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·19. August 2024

Let them cook!

Artikelbild:Let them cook!

In neuer Formation tat sich der FC St. Pauli zuletzt nicht so leicht. Ist es also Zeit, zur alten Formation zurückzukehren?(Titelfoto: Stefan Groenveld)

Das Echo auf das erste Pflichtspiel des FC St. Pauli der Saison 24/25 ist fast schon dramatisch. Auf das knappe und, zugegeben, spielerisch nur selten überzeugende 3:2 n.V. gegen den Halleschen FC, folgte aus allen Ecken Kritik vor allem in eine Richtung: Das vom neuen Cheftrainer Alexander Blessin implementierte 3-5-2.


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Die Kritikpunkte sind vielfältig. Für die Innenverteidigung seien die Wege in der Restverteidigung zu weit, wenn höher gepresst wird. Sowieso sei das höhere Pressing nicht griffig. Zudem exkludiere diese Formation zwei von St. Paulis besten Spielern der Vorsaison, Elias Saad und Dapo Afolayan, weil das System eben keine offensiven Außenpositionen mehr hat. Und die Idee, im Spielaufbau viel schneller nach vorne zu spielen, funktioniere nicht. Ist es also Zeit, diesen Ansatz über Bord zu werfen, eine Art Notbremse zu ziehen? Dazu schauen wir uns die einzelnen Kritikpunkte einmal genauer an.

Variabler Spielaufbau stottert

Im letzten Testspiel gegen Atalante Bergamo konnte man sehr deutlich erkennen, wie der FC St. Pauli den Ball nach vorne spielen wollte. Bei Ballbesitz formierte sich eine Doppelsechs und die Doppelspitze vorne erwartete zielgenaue Pässe aus der Innenverteidigung, um die Doppelsechs per Klatschball ins Spiel zu bringen. Diese Variante war fehleranfällig, weil vor allem in der ersten Halbzeit einige Pässe von hinten ihr Ziel deutlich verfehlten. Blessin sprach im Anschluss an die Partie von „vielen dummen Abspielfehlern“ und bemängelte zudem, dass es an richtigen Anschlussaktionen gemangelt habe. Aber wenn es mal gelang, die Doppelsechs so ins Spiel zu bekommen, dann ergaben sich große Räume für den FC St. Pauli.

Andere Aufbauvariante in Halle

Gegen den Halleschen FC war von dieser Aufbauvariante gar nichts zu sehen. Stattdessen probierte der FCSP über die Außenverteidiger oder Achter, den eigenen Sechser ins Spiel zu bringen und wollte dann von dort das Spiel auf die Gegenseite verlagern. Auch diese Variante sollte theoretisch zu Torgelegenheiten führen, war aber oft zu fehleranfällig, spätestens bei den Flanken von der rechten Seite (also nach der Verlagerung) war Schluss mit der Passgenauigkeit. Cheftrainer Blessin war sowohl mit Fehlerquote als auch Geschwindigkeit unzufrieden: „Wir haben nicht schnell genug verlagert, hatten Schwierigkeiten mit der Ballzirkulation.“

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Jackson Irvine nach dem Spiel. Noch funktioniert nicht alles.

// (c) Oliver Hardt / Getty Images via OneFootball

Angenehm ist, dass Alexander Blessin sehr klar und transparent ist in seinen Analysen, die Probleme und Fehler immer deutlich benennt. Angenehm ist auch, dass bereits zwei im Ansatz deutlich unterschiedliche Aufbauvarianten beobachtet werden konnten. Das deutet darauf hin, dass der FC St. Pauli ziemlich flexibel in der Saison sein möchte. Um sich so dem jeweiligen Gegner besser anpassen zu können. Aber die Varianten müssen natürlich auch funktionieren, nicht nur theoretisch vielversprechend sein. Hier wird hoffentlich die Matchpraxis Stück für Stück zu massiven Verbesserungen führen. Es sei daran erinnert, dass die Mechanismen und Abläufe im Offensivspiel des FCSP in der Vorsaison auch noch nicht so sicher saßen zu Saisonbeginn – zumindest waren die Stimmen nach drei 0:0 in Folge an den Spieltagen 2 bis 4 der Saison 23/24 ziemlich ähnlich.

Pressing zündet nicht

Was im Spiel gegen Halle selten bis gar nicht geklappt hat und viel eher eine Sache ist, die zu Stirnrunzeln führen sollte, war das Verhalten des Teams gegen den Ball. Denn wirklichen Druck verspürten die Viertligaspieler aus Halle nur sehr selten, kurz nachdem sie den Ball gewonnen haben und/oder in der eigenen Innenverteidigung. Dabei sollen das Gegenpressing, die ersten Sekunden nach eigenem Ballverlust, und das Pressing eines der zentralen Elemente im Spiel des FC St. Pauli werden.

