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·25. Juni 2022

Kommunikativ, umgänglich, unterschätzt – André Breitenreiter im Porträt

Artikelbild:Kommunikativ, umgänglich, unterschätzt – André Breitenreiter im Porträt

Die TSG Hoffenheim hat unlängst ihren neuen Chef-Trainer bekanntgegeben. Ende Mai unterzeichnete André Breitenreiter einen Vertrag bis 2024 und steht bei den Kraichgauern künftig an der Seitenlinie. Nachdem sich der Fußballlehrer letzten Freitag selbst vorstellte, blickt Hoffenews gemeinsam mit dem Schweizer Fußballportal Bolzplazz auf die Meisterschaft mit dem FC Zürich zurück und lässt seinen Werdegang Revue passieren.

Vom F-Jugend-Coach zum Retter

Dezember 2010, es ist Winterpause in der Regionalliga Nord. Der TSV Havelse steht auf dem vorletzten Platz, hat bis dato lediglich elf Punkte gesammelt und sieben Zähler Rückstand auf das rettende Ufer. Stefan Pralle, ehrenamtlicher Manager des Klubs, ist auf der Suche nach einem möglichst kostengünstigen Trainer, der den Verein kennt. Seine Wahl fällt auf André Breitenreiter. Der gebürtige Langenhagener beendete vor kurzem seine Spielerkarriere beim TSV, arbeitete danach als Scout beim 1. FC Kaiserslautern und trainierte die F-Jugend seines Sohnes beim TuS Altwarmbüchen – etwa 20 Kilometer von Havelse entfernt.


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Pralle muss jedoch Überzeugungsarbeit leisten. „André hat zunächst abgelehnt. Er hat mir sogar einen anderen Trainer empfohlen“, schildert er 2017 im Sportbuzzer. In einer Parallelwelt hätte Breitenreiter womöglich einen anderen Weg eingeschlagen. Doch Pralles Hartnäckigkeit zahlt sich aus. Nach einem zweiten Gespräch und etwas Bedenkzeit sagt Breitenreiter zu – eine Mammutaufgabe für den Trainer-Frischling. Aber er meistert sie mit Bravour. 24 Punkte sammelt der neue Coach in der Rückrunde und schafft den Klassenerhalt.

„Ich wollte mich nach meiner Spielerkarriere breit aufstellen“, erzählte der ehemalige Bundesliga-Stürmer 2014 in einem Interview mit Spox. Daher schaute sich Breitenreiter nach seiner Spielerkarriere zunächst um und heuerte vor seinem Havelse-Engagement in Kaiserslautern als Scout an: „Der Verein war auf der Suche nach einer geeigneten Person, die zunächst nur ein Spiel analysieren sollte. Da ich mit Teammanager Marco Haber sehr gut befreundet bin, kam dieser auf mich zu. Irgendwann habe ich dann sämtliche Gegner analysiert und vorbereitet.“

Weil ihn der Job als Scout jedoch nicht ausfüllte, fokussierte sich Breitenreiter nach kurzer Bedenkzeit im besagten Winter 2010/2011 auf den Trainerjob. Schnell machte sich bemerkbar, dass ihm dieses Amt liegt. Den TSV Havelse verbesserte er nach erfolgreichem Klassenerhalt stetig und führte den Klub aus dem Garbsener Stadtteil bei Hannover 2012 sogar zu einem Pokalerfolg gegen den 1. FC Nürnberg (3:2 n.V.). 2013 schloss er den Lehrgang zum DFB-Fußballlehrer als Drittbester seines Jahrgangs ab. Anschließend übernahm er die Trainerämter beim SC Paderborn (2013 bis 2015), beim FC Schalke 04 (2015/2016) und bei Hannover 96 (2017 bis 2019).

Märchen-Meister mit Zürich

Seinen bisherigen Karrierehöhepunkt als Chefcoach erlebte Breitenreiter aber erst vor knapp zwei Monaten. Mit dem FC Zürich krönte er sich und den Schweizer Traditionsklub zum Meister. Damit gelang ihm in der abgelaufenen Spielzeit die wohl größte Überraschung im europäischen Spitzenfußball.

Nachdem der FCZ in der Saison zuvor erst zwei Spieltage vor Schluss den Klassenerhalt schaffte, stand ein Umbruch an. Breitenreiters Verpflichtung war der entscheidende Baustein dafür. Der 48-Jährige galt als Wunschlösung des Besitzer-Paars Heliane und Ancillo Canepa. Obwohl er laut eigener Aussage bis dato „zu feige“ für eine Auslandsstation war, sagte Breitenreiter zu.

