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·29. März 2023

Miasanrot-Roundtable zum Trainerwechsel beim FC Bayern München

Artikelbild:Miasanrot-Roundtable zum Trainerwechsel beim FC Bayern München

Im zweiten Anlauf hat es nun geklappt. Das Trainertransferfenster für Thomas Tuchel war kurz zum Stoßlüften geöffnet und die Führungsetage des FC Bayern hat beherzt zugegriffen. Zeit für einen Miasanrot-Roundtable.

Fünf Fragen rund um die aktuelle Situation und die Zukunft des FC Bayern München liegen auf dem virtuellen Redaktionstisch. Justin, Georg, Alex und Daniel haben sich daran abgearbeitet.


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Thomas Tuchel – flexibel und einfühlsam

Was ist auf und neben dem Platz von Thomas Tuchel zu erwarten? An welchen Stellschrauben wird er zuerst drehen?

Georg: Was die Formation angeht, rechne ich nicht mit revolutionären Änderungen. Bei Chelsea ließ Tuchel bevorzugt eine Dreierkette spielen, die der Nagelsmannschen gar nicht unähnlich ist. Im Champions-League-Finale gegen Manchester City lief er mit Mount, Havertz und Werner als vorderem Dreieck auf. Er kennt also auch die Situation ohne klassische Neun. Taktisch kann ich mir vorstellen, dass sein erster Fokus auf mehr defensiver Stabilität liegt. Es ist kein Zufall, dass Chelsea in den sieben K.O.-Spiel auf dem Weg zum Champions-League-Titel 2021 nur zwei Tore kassierte.

Alex: Ich weiß naturgemäß nicht, was Tuchel als Erstes tun wird, aber ich kann sagen, was ich jetzt an seiner Stelle tun würde.

Wie Tuchel selbst auf seiner Vorstellungs-PK gesagt hat, hat er die Spiele und den Kader der Bayern in den letzten Monaten nur am Rande, als einen von vielen verfolgt. Ich würde daher, wenn ich er wäre, mit einem Videostudium der Spiele der Bayern der letzten Monate beginnen und dabei einen besonderen Fokus auf einige der besonders guten und einige der besonders schwachen Spiele legen, um das Spiel der Bayern, wenn es richtig gut läuft und wenn es richtig schlecht läuft, im größtmöglichen Kontrast zueinander zu sehen. Daraus würde ich im Lichte der von Nagelsmann gewählten Taktik erste Erkenntnisse über Probleme und Vorzüge bei Positionierung und Bewegungsmustern einzelner Spieler und bestimmter Gruppen von Spielern in bestimmten Bereichen gewinnen, sowie nicht zuletzt auch Einblicke in Formschwankungen meiner Spieler gewinnen. Kurzum, ich würde erst einmal mit einer groben Stärken- und Schwächenanalyse der Mannschaft in Bezug auf Taktik, Aufstellung, Spielertypen, Form usw. beginnen.

Nachdem ich mir so ein erstes Bild von der Mannschaft und ihrem gegenwärtigen Zustand verschafft habe, würde ich vor dem Hintergrund der auf der Vorstellungs-PK von den Bayern-Verantwortlichen geäußerten Diagnose, dass das größte gegenwärtige sportliche Problem der Mannschaft die mangelnde Konstanz der Leistungserbringung auf hohem Niveau ist, unter Berücksichtigung meiner Erkenntnisse aus der Erst-Analyse damit beginnen, pragmatisch im Sinne einer “quick-win”-Strategie – und nicht ideologisch im Sinne eines angestrebten Lieblingssystems – die von mir identifizierten taktischen und personellen Defizite in der Mannschaft aufzuarbeiten, die zu dem Mangel an Konstanz in den vergangenen Monaten am meisten beigetragen haben. Das heißt, ich würde Spieler umstellen, Positionierungen anpassen, Laufwege für die Spieler individuell und in Gruppen neu kalibrieren, gegebenenfalls eine einfach zu beherrschende Grundordnung gemäß der Stärken meines Kaders auswählen, et cetera – und all dies selbstverständlich in einer permanenten Feedback-Schleife aus Training, Trainingseindrücken und Anpassung (denn naturgemäß wird Tuchel in den nächsten Wochen sehr schnell noch sehr viel mehr über seine Spieler lernen, als er jetzt schon wissen kann).