Defensivarbeit ist Teamarbeit

Gegen Halle aber war das Verhalten im Spiel gegen den Ball einer der großen Schwachpunkte. Einer, der unter anderem dazu führte, dass das Team nach dem Ausgleich wieder in Rückstand geriet. Denn klar, die Innenverteidiger des FC St. Pauli sind nicht für Tempo bekannt. Wenn ein Gegner aber trotz hoher eigener Positionierung überhaupt keinen Druck zu spüren bekommt und sich locker und leicht durch die Pressinglinien kombinieren kann (wie beim 1:2 aus Sicht des FCSP), dann ist die Fehlerquelle vielfältiger beziehungsweise würde jede Innenverteidigung Probleme bekommen.

Klar, man darf die FCSP-Innenverteidiger nicht von der Kritik ausnehmen. Wichtig ist aber, dass man die Defensivarbeit als komplexes Gebilde versteht: Alle Zahnrädchen muss ineinandergreifen, damit es optimal funktioniert. Gibt es von den Stürmern und Achtern keinen Druck auf den Ball, dann bekommen die Innenverteidiger Probleme, weil man den Gegner einlädt. Gegentore oder gegnerische Torchancen sind daher oft das Produkt einer ganzen Fehlerkette, seltener (wie beim 0:1 in Halle) ein Fehler eines einzelnen Spielers.

Ein Team, keine Startelf

Das Pressing und die Aufbauidee waren gegen Halle also nicht unbedingt das Gelbe vom Ei. Was hingegen sowohl gegen Halle als auch schon gegen Bergamo funktioniert hat, war die taktische Umstellung des FC St. Pauli auf ein 3-4-3 mit der Einwechslung von Elias Saad und Dapo Afolayan. Hierdurch konnte jeweils spät im Spiel nochmal ein ganz anderer Druck auf das gegnerische Team erzeugt werden und in beiden Partien hatte der FCSP hinten raus nochmal überzeugen können.

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Oladapo Afolayan und ein schöner Abendhimmel über Halle.

// (c) Oliver Hardt / Getty Images via OneFootball

Mehr offensive Flexibilität ist riesiger Vorteil

Bevor man der Frage nachgeht, ob zum Kader des FC St. Pauli dieses oder jenes System besser passt, muss man erstmal festhalten, wie groß der Wert dieser dazugewonnenen Flexibilität ist. Dass ein Team mit zwei Formationen in die Saison geht, die sich recht deutlich voneinander unterscheiden, kann im Saisonverlauf eine ganz, ganz große Stärke werden. Johannes Eggestein erklärte in Halle, wie groß der Vorteil dadurch ist: „In der Offensive haben wir jetzt die Möglichkeit, etwas zu verändern, ob systematisch oder mit neuen Spielern. Das hilft uns enorm, so variabel zu sein.“

Fußballer möchten auf dem Platz stehen und spielen, völlig klar. Diesem Grundsatz folgend bedeutet ein Startelfplatz auch eine Art Erfolg. Wer auf der Bank sitzt, ist nicht gut genug, muss sich strecken, um in die Startelf zu kommen. Alexander Blessin hat in Gesprächen bereits mehrere Male angedeutet, dass er von diesem Konzept eher wenig zu halten scheint. Als er vor dem Halle-Spiel auf mögliche Veränderungen in der Startelf gefragt wurde, erklärte er „Probleme“ damit zu haben, wenn von einer „ersten Elf“ gesprochen werde. Vielmehr möchte er „die ganze Mannschaft mit reinnehmen“, möchte „Spieler, die in jeglicher Hinsicht bereit sind zu performen. Egal, wann sie reinkommen.“

Formationen im Konkurrenzkampf

Denn wie auch beim Pressingverhalten, ist auch ein Spiel als komplexes Gebilde zu betrachten. Hätte das Spiel mit Afolayan und Saad gegen Bergamo und (mit Abstrichen) Halle so gut funktioniert, wenn diese Spieler auch zu Spielbeginn auf dem Platz gestanden hätten? Oder profitieren beide Spieler – und damit der FC St. Pauli – massiv davon, komplett frisch auf eine gegnerische Defensive zu treffen, die bereits über eine Stunde vollen Einsatz leistet? Um das beantworten zu können, wäre eine Gegenprobe nötig, die bisher fehlt. Aber es zeigte sich, dass diese taktische und personelle Umstellung nach 60-70 Minuten nochmal einen richtigen Boost auslösen kann. Das ist etwas, was in der Vorsaison in schwierigen Spielen gefehlt hat.

