FC Schalke 04
·24. September 2022
Mythos Bernd Dierßen: Ich ging wie John Wayne

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·24. September 2022
Sie nannten ihn „Shorty“: Bernd Dierßen zog vier Jahre lang die Fäden im S04-Mittelfeld und war an historischen Erfolgen beteiligt. Dabei war sein Wechsel zum GEilsten Club der Welt eigentlich schon zweimal gescheitert. Im Interview mit dem Schalker Kreisel erinnert sich der 63-Jährige an zähe Verhandlungen, einen völlig verunglückten Freistoß, der schließlich doch noch zum Tor führte, höllische Schmerzen nach der Aufstiegsfeier 1984 und an die leckeren Klapp-Stullen beim Fußballgucken in Rudi Assauers Wohnzimmer.
Er kam, sah und dirigierte: Spielmacher Bernd Dierßen, 34-maliger Jugend-Nationalspieler des DFB, führte die Knappen 1984 zum Wiederaufstieg in die Bundesliga und anschließend zweimal in Folge zum Klassenerhalt. Insgesamt absolvierte der Blondschopf 139 Pflichtspiele für Schalke und erzielte 16 Tore. Einige Partien sollten in die königsblaue Geschichte eingehen …
Bernd Dierßen, erinnern Sie sich noch an Ihren Freistoß im legendären Pokal-Halbfinale 1984, der zum 6:6-Ausgleich gegen Bayern München führte? Ungefähr. Ich weiß noch, dass Olaf Thon und ich am Ball standen. Halblinke Position, circa 20 Meter vom Tor entfernt. „Thöni“ und ich berieten uns kurz. Er sollte einen Anlauf antäuschen und dann im letzten Moment links in Richtung Strafraum abbiegen. Eine klassische Finte, um die Bayern-Mauer zu irritieren. (schmunzelt) Damals konnte ich Olaf aufgrund meines Alters und meiner Routine noch solche Anweisungen erteilen – er war ja gerade erst 18, ich schon 24.
Was passierte dann? Ich wollte den Ball möglichst hart, aber auch präzise mit dem Innenspann aufs Tor bringen. Mein Grundsatz bei Freistößen war immer: nur nicht so hoch schießen, dass am Ende Schnee drauf liegt. Wenn die Flugbahn des Balls grob in Richtung Tor verläuft, dann kann sich immer was Gefährliches entwickeln. Mein Schuss aber geriet nur halbhoch und wurde geblockt. Das war nicht so geplant, am Ende aber doch ganz okay.
Bayerns Klaus Augenthaler wollte den Abpraller aus der Gefahrenzone köpfen, doch der Ball kam links im Strafraum wieder runter – dort lauerte Olaf Thon, der mit links volley ins lange Eck traf. Also war Ihre Freistoßvariante voll aufgegangen. (lacht) Jedenfalls zeigt diese Szene, was für ein herausragender Torjäger Olaf damals war. Es ist fast ein bisschen schade, dass er so früh zum Mittelfeldspieler und später zum Libero mutierte. Meiner Meinung nach brachte er alle Qualitäten mit, die man braucht, um ein super Mittelstürmer in der Nationalmannschaft zu werden: Er hatte einen tollen Schuss mit links wie rechts, eine gute Grundschnelligkeit, ein sehr starkes Kopfballspiel dank seiner enormen Sprungkraft und natürlich diesen ausgezeichneten Torriecher. Auch vor dem Treffer zum 6:6 wusste er scheinbar genau, wo der Ball runterkommen würde.
Wenige Wochen nach diesem Ausnahmespiel bestritten Sie die nächste historische Partie mit Schalke: Nach einem 2:0-Auswärtssieg bei Fortuna Köln am vorletzten Spieltag der Saison 1983/1984 war der S04 wieder erstklassig. Das werde ich nie vergessen, auch aus einem anderen Grund: Im Spiel hatte ich einen heftigen Tritt in den Unterleib abbekommen, aber dank Adrenalin und diverser alkoholischer Getränke bemerkte ich die Blessur nach dem Schlusspfiff gar nicht mehr. Erst als ich am nächsten Morgen aus dem Bett kroch, spürte ich höllische Schmerzen und ging anschließend tagelang breitbeinig wie John Wayne.