Kurz zusammengefasst: 1. Initiale Problemanalyse; 2. Pragmatische Erständerungen; 3. Laufende Anpassung gemäß neuer Erkenntnisse – und das alles ohne Denkschablonen und Denkverbote und ohne Ansehen der Person, einfach pragmatisch und zweckorientiert, wobei der Zweck Konstanz auf hohem Niveau ist.

Justin: Was Alex schreibt, ist in einer idealen Umgebung natürlich grundsätzlich sinnvoll. Einzig die Zeit wird ihm dafür nicht bleiben. Ich denke auch nicht, dass es darum gehen wird, eine Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Spieler wissen ganz genau, worin sie gut sind und worin nicht. Das Erste, was Tuchel also machen muss und machen wird, sind Einzelgespräche. Nicht mit jedem einzelnen Spielern, aber mit jenen, die in der Hierarchie weit oben stehen. Er wird sich natürlich das eine oder andere Spiel anschauen und darauf seine taktischen Ideen sukzessive aufbauen. Wie Georg richtig schreibt und wie Tuchel es selbst auch gesagt hat: Viel umwerfen wird er nicht. Er übernimmt hier ja auch keinen Sauhaufen. Teilweise könnte man bei der öffentlichen Darstellung den Eindruck gewinnen, dass die Bayern ein Katastrophenteam sind. Gerade gegen Paris Saint-Germain haben sie bewiesen, dass sie das nicht sind. Es geht hier um Konstanz. Tuchel wird also viel von dem nehmen, was Nagelsmann bereits gemacht hat und in Details an einigen Stellschrauben drehen. Der Mann ist auch deshalb so erfolgreich gewesen, weil er es wie nur wenige auf dieser Welt versteht, seine Philosophie und seine Ideale derart flexibel und einfühlsam auf die vorhandenen Spielertypen anzupassen, dass nahezu alle unter ihm Spitzenleistungen erbringen. Und genau das ist die Erwartungshaltung an ihn. Zumindest kurzfristig. Langfristig wird er taktisch sicher mehr verändern wollen und können – aber langfristig ist in München ohnehin ein dehnbarer Begriff.

Fehlt ein Ankersechser?

Welche Spieler werden voraussichtlich am meisten von Thomas Tuchel profitieren? Wer wird es schwieriger haben unter dem neuen Trainer oder den Anpassungen am Spielsystem?

Alex: Am meisten profitieren werden wahrscheinlich die Spieler, bei denen es in der Zusammenarbeit mit Nagelsmann die meisten Probleme gab (objektiv oder subjektiv in der Wahrnehmung der Spieler) und/oder die unter ihm nicht in dem Maße, wie man isoliert betrachtet vielleicht erwarten würde, zum Einsatz gekommen sind, zum Beispiel Gravenberch, Cancelo, Gnabry, Sané und Müller. Am stärksten neu behaupten werden sich diejenigen Spieler müssen, die unter Nagelsmann per se einen hervorragenden Stand hatten, auch wenn die Leistungen das gegebenenfalls mitunter nicht hergegeben haben sollten, zum Beispiel Kimmich, Goretzka und Upamecano, die praktisch immer gesetzt waren.

Artikelbild:Miasanrot-Roundtable zum Trainerwechsel beim FC Bayern München

Wer wird profitieren? Wer muss sich neu beweisen?

