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·6. März 2023

Mythos: Asi Erich Fußballgott

Artikelbild:Mythos: Asi Erich Fußballgott

„Wo bleibt denn das Pilsken?“, fragt Propst Markus Pottbäcker lächelnd, nachdem Erich Wehners Urne in der Erde versunken ist. Der Mann, der soeben die letzten Worte gesprochen hat, bekommt sein Pilsken, frisch gezapft vom stilechten Bierstand, der heute auf dem Friedhof steht, und stößt auf den Verstorbenen an. Nein, das ist keine Szene aus einer Ruhrgebiets-Komödie. Es ist der Augenblick, an dem ein Schalker Original die Bühne verlässt: Einer, den die meisten nur unter seinem „Künstlernamen“ kannten: Asi Erich.

Die Trauerhalle des Gelsenkirchener Friedhofs Beckhausen-Sutum ist an diesem tristen Vormittag des 28. Dezember 2022 rappelvoll. Einige der rund 350 Gäste, darunter Weltmeister Olaf Thon und Eurofighter Mike Büskens, bekommen keinen Platz mehr und müssen von draußen zuhören. Hinter Erichs Urne – einem blau-weißen Fußball – stehen die S04-Fahnenträger, während die Orgel das Vereinslied „Blau und Weiß, wie lieb‘ ich dich“ intoniert. Nach Blutsverwandten schaut man vergebens. Erichs Mutter ist bereits verstorben, zu seinem Bruder brach er früh und rigoros den Kontakt ab, „weil er eine Zecke ist“, wie er öfter erklärte. Macht aber nichts, denn seine wahren Angehörigen sind seit mehr als fünf Jahrzehnten die Fans des FC Schalke 04 gewesen, von denen ihm heute einige, getreu seiner bekanntesten Frage: „Haste mal ‘nen Euro?“, ebendiesen mit ins Grab werfen.


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Viele von ihnen wissen selbst nicht so genau, wie sie finanziell über die Runden kommen sollen, doch sie haben dafür Sorge getragen, dass er seine letzte Ruhestätte auf dem „Schalke Fan-Feld“ im Schatten der VELTINS-Arena bekam. Sie spendeten, und wenn es nur der obligatorische Euro war. Jetzt ist das Grab mit der Nummer 104 Erichs letzte Adresse, ein paar Meter neben Stan Libuda und einem weiteren Original, mit dem er so manches Bierchen zischte: Karl-Heinz Olschewski, genannt „Catweazle“.

„Wie diese zwei Tage nach seinem Tod gelaufen sind, ist für mich noch immer unglaublich“, meint Christina Kosigk, Pflegedienstleiterin der Einrichtung, in der Erich seit 2016 lebte. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Benny Kunkel trägt sie die Urne von der Trauerhalle zum Grab. „Ich wollte unter keinen Umständen, dass er eine Sozialbestattung bekommt und anonym beerdigt wird. Deshalb bat ich Olivier Kruschinski um Hilfe, der sich sehr um ihn gekümmert hatte. Keine zwei Stunden später schickte er mir den Spendenaufruf mit der Frage, ob das so in Ordnung sei. Natürlich war es das!“

Binnen 48 Stunden spenden Fußballfans aus dem In- und Ausland, darunter sogar ein Fanclub der Schwarz-Gelben. Rund 15.000 (!) Euro kommen zusammen und sichern Erich eine würdevolle Beerdigung. Mehr noch, an der Trauerhalle werden Devotionalien verschenkt, vom Aufkleber über Anstecknadel bis hin zum Erich-Schnaps, bevor man sich am Bierstand die schönsten Anekdoten über den Kult-Fan erzählt. Denn das war Erich Wehner.

Auch Ender Ulupinar, Eigentümer und Erbauer des Schalke Fan-Feld, sagte Kruschinski schon vor dem Aufruf seine Unterstützung zu: „Egal wie es mit den Spenden gelaufen wäre, war für mich klar, dass ich ihn zu mir auf den Friedhof hole. Eine Sozialbestattung, wo er dann irgendwo auf einer grünen Wiese landet, kam für mich nicht infrage. Er wohnte ja ursprünglich in seinem geliebten Hassel, wo auch ich aufgewachsen bin und ihn seit meiner Kindheit kannte. Und weil es mir fast immer gut ergangen ist und er ein freundlicher und nie aufdringlicher alter Weggefährte war, sah ich es als meine Pflicht, auch nach seinem Ableben zu helfen.“

Der Mythos Erich Wehner beruht vor allem auf unzähligen Geschichten, die speziell Auswärtsfahrer über Jahrzehnte mit ihm erlebten. Sie handeln davon, wie er mit brennender Zigarette beim Ausstieg aus einem Flieger an den Turbinen vorbeispazierte und fröhlich Schalker Lieder sang, während die Flugbegleiter vor Schreck aschfahl wurden; oder wie er sich frühmorgens zu Fuß mit dem Rollator auf den Weg zum Derby machte und nach rund 40 Kilometern pünktlich vor dem Auswärtsblock am Westfalenstadion stand; oder wie er in Bielefeld den „Capo“ mimte und den Fanblock vom Zaun aus mit dem Megafon dirigierte; oder wie er in Leverkusen von den Rollstuhlplätzen staatsmännisch vom Rollator aus winkte, als die königsblaue Kurve „Asi Erich Fuß-ball-gott“ schmetterte.

