FC Schalke 04
·16. August 2023
Mythos Johan de Kock: „Johan der Kopp“

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·16. August 2023
Johan de Kock ist eine lebende Legende und ein Multitalent: Von Haus aus Mittelstürmer, wird der kopfballstarke 1,92-Meter-Mann von einem Trainer namens Jörg Berger zum Innenverteidiger umgeschult – und später zum Turm in der Schlacht der blau-weißen „Eurofighter“. Als Ingenieur hat er zudem einen großen Anteil am Bau der VELTINS-Arena. Vor allem ein technisches Element trägt die Handschrift des heute 58-Jährigen.
Das Lob kommt ausgerechnet von einem Schwarz-Gelben. „Der de Kock ist ja ein richtig Guter“, staunt der damalige BVB-Manager Michael Meier im Smalltalk mit seinem Schalker Widerpart Rudi Assauer. Der S04 hat soeben den amtierenden Meister Dortmund im Fuji-Cup-Halbfinale 1996 mit 3:1 von der Platte geputzt. Vorne traf ein gewisser Martin Max dreimal, hinten hat Johan de Kock so ziemlich alles abgeräumt, was abzuräumen war – eine tadellose Vorstellung des Zugangs von Roda JC Kerkrade. Zwei Tage später gewinnt das Team auch das Endspiel des Turniers mit 4:3 im Elfmeterschießen gegen Bayern München. Schalkes Triumph im Vorläufer-Wettbewerb des Ligapokals ist zugleich ein Vorgeschmack auf das, was in jener legendären Saison 1996/1997 noch folgen soll …
„Natürlich war der Gewinn des Fuji-Cups für uns kein richtiger Titelgewinn“, meint Johan de Kock rückblickend im Gespräch mit dem Schalker Kreisel. „Aber es waren zwei richtig gute Tests, und speziell das Semifinale gegen Dortmund war natürlich alles andere als ein Freundschaftsspiel. Diese beiden Siege gegen richtig starke Gegner haben uns als Mannschaft ein gutes Gefühl gegeben. Und man hat gespürt, dass die Neuen wie Marc Wilmots und meine Wenigkeit bereits sehr gut integriert waren.“
Dass der Niederländer, damals 31, in Gelsenkirchen unterschrieben hat, ist ein Glücksfall. Der baumlange Innenverteidiger hat wenige Wochen zuvor bei der Europameisterschaft in England auf der ganz großen Bühne gespielt, ist mit der Elftal ins Viertelfinale gegen Frankreich eingezogen und hat in jedem Spiel mitgewirkt. „Bereits vor dem Turnier hatte ich Kontakt zu Feyenoord Rotterdam, aber das wurde nicht konkret“, erklärt er. Nach der EM geht plötzlich eine Tür nach Deutschland auf: „Schalke, das vor mir bereits Marc Wilmots verpflichtet hatte, suchte noch einen zentralen Abwehrspieler. Marcs Berater rief meinen Berater an und erzählte ihm davon.“
Der Rest ist Geschichte: „Rudi Assauer erzählte mir beim ersten Gespräch von Schalkes sportlichen Ambitionen und davon, dass der Verein ein neues, super modernes Stadion plante“, erinnert sich de Kock. „Ich antwortete: ,Oh, das passt ja super: Ich bin nämlich auch Bau-Ingenieur …‘“ Ein Beruf, in dem das Multitalent später noch Großes für Schalke leisten wird. Aber dazu später mehr.
Dieser Johan de Kock also wechselt zur Saison 1996/1997 aus Kerkrade zum GEilsten Club der Welt. Die Ablösesumme beträgt 3,5 Millionen D-Mark, und das Geld ist gewinnbringend angelegt. In einer UEFA-Cup-Saison, in der Königsblau in sechs Heimspielen ohne Gegentreffer bleiben wird, erweist sich der Mann aus dem südholländischen Sliedrecht als Sicherheitsgarant. Mit seinem Nebenmann Thomas Linke, Libero Olaf Thon sowie den Außenverteidigern Radek Latal und Mike Büskens bildet de Kock die damals beste Defensivabteilung Europas. Dabei hat er seine Profikarriere einst als Mittelstürmer begonnen.
Als 19-jähriges Torjäger-Talent wechselt er 1984 von seinem Kindheits-Club VV Sliedrecht – Spielkleidung: blau-weiß – zum großen FC Groningen. In 77 Ligaspielen für den Ehrendivisionär knipst er immerhin 24-mal, nicht selten per Kopf. Parallel treibt er sein Studium voran, für das de Kock insgesamt fünf Jahre büffelt. „Das war natürlich eine ziemliche Doppelbelastung“, sagt er rückblickend. „Um das zu bewältigen, brauchte ich extrem viel Disziplin und Durchhaltewillen. Diese Eigenschaften haben mich auch als Fußballer ausgezeichnet.“
1987 wechselt der lernbegierige Profi zum FC Utrecht – und der dortige Chef-Coach Han Berger hat eine Idee: Aus Personalmangel setzt er de Kock eines Tages als Innenverteidiger ein. Mit Erfolg: „Meine Stärken waren immer Schnelligkeit sowie Kopfball- und Zweikampfstärke“, erzählt er. Einige Monate später ist das Talent bereits mit Leib und Seele Abwehrspieler: „Ich musste natürlich einiges lernen, zum Beispiel eine gewisse Schlauheit beim Spiel auf Abseits, aber ich schaffte die Umstellung problemlos.“ 1993 verteidigt er erstmals fürs Nationalteam. 1994 wechselt de Kock zu Roda, wo er von Huub Stevens betreut wird. Bis zu jenem schicksalhaften Sommer 1996.