(Quelle: Stuart Franklin/Getty Images)

Justin: Ich denke, dass die komplette Offensive profitieren wird. Nicht, weil Nagelsmann schlechte Arbeit geleistet hat, sondern weil ein Trainerwechsel rein psychologisch gesehen etwas bewirkt und den einen oder anderen Knoten, der ganz offensichtlich da war, platzen lassen könnte. Gleichzeitig kann ich mir vorstellen, dass es für die “alten Hasen” schwierig werden könnte. Allen voran Thomas Müller, für den es erfahrungsgemäß oft schwierig ist, eine Position zu finden. Beweisen können werden sich aber nahezu alle. Große Gewinner könnten zudem Alphonso Davies und João Cancelo werden. Tuchel spielt gern mit mindestens einem sehr offensiven Außenverteidiger. Im Dreierkettensystem hätte er hier sogar eine Art Optimalbesetzung. Darauf bin ich gespannt. Auch Serge Gnabry und Sadio Mané sind im Speziellen Spieler, die profitieren könnten, weil sie unter Nagelsmann oft außerhalb ihrer besten Positionen eingesetzt wurden. Tuchel ist da eher Pragmatiker und versucht, möglichst viele Spieler in die individuell beste Rolle zu bringen, statt Spieler einem großen Ganzen auch mal zwanghaft unterzuordnen.

Georg: Ich rechne nicht mit gravierenden Änderungen. Rein logisch haben jene Spieler neue Chancen, die zuletzt im zweiten Glied standen, während bisher gesetzte Spieler mit einer neuen Konkurrenzsituation zu kämpfen haben. Eine Konstellation, auf die ich sehr gespannt bin, ist Jamal Musiala. Nagelsmanns Zentrumsfokus und die damit verbundenen “vielen Beine” im und um den Strafraum waren ideal für ihn und sein unglaubliches Talent, durch solche Engen zu dribbeln oder zu kombinieren. Ein eventuell größerer Flügelfokus könnte sich negativ auf ihn auswirken.

Daneben möchte ich bereits einen kleinen Blick auf die Sommerpause werfen. Julian Weigl, Marco Verratti, Jorginho – Tuchel setzte meist auf Ankersechser. Vor allem Weigl und Jorginho hatten unter ihm die wahrscheinlich stärksten Phasen ihrer Karriere. Sehen wir ab Sommer endlich einen neuen Ankersechser beim FC Bayern? Oder schult er Kimmich komplett dahingehend um?

Game Over gegen den BVB?

Innerhalb von 19 Tagen stehen in allen Wettbewerben K.O.-Spiele an. Welche Leistungen sind zu erwarten und wie hoch sind die Chancen, Ende April noch im Rennen um alle Titel zu sein?

Alex: Seit der Bekanntgabe der Verpflichtung von Tuchel ist die Meisterschaft in der Bundesliga für die Bayern für mich eine “gmahde wiesn”, während ich, wie ich schamlos zugebe, bei uns im internen Slack-Chat noch eine gute Woche zuvor dem BVB endgültig zu meinem Topfavoriten auf die Meisterschaft erklärt hatte. Dieser Gedanke ist jetzt völlig verflogen. Dass die Bayern über eine in der gegenwärtigen Besetzung in der Bundesliga individuell alles überragende Mannschaft verfügen, die potentiell jeden Gegner in Grund und Boden spielen kann, haben sie – auch unter Nagelsmann – häufig genug bewiesen, taktisches Verständnis und Potential sind also da. An der Fitness mangelt es auch nicht, die Bayern laufen enorm viel, also können für die diversen Leistungsschwankungen der letzten Monate eigentlich nur psychische Faktoren verantwortlich gemacht werden.

Mit Tuchel gibt es jetzt eine neue Aufbruchstimmung, alle Spieler können – und müssen – sich neu beweisen, bestehende taktische und personelle “Fesseln” werden “gelöst”, jeder Spieler hat die Chance, sich auch mit seinen taktischen Ideen noch einmal ganz neu einzubringen und dem Trainer in Gesprächen und im Training Vorschläge zu machen, die ihm mit seinem spezifischen Spielerprofil entgegenkommen. Das allgemeine Energieniveau wird steigen, die Spieler werden sich neu fokussieren, die Handlungsintensität wird steigen.