Wie war es eigentlich zu Ihrem Wechsel von Hannover 96 zu Schalke gekommen? Schalke war 1983 zum zweiten Mal abgestiegen und suchte einen Spielmacher. Ich war damals erst 23, hatte aber schon fünf Jahre Zweitliga-Erfahrung: zwei Spielzeiten bei meinem Jugendclub Arminia Hannover, drei weitere bei 96. Als mein langjähriger Trainer Diethelm Ferner 1983 von 96 zum S04 wechselte, machte er sich bei Rudi Assauer für meine Verpflichtung stark. „Assi“ wollte eigentlich Jürgen Mohr von Hertha BSC holen, doch der sollte 900.000 D-Mark Ablöse kosten und ging am Ende nach Frankfurt. Schalke holte stattdessen mich, für 400.000 Mark. Auch sonst lief ich kostenmäßig in der Kategorie „Portokasse“. Schalke schwamm ja damals – ähnlich wie heute – nicht gerade im Geld, das konnte man zwischen den Zeilen bei Assauer immer wieder raushören.
Fiel es Ihnen als Ur-Niedersachse nicht schwer, Hannover 96 zu verlassen? Ich war in meiner Jugend eigentlich kein 96-Fan, stattdessen hatte ich Sympathien für drei Vereine: zum einen für Schalke und 1860 München, was nicht zuletzt an den Vereinsfarben lag – ich bin eher der Blau-Typ; außerdem mochte ich Gladbach, weil die Borussia in meiner Jugend berauschenden Fußball spielte. Aber auch der S04 hatte mit Klaus Fischer, Stan Libuda und später Rüdiger Abramczik viele Stars, die zu meinen Idolen zählten. Das Angebot aus Schalke hat mich emotional sofort gepackt. Zumal ich 1980 schon einmal fast bei Königsblau gelandet wäre …
Wie das? Vor der Saison 1980/1981 war ich vereinslos. Arminia Hannover hatte erhebliche Geldprobleme, wir einigten uns auf eine Vertragsauflösung. Kurz darauf absolvierte ich ein Probetraining in der Glückauf-Kampfbahn. Ich war erst 20, Schalkes Chef-Trainer hieß Fahrudin Jusufi. Aber letztlich kam der Wechsel nicht zustande. Anschließend hielt ich mich eine Weile bei 96 fit und durfte sogar mit ins Trainingslager. Dort konnte ich Trainer Didi Ferner offenbar so überzeugen, dass ich einen Vertrag erhielt. Andernfalls wäre ich womöglich Grundschullehrer geworden – das war mein eigentliches Berufsziel nach dem Abitur.
1983 landeten Sie dann endlich im Pott. Doch auch dieser Wechsel drohte anfangs zu scheitern – am Gehalt. Ich stamme aus einem 700-Seelen-Ort namens Feggendorf, rund 30 Kilometer südwestlich von Hannover. Aufgewachsen bin ich quasi in der Dorfkneipe, die meine Eltern betrieben. Eines Abends, ich war bereits in der Saisonvorbereitung mit 96, kam Rudi Assauer zu Besuch, und wir setzten uns zum Verhandeln in die Gaststube. Das Angebot, das er mir unterbreitete, war ehrlich gesagt ziemlich schlecht. Ich sollte weniger verdienen als in Hannover. Also sagte ich: „Nee, unter diesen Bedingungen kommen wir nicht zusammen.“
Und dann? Meine Mutter schimpfte anschließend mit mir, weil ich Assauer nicht mal etwas zu essen angeboten hatte. Ich sagte: „Bei so einem Angebot hat er auch nichts zu essen verdient.“
Das war’s dann eigentlich … Ich hatte Assauer noch zu seinem Hotel geleitet, das lag ganz in der Nähe. Dort angekommen sagte er: „Ich habe morgen früh noch einen Termin in Hannover bei 96-Schatzmeister Dr. Helmut Scharnofske, aber ich kenne den Weg nicht. Darf ich hinter dir herfahren, wenn du zum Training aufbrichst?“ Am nächsten Morgen fuhr ich also vor ihm her. Als wir Scharnofskes Büro erreicht hatten, kurbelte ich mein Seitenfenster runter, um Tschüs zu sagen. Assauer bat mich, noch kurz mit reinzukommen. Drinnen fragte Scharnofske: „Und, habt ihr euch geeinigt?“ Ich war schon etwas spät dran und murmelte: „Nö.“ Da sah Assauer mich an und fragte: „Wie viel wolltest du noch mal verdienen?“ Ich nannte meinen Gehaltswunsch, und er sagte: „Okay, dann machen wir das.“
Eine Einigung per Handschlag? Zwei Tage später bin ich nach Gelsenkirchen und habe den Vertrag unterschrieben. Kurz darauf ging auch schon das Trainingslager los.