„Als 1996/1997 die Vorbereitung begann, war mein Wechsel von Kerkrade nach Schalke noch nicht perfekt“, erinnert sich der 58-Jährige. „Ich war gerade mit der Mannschaft auf dem Weg ins Trainingslager, als Assauer mich anrief und mir mitteilte, dass alles klappt.“ Kurz darauf heißt es für den Nationalspieler Abschied nehmen. Die Knappen haben eine Limousine geschickt, um den Neuen abzuholen. Der Fahrer ist kein Unbekannter: „Willi Koslowski fuhr mich nach Gelsenkirchen“, erinnert er sich an die erste Begegnung mit dem Meisterspieler von 1958, zu dieser Zeit „Mädchen für alles“ beim S04.
Dass de Kock in der 1. Runde im UEFA-Cup mit Schalke auf seinen Ex-Club Roda JC und Ex-Coach Stevens trifft, ist wohl eine Laune des Schicksals. Dass der Abwehrrecke im Hinspiel eine Gelbsperre abbrummen muss, hätte er bei aller Vorfreude auf das Wiedersehen fast vergessen: „Die Sperre resultierte noch aus der 2. Runde der Vorsaison. Ich wusste das gar nicht mehr, und Schalke hatte es anfangs auch nicht richtig auf dem Schirm – leider hatte die UEFA diese Angelegenheit nicht vergessen.“
Johan de Kock und Familie beobachten von der Haupttribüne des Parkstadions, wie Königsblau gegen Kerkrade mit 3:0 gewinnt. Mit dabei ist auch Filius Branco, der heute selbst für die UEFA arbeitet und immer noch leidenschaftlicher S04-Fan ist. Die Treffer an jenem 10. September 1996 erzielen übrigens Wilmots, Youri Mulder und Ingo Anderbrügge. Beim 2:2 im Rückspiel treffen David Wagner und Wilmots, de Kock darf auch wieder mitmischen – und kassiert prompt die nächste Gelbe Karte. „Dabei war ich kein unfairer Spieler“, beteuert er. „Ich habe hart verteidigt, aber meine Aktionen gingen immer Richtung Ball.“ Lediglich 15 Verwarnungen in 83 Bundesliga-Spielen für Schalke und kein einziger Platzverweis untermauern diese Einschätzung.
Die erste richtige internationale Feuerprobe wartet in der 2. Runde gegen Trabzonspor. Auf der Trainerbank hat sich unterdessen ein Wechsel ereignet: Jörg Berger, der sein Team zur ersten UEFA-Cup-Teilnahme nach 19 Jahren geführt hatte, ist beurlaubt, sein Nachfolger ausgerechnet Huub Stevens, der in der 1. Runde an Schalke gescheitert ist. Das Hinspiel gegen die Türken gewinnen die Hausherren mit 1:0 dank eines Treffers von Martin Max), das Rückspiel in Trabzon wird zum Krimi, und de Kock dessen Hauptdarsteller. In der 33. Minute erzielt er die Führung, nur drei Minuten später trifft er zum 0:2. Beide Male ist der Niederländer übrigens per Kopf zur Stelle, was ihm mannschaftsintern einen Spitznamen beschert: „Johan der Kopp“.
Wie wichtig „der Kopp“ auch defensiv ist, zeigt sich nach der Halbzeitpause – da fehlt Schalkes Nummer 25 plötzlich. „Ich war angeschlagen ins Spiel gegangen, hatte in der Liga einen Muskelfaserriss mit Einblutung erlitten. Als wir zur Pause 2:0 führten, war eigentlich alles gelaufen. Ich sagte: ,Trainer, ich habe starke Schmerzen, bitte nimm mich runter.‘“ So bleibt er in der Kabine. Nach der Dusche steht es nur noch 1:2, wenig später führt Trabzon durch einen Doppelschlag von Hami mit 3:2. Erst das 3:3 durch Max (74.) bringt die Entscheidung. Schalke räumt anschließend auch Brügge und Valencia aus dem Weg.