In der Bundesliga werden die Bayern jetzt marschieren. Titelwahrscheinlichkeit > 90%

Was die Champions League angeht, bin ich etwas zurückhaltender, aber das hat nichts mit der neuen Qualität der Bayern unter Tuchel zu tun, sondern einfach mit Manchester City. Diese Mannschaft kann jede Mannschaft schlagen, egal wie gut sie ist, und sie kann das auch zweimal am Stück. Die Chance aufs Weiterkommen sehe ich hier bei 40 bis 60%, je nach Tagesform.

Freiburg im Pokal? Das wird schon klappen, da bin ich ziemlich zuversichtlich. Prognose: 90 %.

In Toto ergibt das eine Gesamtwahrscheinlichkeit dafür, dass die Bayern Ende April noch in allen drei Wettbewerben vertreten sind, von ca. 40%.

Justin: Das finde ich an der Entscheidung zum Trainerwechsel am bemerkenswertesten. In sechs Spielen kannst du vieles gewinnen und auch alles verlieren. Der Druck ist enorm und Tuchel hat eigentlich keine Zeit. Das macht die Konstellation sehr spannend. Man setzt hier sehr viel auf einen psychologischen Effekt und darauf, dass die Mannschaft jetzt stärker im Fokus steht und liefern muss. Das ist durchaus ein Risiko.

Georg: Ich tue mich schwer mit einer Prognose. Sehe ich ein Szenario, in dem Tuchels Bayern in der Bundesliga aus den verbleibenden neun Spielen 27 Punkte holen? Ja. Ich sehe aber auch ein Szenario, in dem ausgerechnet Tuchels Debüt gegen Dortmund in die Hose geht und die Meisterschaft danach nicht mehr in der eigenen Hand liegt. Im Rennen um die Meisterschaft wären sie Ende April trotzdem noch. Für das Pokalspiel direkt danach bin ich optimistisch, und gegen City wird es ein Münzwurf. In Summe würde ich sagen, die Chance, noch um alle Titel im Rennen zu sein, liegt bei gut 40% (99% x 85% x 50%).

Die letzte Patrone?

Wie sehr stehen Hasan Salihamidzic und Oliver Kahn unter Druck, falls der Wechsel auf der Trainerbank nicht zu einer Steigerung der Leistungen und Ergebnisse unter Tuchel führt?

Daniel: Salihamidžić sollte gegangen werden. Erst mantraartig vom “Langzeitprojekt Nagelsmann” schwadronieren, um ihn dann mit Lüge und Hintertücke rauszuschmeißen. Denn nicht weniger war dieses Schmierentheater am Wochenende. Man wollte ja ganz offensichtlich Nichts sagen, hatte vorher ein paar Antworten entworfen, die man dann einfach auf jede Frage schmiss. Eine völlig offensichtliche Kommunikationsstrategie ist der angebliche Bruch zwischen Kabine und Trainer.

Ein Bruch, der ganz offenbar gar nicht existiert. Einige Spieler wie die Kapitäne Neuer und Müller mögen weniger Nagelsmänner sein, doch mit der Causa Kovač oder Ancelotti ist das nicht zu vergleichen. Goretzka merkte man die Schmerzen in der Stimme und Gesicht an, seinem Sportvorstand nicht der direkten Lüge zu bezichtigen, machte es indirekt aber doch.

Probleme gab es freilich mit Nagelsmann, doch die Einfachheit, in die die sportliche Leitung gerade flüchtet, ist verlogen und falsch. Am Ende kommt immer die Wahrheit raus und diese ist nicht auf Seiten der derzeit vorgetragenen Chefetagen-Mär.