Trotzdem dürften einige Spieler mit ihrer Bankrolle weiterhin nicht zufrieden sein. Das nennt sich Konkurrenzkampf und wenn dieser in richtige Bahnen gelenkt wird, dann schaukelt sich das Leistungsniveau dadurch immer weiter hoch. Frag mal bei den beiden Achtern des FCSP oder der Doppelspitze, wie gut die es finden würden, wenn das 3-4-3 die Anfangsformation wird. Sie werden sicher viel dafür tun, dass das 3-5-2 bestmöglich funktioniert, weil sie dabei jeweils eine Position mehr zu besetzen haben. Diese Flexibilität kann ein großer Vorteil im Saisonverlauf sein.

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Das unter Blessin implementierte 3-5-2 ruckelt also (noch). Das ist alles andere als ungewöhnlich. Es wäre vermessen zu erwarten, dass die Spieler des FC St. Pauli innerhalb von fünf Wochen Vorbereitung viel von dem erfolgreichen Fußball der Vorsaison ad acta legen und stattdessen mit einigen, im Kern völlig anderen Grundprinzipien zuverlässig arbeiten können. Entsprechend ist es auch nicht verwunderlich, dass Blessin bereits nach dem Bergamo-Spiel ankündigte, dass man noch weitere Zeit zur Vorbereitung benötige – erst nach der ersten Länderspielpause (beginnt nach dem zweiten Spieltag) sieht er die Vorbereitung als abgeschlossen an.

„Wir müssen einen neuen Style of Football lernen“, erklärte dann auch Hauke Wahl nach Abpfiff in Halle auf die Frage nach den Schwierigkeiten im Spiel und bat damit um Geduld. Die Zeit ist in diesem Fall ein ganz wichtiger Faktor. Das Training, so berichten es viele Spieler, ist unter Blessin sogar noch etwas intensiver als unter Hürzeler. Und der Cheftrainer erklärte nach dem Bergamo-Spiel, dass sein Team noch nicht so weit ist, um die eigene Pressingidee die vollen 90 Minuten durchziehen zu können, noch Pausen braucht. Der körperliche und taktische Anspruch ist also enorm hoch und benötigt wohl mehr als die fünf Wochen Vorbereitung.

Gut Ding will Weile haben

Klar, der Spielplan lässt es eigentlich nicht zu, dass man in den ersten beiden Ligaspielen noch nicht alle seine Möglichkeiten ausschöpft. Aber beim FC St. Pauli vertraut man darauf, dass diese auf vielen Ebenen vollzogene Umstellung notwendig ist. Man ist sicher, dass man eben nur dann sein ganzes Potenzial nutzt. Und in den Vorbereitungsspielen konnte man sehr gut erkennen, wie das Team Stück für Stück besser mit den Vorgaben seines neuen Trainers klarkommt. Dass es bei so einem Prozess auch mal Dellen gibt, wie das Spiel in Halle eine war, ist völlig normal und ein wichtiger Teil des Prozesses. Denn unter Fabian Hürzeler haben hoffentlich alle gelernt, dass ein Team durch Fehler am besten vorankommt, sich dadurch viel besser weiterentwickeln kann, als wenn alles flüssig läuft.

So dürfte das Spiel in Halle für den FC St. Pauli also ein ganz wichtiger Teil der Vorbereitung gewesen sein. Und „nebenbei“ hat man dabei noch die zweite Runde im DFB-Pokal erreicht. Hat man eine Garantie, dass die neue Spielidee und Formation in der Bundesliga funktioniert? Nein. Hat man eine Garantie, dass es mit dem ballbesitzorientierten Spiel der Vorsaison (und offensiven Außen in der Startelf) besser laufen würde? Nein. Aber man hat berechtigte Bedenken (Hürzeler weg, Hartel weg, andere Liga), dass man eben nicht einfach so weitermachen kann, wie in der Vorsaison. Die Zeit zur weiteren Vorbereitung und damit auch das notwendige Vertrauen sollte man allen Beteiligten geben. Oder geht jemand ernsthaft davon aus, dass ein so erfahrener Trainer wie Alexander Blessin lieber sein Lieblingssystem spielen lässt, anstatt den mit dem Team möglichst erfolgreichsten Fußball? Nein, ich auch nicht. Let them cook.

// Tim

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