Und wieder unzählige Anekdoten handeln davon, wie man ihn vermutlich wegen diverser Magen-Darm-Verstimmungen wiederholt aus dem Fanbus geschmissen hat. So stand er an Raststätten vor Bratislava, in Belgien oder gleich auf dem Autobahn-Standstreifen und wartete auf die nächste Mitfahrgelegenheit: Irgendein Schalker gabelte ihn immer auf, und so war er meist noch eher als die Fans, mit denen er zuvor im Bus gesessen hatte, am Ziel. Wenn man ihn später fragte, wie er das geschafft hat, blickte er einen mit glasigen Augen an und zuckte lächelnd die Schultern hoch. Er wusste es meist selbst nicht mehr.

„Ich habe Erich erstmalig bewusst Mitte der Neunzigerjahre erlebt“, erinnert sich Olivier Kruschinski, Vorsitzender der Stiftung „Schalker Markt“, während seiner Trauerrede. „Wenn er damals den ,Sonderblock Frieden‘ auf der Haupttribüne des alten Parkstadions betrat, war der Jubel stets groß. Und ich weiß nicht, woher er die Infos hatte, aber er war immer relativ pünktlich zur Abfahrt unseres Auswärtsbusses am Treffpunkt und stieg wie selbstverständlich mit ein – natürlich unangemeldet, ohne Eintrittskarte und zumeist ohne die Fahrt zu bezahlen. Erich war eine treue Schalker Seele, ein herzensguter, sozialer und liebevoller Mensch. Er war alles andere als ein Clown und vor allen Dingen: kein Asi.“

Unvergessen auch eine Story aus den Achtzigern, als der 1954 im heute zu Herten gehörenden Westerholt geborene Fan wie üblich ohne Eintrittskarte ins Parkstadion marschieren wollte. Eine Ordnerin kam auf die Idee, ihn aufzuhalten, worauf die halbe Nordkurve am Zaun stand, um die überforderte Aufpasserin aufzuklären, wen sie da am Einlass hindern wollte. Keine fünf Minuten später stand Erich in der Kurve und feuerte seinen S04 an.

Diese selten bis nie gekauften Tickets für die Spiele des Kumpel- und Malocherclubs thematisierte auch der prominente Cartoonist Oli Hilbring rührend aus Anlass von Erichs Tod am 12. Dezember. Er zeichnete ihn schwebend über der Himmelspforte, wo Petrus ihn fragt: „Eintrittskarte?“ Erichs Konter: „Brauch ich nicht!“

Aber nicht nur Petrus und der FC Schalke 04 gingen beim Kartenverkauf bei ihm leer aus, auch Begriffe wie Fahrschein, Bahncard, Ticket2000 oder später Bärenticket blieben Fremdwörter für ihn. Und er gehörte auch nicht zu den Menschen, die Rechnungen für das Schwarzfahren bezahlen oder Quittungen in Ordner abheften. Die Zeiten unbezahlter Zahlungsaufforderungen fanden jedoch 2016 mit seinem Einzug ins Cura Seniorencentrum in Ückendorf ein Ende. Pflegedienstleiterin Christina Kosigk verwaltete fortan die Zettelwirtschaft und zeichnet ein ganz anderes, weniger oberflächliches Bild von ihm.

„In der Pflege ist es so, und das kann vermutlich jede Pflegerin und jeder Pfleger bestätigen, dass man in einer Einrichtung immer einen Menschen besonders ins Herz geschlossen hat. Bei mir und nahezu allen Mitarbeitern hier war das Erich. Ein wunderbarer Zeitgenosse. Er war ein stark alkoholkranker Mann und so viel mehr als der Schnorrer, den einige in ihm sahen, die eben nicht mehr als die Außendarstellung eines Menschen sehen wollen. Er war lustig, herzlich, hilfsbereit und spendabel. Ein glücklicher Mann, der Schalke und das Leben geliebt und gefeiert hat wie kaum ein anderer. Er hat alles richtig gemacht und das Leben in vollen Zügen genossen.“

Sie erzählt von der Busfahrerin, die niemals eine Fahrkarte von ihm sah und ihn dennoch nicht an der offiziellen Haltestelle aussteigen ließ. Stattdessen kutschierte sie Erich immer 400 Meter weiter, vor die Haustür der Pflegeeinrichtung, damit er sicher ankam. Auch Polizisten und Rettungswagenfahrer hätten Erich gemocht, denn sie wussten, dass es mit ihm nie Palaver gab und er dankbar war, wenn man ihn – egal in welchem Zustand – sicher wieder nach Hause brachte.