Sicherlich trifft das alles auch auf Kahn und Hainer zu, doch sollte man nicht außer Acht lassen, dass a) Brazzo länger da ist und b) Nagelsmann ganz explizit sein Mann gewesen war. Er ließ es auf den Bruch mit Flick ankommen, wodurch der FC Bayern erst in Zugzwang geriet. Er war es, der dann eine Weltrekordablösesumme in den Wind schoss. Und mehr als jeder andere ist auch er für die gnadenlos überschätzten Transferfenster verantwortlich.

De Ligt mag fabelhaft sein, einzelne Deals wie Mazraoui oder jüngst Cancelo sind zu loben. Doch am Ende wird alles durch die Schnapsidee negiert, den besten Mittelstürmer des 21. Jahrhunderts nicht direkt zu ersetzen, um dann trotzdem von einem verbesserten Kader zu sprechen. Stattdessen kam Fehlkauf Mané, der gerade dabei ist, als einer der größten Bayern-Transfer-Flops aller Zeiten in die Geschichtsbücher einzugehen.

Nein, mit der unrühmlichen Entscheidung, das Experiment Nagelsmann ohne jeder Not vorzeitig zu beenden, sollte auch im Sommer die Ära Salihamidžić enden, ganz gleich, was noch passiert (die Champions League wird man nicht gewinnen). Er hat seinen Anteil an all den Meisterschaften und der Corona-Königsklasse, irgendwann hat man sich aber auch einfach aufgerieben.

Artikelbild:Miasanrot-Roundtable zum Trainerwechsel beim FC Bayern München

Geht es der Führungsetage bald selbst an den Kragen?

(Quelle: Lars Baron/Getty Images)

Alex: Ganz nüchtern wird man wohl festhalten müssen, dass Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić nur in den wenigsten Fällen jemals durch irgendwas, was sie machen könnten, unter Druck geraten werden, denn wer sollte sie auch unter Druck setzen? Der Aufsichtsrat der AG etwa, gefüllt mit Freunden, Gefährten und langen Bekannten?

Also nehme ich mir die Freiheit heraus, die Frage zusammen mit der nächsten Frage zu beantworten und dahingehend umzuformulieren, ob Hasan Salihamidžić und Oliver Kahn mit ihrer Transferpolitik der letzten Jahre eine Mitverantwortung für das vorzeitige Aus von Nagelsmann tragen.

Die Antwort auf diese Frage lautet für mich “ja”, denn der gegenwärtige Kader der Bayern hat meiner Meinung nach ein individuelles und ein numerisches Problem, die es einem Trainer – jedem Trainer, auch Tuchel wird das noch zu spüren bekommen – schwer machen, die Mannschaft auf einem konstant hohen Leistungsniveau zu halten.

1. Auf der individuellen Ebene scheint mir der Kader (soweit ich das von außen beurteilen kann) mit einigen durchaus “schwierigen” Spielern besetzt zu sein, denen es entweder aufgrund persönlicher Merkmale schwerfällt, konstante Höchstleistungen auf Elite-Niveau zu erbringen (Stichwort Konstanz, siehe Frage 1), z. B. Serge Gnabry und Leroy Sané, oder die eine hohe Erwartungshaltung im Umgang mit sich und ihren Einsatzzeiten an den Tag legen und schnell enttäuscht und frustriert sind, wenn sie nicht berücksichtigt werden (Thomas Müller ist das offensichtliche Beispiel, Neuer und Cancelo sind zwei weitere).