Wo ließen Sie sich im Ruhrpott nieder? In Lembeck. So wurde ich quasi zum Nachbarn von Rudi Assauer, der seinerzeit in Wulfen lebte. Wenn wir am Samstag gespielt hatten, ging ich sonntags schon mal mit ihm zum Tennis. Mit der Zeit entwickelte sich ein richtig freundschaftliches Verhältnis. Trotzdem sagte ich stets „Sie“ und „Manager“ zu ihm, das war für mich eine Frage des Respekts. Ich weiß noch: Assauer hatte so eine Spezial-Antenne auf dem Dach, damit konnte er den TV-Sender für die in Deutschland stationierten britischen Soldaten empfangen. Wir haben bei ihm oft das „Match of the Week“ aus England geguckt. Wenn wir dann so im Wohnzimmer saßen, sagte „Assi“ zu seiner damaligen Frau: „Bitte mach uns doch mal ein paar Klapp-Stullen, wir haben Hunger.“ So war er: ein charmanter Macho-Typ.
Ihr Spitzname im Mannschaftskreis lautete „Shorty“ – frei übersetzt: Kurzer. Dabei sind Sie mit 1,72 Meter Körpergröße immerhin zwei Zentimeter länger als Olaf Thon. Den Spitznamen hatte ich schon bei Hannover 96 verpasst bekommen. Diethelm Ferner taufte mich so, weil im Kader noch ein weiterer Bernd stand: Bernd Gorski. Der war etwas größer als ich.
Hat Sie der Spitzname nie genervt? Es kommt bis heute darauf an, wer mich so nennt. In Fußballerkreisen war das okay: Mein langjähriger Weggefährte Dieter Schatzschneider, mit dem ich bei 96 und später auf Schalke zusammenspielte, war immer der „Lange“. Und ich war der „Shorty“. Selbst innerhalb der eigenen Familie wurde ich teilweise so gerufen. Doch als mich eines Tags mein 14-jähriger Neffe mit „Shorty“ ansprach, sagte ich: „Junge, du kannst mich ruhig Bernd nennen …“
In der Bundesliga-Saison 1984/1985 belegten Sie mit Schalke als Aufsteiger einen respektablen achten Platz, ein Jahr später sprang immerhin noch Rang zehn heraus. Dann aber musste Ihr sportlicher Ziehvater Diethelm Ferner gehen. Das Verhältnis zu Nachfolger Rolf Schafstall war hingegen ziemlich unterkühlt. Dazu gab es eine Vorgeschichte: Schafstall war der Wunschtrainer des damaligen S04-Präsidenten Dr. Hans-Joachim Fenne. Assauer hätte lieber an Ferner festgehalten. Als Schafstall 1986 seinen Dienst antrat, wusste er natürlich genau, dass ich sowohl zu Assauer als auch zu Ferner ein gutes Verhältnis hatte. Das führte dazu, dass er mir von Anfang an kritisch gegenüberstand. Das Erste, was er zu mir sagte, war: „Junge, weißt du eigentlich, dass du viel zu viel umsonst läufst?“ Da spürte ich: Das harmoniert nicht. Nach der Saison 1986/1987 ging ich zurück zu meinem Ex-Club Hannover 96, der gerade frisch aufgestiegen war.
Die Folge-Saison 1987/1988 war nur wenige Tage alt, da kam es zum Wiedersehen mit Schalke und Schafstall. Am 2. Spieltag gastierten wir im Parkstadion und gewannen mit 2:0. Den zweiten Treffer erzielte ich, anschließend ließ ich meinem Jubel freien Lauf. Nach dem Spiel kam Schafstall auf mich zu und zeigte Größe. Er gab mir die Hand und sagte in versöhnlichem Tonfall: „Das war heute bestimmt eine Genugtuung für dich.“ Das konnte ich kaum abstreiten.