Zur persönlichen UEFA-Cup-Geschichte des Johan de Kock gehört auch das Kapitel Teneriffa – samt seines verschossenen Elfers im Halbfinal-Hinspiel auf der Kanareninsel. Die Gastgeber führen früh mit 1:0 durch einen umstrittenen Strafstoß. In Minute 74 folgt die ausgleichende Gerechtigkeit: Elfmeter für Schalke. Aber wer soll ausführen? Kapitän Thon hat in Brügge vom Punkt verschossen, Anderbrügge, eigentlich Standardschütze vom Dienst, in der Bundesliga zweimal verballert und streitet nun mit de Kock um den Ball. Am Ende tritt der „Lange“ an – und schießt ca. 40 Zentimeter flach am linken Pfosten vorbei. „Ich bin mit dem Standbein weggerutscht“, erinnert er sich und klingt noch immer leicht zerknirscht: „Der Rückflug von Teneriffa war sehr lang, und ich fühlte mich währenddessen ziemlich allein mit meinen Gedanken.“
Zum Glück gewinnt der S04 das Rückspiel mit 2:0 nach Verlängerung durch Tore von Linke und Wilmots. „Während dieser Partie haben wir erstmals den Gesang ,Steht auf, wenn ihr Schalker seid‘ wahrgenommen“, erinnert sich de Kock an magische Momente in einer betagten Betonschüssel. „Das ganze Parkstadion erhob sich plötzlich, das war Gänsehaut pur. Auch die Spieler von Teneriffa hatten riesigen Respekt vor dieser Atmosphäre, das war auf dem Rasen deutlich zu spüren.“ Nach 120 Minuten plus Nachspielzeit steht „nur noch“ Inter zwischen Königsblau und dem Pott. Das Hinspiel gegen die Schwarz-Blauen gewinnt Schalke durch einen Wilmots-Treffer mit 1:0 und feiert zwei Wochen darauf nach einem 4:1-Sieg im Elfmeterschießen den größten Triumph seiner Vereinsgeschichte.
Dass im Fall eines fünften Elfmeters in Mailand ausgerechnet de Kock als Schütze vorgesehen war, jagt bis heute manchem S04-Fan einen kalten Schauer über den Rücken. Doch der Rechtsfuß relativiert: „Ich habe in meiner Karriere viele Elfer verwandelt, etwa in Utrecht und bei Roda. Vor Teneriffa hatte ich nie einen wichtigen Strafstoß verschossen. Also sagte ich spontan ja, als Huub Stevens mich fragte, ob ich den fünften Versuch übernehmen würde. Es hatte sich eh kein anderer gemeldet.“ Wobei er ein gewisses Fracksausen gar nicht leugnen will: „Nach meinem Fehlschuss im Halbfinale fühlte ich mich nicht mehr hundertprozentig sicher.“
Und wie hätte er den Ball platziert, wäre ein fünfter Schalker Elfer vonnöten gewesen? „Ich hatte den Inter-Keeper während der ersten vier Elfer von Ingo, Olaf, Martin und Marc genau studiert“, verrät der Sonnyboy: „In die vom Schützen aus rechte untere Ecke war Gianluca Pagliuca etwas schneller abgetaucht. Also hätte ich die linke gewählt.“ Schmunzelnder Nachsatz: „Eigentlich habe ich fast immer nach links unten gezielt, wenn ich einen Elfmeter schoss. Heute kann ich das ja ruhig verraten.“
Während Johan de Kock so aus seinen 04 Jahren als Profi auf Schalke erzählt, sitzt er in der wärmenden Urlaubssonne Südfrankreichs. „Hier, in der Nähe von St. Tropez, fühlen meine Frau Jacqueline und ich uns sehr wohl“, berichtet er spürbar entspannt und reist in Gedanken doch zurück nach Gelsenkirchen. Am Ende sind es 104 Pflichtspiele in Blau und Weiß, mehr verhindert der körperliche Verschleiß: „Mein linkes Knie war ziemlich kaputt“, klagt de Kock. In seinen letzten beiden Spielzeiten verpasst er insgesamt 43 Ligapartien, bestreitet den letzten Einsatz am 5. Spieltag 1999/2000 beim 1:0 gegen die Spielvereinigung Unterhaching.
Doch die Knieprobleme haben auch etwas Gutes. So kann er sich umso ausgiebiger seinem Nebenjob bei Königsblau widmen. Manager Assauer hat ihn tatsächlich in den Bau der neuen Multifunktions-Arena eingebunden – nicht als Frühstücksdirektor, sondern als Macher: Der Ingenieur kümmert sich um die Entwässerung des Baugeländes und später um die Konstruktion der gigantischen Betonwanne, in der das Spielfeld rein- und rausgefahren wird. „Später habe ich auch den Innenausbau der Logen bautechnisch überwacht und den technischen Betrieb der Rasenwanne optimiert“, ergänzt er. „Ab 2002 lief dann alles wie geschmiert; mein Job auf Schalke war erledigt.“
Heute ist der 58-Jährige selbstständiger Ingenieur in Utrecht und betreut für die Stadtverwaltung wichtige Bauprojekte. Wenn Johan de Kock zwischendurch mal ein Heimspiel der Königsblauen besucht, was er regelmäßig tut, sieht er das Stadion auch durch die Augen des Ingenieurs: „Was ich faszinierend finde, ist, dass die VELTINS-Arena auch mehr als 20 Jahre nach ihrer Einweihung noch immer topmodern ist. Eine überragende Leistung.“
… schenkte seiner Mutter einst ein Kochbuch mit den Lieblings-Rezepten der S04-Profis. Johan de Kocks „Ente mit Fanta-Sauce“ war wirklich vorzüglich.