Die Strafen wegen Schwarzfahrens finanzierte er übrigens stets selbst von seinem „Erwirtschafteten“, das er nahezu allabendlich mitbrachte: gut sichtbar, wenn ihm die Hose wegen des Gewichts der Euromünzen in den Kniekehlen hing. Dann stellte Kosigk ihn zuerst unter die Dusche, um später das Bargeld zu zählen, das sie auf sein Konto in der Einrichtung einzahlte, von dem die Rechnungen beglichen wurden. „Ich habe nie genau in Erfahrung bringen können, wie er das anstellte, so viel Geld zu verdienen. Zum Schluss fragte er auch gar nicht mehr danach, die Menschen steckten ihm einfach Kleingeld zu. Und nicht selten, gerade an Spieltagen, habe ich kleine Euroscheine in Packen von insgesamt 200 bis 300 Euro aus seiner Hose gefischt. Wenn ich ihn fragte, wie er das wieder angestellt hat, erzählte er von Fotos und Videos, die Leute mit ihm gemacht und traditionell dafür bezahlt hätten. ‚Ich brauch‘ nur die Kippen, die Kohle kannst du behalten‘, sagte er dann. ‚Ich bekomme ja morgen wieder Neues‘.“ Natürlich behielt sie das Geld nicht.

Geld war ihm, dessen Name in Gelsenkirchen meist geläufiger war als der des Bürgermeisters, egal. Es interessierte ihn nicht wirklich, und das „Haste mal ‘nen Euro?“ lief in seinem Ückendorfer Zuhause eher andersrum. Denn einige Mitbewohner pumpten ihn an, weil er der Einzige war, der noch „verdiente“. Er lieh es ihnen nicht, er gab einfach. Auch sonst dachte Erich selten an sich als vielmehr an die anderen. Wenn er an Weihnachten von Kruschinski mit Geschenken in Form von S04-Sweatshirts, Trikots, Unterhosen, Socken und Pflegeartikeln bedacht wurde, schleppte er die Sachen auf sein 24 Quadratmeter großes Zimmer, sortierte sie und gab anschließend den Weihnachtsmann. Er klopfte an die Zimmer seiner Nachbarn und verschenkte bis auf ein paar Kleinigkeiten alles weiter. Während der Corona-Pandemie hielt er durch seine Einkäufe von Bier und Zigaretten die Trinkhalle gegenüber beinahe allein am Laufen.

Ab und zu bereitete er der Belegschaft im Pflegeheim allerdings auch Sorgen, etwa wenn er wieder mal auf der Rolle und für Tage spurlos verwunden war und wenn Anrufe aus Krankenhäusern in Hamburg und diversen anderen Städten kamen, in die er verletzt eingeliefert worden war und nicht selten ausbüxte, sobald es ihm etwas besser ging. Zum Schluss aber kam er immer wieder zurück. Bis zum Dezember.

Erich Wehner, der das schaffte, was sonst eher prominenten Größen von Madonna über Schwarzenegger bis McCartney vorbehalten ist, nämlich zu Lebzeiten öffentlich für tot erklärt zu werden, starb am 12. Dezember 2022 mit 68 Jahren, nachdem er ins Koma versetzt werden musste, aus dem er nicht mehr erwachte.

Fast täglich wird unter dem Pflegepersonal und den Mitbewohnern über Erich gesprochen, und bis heute hat Christina Kosigk einen Kloß im Hals, wenn sie sein ehemaliges Zimmer betritt: „Sein Tod und die Art, wie er gestorben ist, haben mich sehr getroffen, weil ich mir für ihn immer gewünscht habe, dass er mit einer Pulle Bier in der Hand auf Schalke abdankt.“

Seit Jahrzehnten erzählt man sich die Legende von einem Volltreffer im Lotto oder auf der Pferderennbahn. Erich gewinnt, holt das Geld in bar ab, schnappt sich drei zufällig in der Nähe stehende Schalke-Fans und lädt sie ein auf eine Taxifahrt zum Auswärtsspiel bei den Bayern. Natürlich gibt es niemanden, der dabei gewesen ist. Das Schöne an dieser Geschichte ist aber, dass er es vermutlich genau so gemacht hätte.

… hielt in der Trauerhalle am Schalke Fan-Feld neben Propst Markus Pottbäcker und Olivier Kruschinski eine von drei Trauerreden für Erich Wehner. Er ist sicher, dass es das Größte war, was er als Schalker erreichen konnte.

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