Statt einer Ablöse für Sie hatte Schalke von Hannover 96 den damals 24-jährigen Spielmacher Martin Giesel bekommen. Die Fachpresse rätselte, wer bei diesem Tausch wohl besser abgeschnitten hätte. Zu „Matze“ Giesel habe ich eine ganz besondere Verbindung, obwohl wir beide nie zusammen in einer Mannschaft standen: Als ich Arminia Hannover verließ, stieß er dort aus dem Nachwuchs in die Erste Mannschaft vor. Als ich dann 96 verließ, übernahm er meine Position bei den „Roten“. Genau so lief es später auf Schalke. Ich gebe zu, dass ich 1987/1988 beweisen wollte, dass Schalke keinen guten Tausch gemacht hatte. Das gebot mir mein sportlicher Ehrgeiz.
Nach nur 17 Bundesliga-Spielen für Königsblau zog sich Giesel im Training eine schwere Sprunggelenksfraktur zu, die ihn zum Sportinvaliden machte. Ich war geschockt, als ich von der Schwere seiner Verletzung hörte. „Matze“ war ein toller Fußballer und ist ein richtig guter Typ, der mir bis heute ab und zu über den Weg läuft, wenn ich im Raum Hannover unterwegs bin. Er war später noch als Spielertrainer im Amateurfußball tätig, wurde aber nie wieder hundertprozentig fit.
Am Ende der Saison 1987/1988 belegten sie mit Hannover überraschend Rang 10, Königsblau stieg als Tabellenletzter ab. Bei aller Freude über den Klassenerhalt mit 96, Schalkes Niedergang zu sehen, tat schon weh, auch aus der Ferne. Meine Frau hat kürzlich zu mir gesagt: „Wenn du noch zwei Jahre länger auf Schalke geblieben wärst, wären wir sicher im Ruhrgebiet sesshaft geworden.“ Auch wenn ich die direkte und manchmal etwas raue Art im Pott anfangs gewöhnungsbedürftig fand: Ich habe die Region und die Menschen dort sehr schnell lieben gelernt – und den Verein sowieso.
1988/1989 stiegen auch Sie mit Hannover in die Zweite Liga ab. Bald darauf mussten Sie Ihre Karriere beenden, mit nur 30 Jahren. Eigentlich wollte ich den sofortigen Wiederaufstieg in Angriff nehmen, doch in der Vorbereitung riss ich mir ein Kreuzband. De facto war ich Sportinvalide, doch die Unfallversicherung wollte nicht zahlen. In meinem Alter sei ein Kreuzbandriss eine Abnutzungserscheinung, argumentierte sie.
Haben Sie heute noch beruflich mit dem Fußball zu tun? Ja und nein. Im Anschluss an meine Karriere absolvierte ich eine kaufmännische Ausbildung bei einer Bausparkasse, später wurde ich Bilanzbuchhalter. 2002 erfuhr ich, dass der Niedersächsische Fußballverband NFV einen Stellvertretenden Direktor für den Bereich Finanzen suchte. Ich bekam den Zuschlag. Seit 2004 bin ich zusätzlich Geschäftsführer des Sporthotels Fuchsbachtal, das an die NFV-Sportschule Barsinghausen angegliedert ist. Auch die deutsche Nationalmannschaft gastiert dort, wenn sie Länderspiele in Hannover bestreitet. Im vergangenen Sommer waren der VfL Osnabrück und der niederländische Erstligist FC Groningen bei uns, im Winter erwarten wir die deutsche Handball-Nationalmannschaft zur Vorbereitung auf die WM 2023. Außerdem sind wir als Teamhotel für die Fußball-EM 2024 in Deutschland gelistet.
Wie intensiv verfolgen Sie heute den Werdegang des FC Schalke 04? Ich gucke mir so gut wie jedes Spiel im Fernsehen an und bin mit vollem Herzen dabei. Jeden Morgen vor dem Duschen schaue ich zuerst aufs Handy und überfliege die aktuellen Nachrichten über den S04 und 96. Ich hoffe sehr, dass Schalke den Klassenerhalt packt.
… war mit zwölf Jahren der Kleinste auf dem Klassenfoto. Damals wurde auch er „Shorty“ gerufen. Ein gutes Jahr später, nach einem heftigen Wachstumsschub, hieß er plötzlich „Langer“. Verrückt …