2 Auf der numerischen Ebene liegt für mich die Beobachtung nahe, dass der Kader nicht nur relativ voll mit schwierigen Spieler ist, sondern auch insgesamt zu voll. Es gibt im Kader der Bayern zu viele namhafte Spieler mit einem natürlichen Anspruch auf Einsatzzeiten, die dann schnell Frust schieben, wenn sie regelmäßig nicht zum Einsatz kommen und auf der Bank sitzen müssen, weil eine erste Elf auch beim FC Bayern stets nur Platz für 11 Spieler hat. Gravierend verschlimmert wird dieser Umstand noch dadurch, dass einige Positionen besonders generös mit anspruchsvollen Spielern besetzt sind, zum Beispiel der Rechtsverteidiger mit Cancelo, Pavard, Stanisic, Mazraoui, (Sarr lasse ich außen vor) und im 3-5-2 auch noch Coman als Wingback. Auch auf den Offensivpositionen (“forwards”) tummeln sich mit Sané, Mané, Gnabry, Coman, Müller, Musiala und im 3-5-2 auch noch Davies die Spieler, und dabei habe ich die Mittelstürmer-Position mit Choupo-Moting und Tel noch gar nicht erwähnt. Das ergibt eine einmalig starke Bank und jeder TV-Experte wird ganz ehrfürchtig, wenn er on-air die Gelegenheit bekommt, die nahezu unendlichen Nachlegemöglichkeiten des Trainers von der Bank zu beschreiben, aber diese numerische Tiefe birgt natürlich auch ein gehöriges Maß an Frustpotential und Sprengstoff für die Trainer-Mannschaft-Beziehung.

Kurz gesagt, der Kader der Bayern ist nach meiner Auffassung relativ voll mit schwierigen Spielern und insgesamt zu voll, und gegebenenfalls sogar zu unbalanciert zu voll, dass sich ein Trainer, egal welchen Namens, bei der Aufstellung seiner ersten Elf nur allein auf Leistung und taktische Optimierung der ersten Elf konzentrieren könnte und keine Rücksicht auf eine Balance der Einsatzzeiten zur Vermeidung von Friktionen bei Stimmung und Arbeitsmoral der beteiligten Personen nehmen müsste. Und für die Kaderzusammenstellung sind Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić wesentlich mitverantwortlich, weshalb sie nach meinem Dafürhalten auch ein erwähnenswertes Maß an indirekter Mitverantwortung für das vorzeitige Aus von Julian Nagelsmann tragen.

Justin: Aus meiner Sicht ist Tuchel die letzte Patrone für Salihamidžić. Seine Transferbilanz wird besser bewertet, als sie ist. Da sind viele große Namen dabei, aber nur wenige davon haben hundertprozentig funktioniert. Es wurde sehr viel Geld für einen Kader ausgegeben, der auf dem Papier zwar sehr breit ist, aber dennoch klare Schwächen aufweist – die Neunerposition und auch die Sechs als zwei Beispiele. Man hat fünf Rechtsverteidiger im Kader, auch weil man einem Bouna Sarr einen sehr langfristigen Vertrag gegeben hat. Da waren in den letzten Jahren sehr viele spontane Transfers dabei, die eher eine Reaktion waren als dass sie einem klaren Plan gefolgt sind. Ich erkenne da keinen echten roten Faden. Man hat sicher den einen oder anderen Flop nochmal gut verkaufen können, aber das ist nicht der Anspruch. Bei den Trainern haben sich Salihamidžić und sein Team jetzt zweimal verzockt. Einmal auf zwischenmenschlicher Ebene, einmal auf sportlicher. Mir fehlt die klare Linie. Natürlich ist der Ruf nach einer solchen deutlich leichter als die Umsetzung, aber meiner Meinung nach ist der Druck jetzt da. Auch wenn ich mir immer noch schwer vorstellen kann, dass man intern irgendeinen Handlungsbedarf sieht.

Georg: Wenn es nach mir geht: gar nicht. Soweit es mich betrifft, sitzt Salihamidžić fest im Sattel. Die sportliche Bilanz unter seiner Ägide bleibt insgesamt herausragend, insbesondere gemessen am Geldeinsatz im Verhältnis zur internationalen Peer Group.

Auch wenn ich bis Sommer gewartet hätte, ist die Entscheidung nachvollziehbar bis richtig, sich jetzt von Nagelsmann zu trennen. Natürlich ist die Kritik für die aus dem Ruder gelaufene Kommunikation an jenem Donnerstagabend angebracht. Natürlich kann man darüber reden, ob der Vertrag für Nagelsmann einen Ticken zu lang oder die Ablöse für ihn einen Ticken zu hoch waren. Aber das ist für mich B-Note. Ärgerlich, aber nicht maßgeblich.

