmäßig hier bin.

Den Jungs vom SV Zeilsheim sollst du einen ziemlich haarigen Auftritt versprochen haben. Wenn wir aufsteigen, muss ich mir für unsere Saisonabschlussfahrt nach Mallorca eine meiner alten Frisuren verpassen lassen. Welche, das würden dann die Jungs entscheiden. Aber mittlerweile sind wir im Rennen um die Spitzenplätze ziemlich abgeschlagen. Gott sei dank – sagt meine Frau. (lacht)

Ist die Zeit der verrückten Frisuren im Fußball vorbei? Sieht fast so aus. Wenn ich mir die aktuelle Schalker Mannschaft ansehe, da sticht keiner mit einem kreativen Hairstyle hervor. Aber ganz ehrlich: Ich würde heute auch nicht mehr mit meinen „Frisen“ von damals rumrennen.

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