Und natürlich hat der Kader kleinere Schwächen und Ungleichgewichte.  Aber auch das sind für mich Kleinigkeiten. Wir reden über einen Kader, bei dem (relativ) junge Weltklassespieler wie de Ligt (23 Jahre), Upamecano (24), Davies (22), Kimmich (28), Coman (26) und Musiala (20) noch mindestens zwei Jahre gebunden sind. Der FC Bayern ist gut aufgestellt. So gut, dass der europaweit umworbene Top-Trainer Thomas Tuchel sich ad hoc für die Option München und gegen andere Optionen entschieden hat. Das spricht für mich in Summe für das Management.

Tuchel ist ein Toptrainer

Hat der FC Bayern die am schwersten zu trainierende Spielerkabine im Männerfussball? Welchen Anteil spielt dabei die in den letzten Transferperioden erzeugte Breite im Kader?

Daniel: Man kann die Quadratur des Kreises nicht erwarten. Man kann nicht den Trainer mit nur einem winzigen Pünktchen Abstand zur Tabellenführung entlassen, aber gleichzeitig erwarten, er solle gefälligst jeden Spieler bei Laune halten, Talente entwickeln und Jugendspieler an die Mannschaft heranführen.

Möchte man, mehr Spielzeit für Spieler wie Gravenberch, kann man dann nicht in die gesamte Fußballwelt inklusive dem neuen Trainer hinausposaunen, es zählen nur Ergebnisse.

Des weiteren bezweifle ich, dass der FC Bayern anno 2023 ohne die tatsächlich schwer zu führenden Ribéry, Robben und Lewandowski wirklich so viele Stinkstiefel hat. Wie oben ausgeführt, halte ich das viel mehr für eine Chimäre der sportlichen Leitung.

Justin: Vielleicht nicht im Superlativ, aber auf jeden Fall eine der schwersten Kabinen. Die Kontinuität der letzten Jahre hat dazu geführt, dass einzelne Spieler starke Machtpositionen aufgebaut haben – die übrigens auch erfolgreiche Trainer wie Pep Guardiola zu spüren bekamen. Ich bin mir sicher, dass eine gewisse Ansammlung von Egos auch dazu geführt hat, dass er nicht länger als drei Jahre bleiben wollte. Aber das würde jetzt zu weit vom Thema wegführen. Es wird spannend zu sehen, ob Tuchel mit seiner Art besser damit zurechtkommt. Auch er wird irgendwann merken, dass einzelne Spieler schon nach wenigen Anlässen Interna durchstecken oder anderweitig Druck aufbauen. Ein Stück weit ist das in diesem Geschäft auch normal, das hat der FCB nicht exklusiv. Gleichwohl finde ich, dass es in München nochmal ausgeprägter ist. Sobald es mal nicht läuft, gibt es Mechanismen, die konträr zum eigentlichen Sinn eines Mannschaftssports stehen. Die Breite spielt da sicher auch eine Rolle. Auf der anderen Seite wurde jahrelang kritisiert, dass der Kader zu dünn sei. Ich denke, wer einerseits als Topklub Talente entwickeln und andererseits erfolgreich sein möchte, wird keinen guten Mittelweg finden – oder nur in Ausnahmen. Tendenziell ist ein breiter Kader immer dann gut, wenn man allen Spielern eine angemessene Spielzeit geben kann, also lange in allen Wettbewerben dabei ist und ein gutes Rotationsprinzip hat. Und dann hat man auch lieber einen breiten als einen dünnen Kader. Tuchel traue ich durchaus zu, damit umzugehen. Es ist eine unterschätzte Qualität von Toptrainern, dass sie auch 15 oder 18 nahezu gleichwertigen Spielern das Gefühl vermitteln können, dass alles genau so sein muss, wie es ist. Tuchel ist ein Toptrainer mit dieser Qualität.

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