„Der Titel ist ihm sehr hoch anzurechnen, er wird nicht umsonst von den Fans vergöttert“, betont das Portal Bolzplazz im Gespräch mit Hoffenews: „Mit seiner Verpflichtung hat man ein erstes Ausrufezeichen in Richtung Konkurrenz gesetzt. Nach der Kaderzusammenstellung kamen die FCZ-Fans trotzdem zu dem Schluss, dass trotz der hohen Töne des Präsidenten („Wir können uns Spieler leisten, die vor der Pandemie nicht zu uns gewechselt wären“) das Ziel Klassenerhalt lauten müsste. Dass am Ende der Titel herausgeschaut hat – und dies noch äußerst souverän – kann gar nicht eingeordnet werden: Es ist schlichtweg unglaublich.“

Für den FC Zürich war es der erste Meister-Titel seit 13 Jahren. Damit endete die zwölfjährige Dominanz des FC Basel und der Young Boys Bern. Die Schweizer Blogger beschreiben das Erfolgskonzept Breitenreiters so: „Er kombinierte die Fähigkeiten und Stärken der Spieler mit einem auf sie zugeschnittenen System. Andere Trainer kommen zu einem Verein und wollen unbedingt ihr Spielsystem durchsetzen, Breitenreiter hat es auf den bestehenden Kader angepasst.“

Standards und schnelle Gegenstöße als Erfolgsrezept

Insbesondere die Mentalität der Mannschaft stach heraus. Der FCZ holte 19 Punkte nach Rückstand und erzielte zudem 23 Standardtore – jeweils Ligahöchstwert.

Aus dem Spiel heraus lief die Breitenreiter-Elf zumeist im 3-5-2 auf. Ein wesentliches Merkmal war das direkte Umschaltspiel. „Sein Stil war extrem auf die beiden Außenspieler und einen schnellen Konterstürmer ausgerichtet“, analysieren die Bolzplazz-Experten.

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In Osnabrück eher unglücklich, unter Breitenreiter durchgestartet: Torjäger Assan Ceesay (Foto: Guido Kirchner/Getty Images).

Verwertet wurden die Gegenstöße dann vor allem von Assan Ceesay, der mit 20 Treffern zum zweitbesten Torschützen der Liga avancierte. Er überbot seinen Expected-Goals-Wert um fast neun Tore. Jahrelang galt der schlaksige Angreifer als ineffizient. Auch während seiner Leihstation beim VfL Osnabrück im Jahr 2020 konnte Ceesay mit einem Treffer aus elf Spielen nicht überzeugen. Doch unter Breitenreiter startete der 28-Jährige durch – und steht symptomatisch für das Goldhändchen des Meistertrainers. Bolzplazz: „Breitenreiter hat bereits abgeschriebene Spieler zu Eckpfeilern der Meistermannschaft geformt.“

Auszeit aus privaten Gründen

Die Märchen-Meisterschaft mit dem FC Zürich war für Breitenreiter zugleich ein traumhaftes Trainer-Comeback. Zwar arbeitete er zwischenzeitlich als Champions-League-Experte bei Sky, blieb allerdings zwei Jahre ohne seinen Hauptjob – aus einem tragischen Hintergrund, wie Breitenreiter 2021 in der Sport Bild offenbarte: „Ich habe mir aus privaten Gründen eine Auszeit genommen. Meine Mutter verstarb. Die Familie stand im Vordergrund.“ Der Coach lehnte in der Zwischenzeit sämtliche Angebote ab. Dafür kümmerte er sich um seinen Vater und verbesserte nebenbei seine Englisch- und Französisch-Kenntnisse.

Breitenreiter ist ein Familienmensch und ohnehin ein nahbarer Typ. Einer, der gute Beziehungen zu seinen Mitmenschen pflegt, der einen engen Draht zur Mannschaft hat, der die Sprache der Spieler spricht, aber auch sehr fordernd sein kann. Dabei hilft ihm gewiss auch die Erfahrung als Ex-Profi. In seiner Jugendzeit gehörte Breitenreiter zu den besten Talenten Deutschlands. Als 18-Jähriger gewann er mit Hannover den DFB-Pokal (1992). Er absolvierte zudem Bundesliga-Partien beim Hamburger SV (1994 bis 1997), beim VfL Wolfsburg (1997 bis 1999) und bei der SpVgg Unterhaching (1999 bis 2002), wo er bis heute bester Erstliga-Torschütze ist.

„In der Kommunikation mit den Spielern ist es schon eine große Hilfe, wenn man auf dem Niveau selbst gespielt hat“, stellte Breitenreiter 2021 im Podcast Im Kopf des Trainers fest. Vor allem, weil der rege Austausch ein wesentliches Merkmal seiner Trainerarbeit sei: „Ich bin jemand, der sehr viel mit den Spielern spricht. Wenn ich erfolgreich sein will, muss der Teamgeist über allem stehen.“

Der „Talente-Flüsterer“

Dafür fordert er eine hohe Professionalität ein – auch von den jüngsten Spielern des Kaders. Denn die Entwicklung von Talenten gehört ebenfalls zu den wichtigsten Prinzipien seiner Trainerarbeit. Daran kann und will er gemessen werden. „Es geht darum, junge Spieler auf ihrem Weg zu begleiten und sie besser zu machen. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch außerhalb“, beschreibt Breitenreiter seine Aufgabe. Er sehe sich gewissermaßen als Erzieher, der zur Not auch unbequem sein kann: „Wenn ein Spieler super performt und Begehrlichkeiten weckt, kann es dazu führen, dass er nicht mehr seine Topleistung abruft, weil er sich vielleicht ein Päuschen gönnt. Dann ist es die Aufgabe des Trainers, ihn darauf aufmerksam zu machen.“

Aufgrund seiner Amtszeit auf Schalke 2015/2016 gilt der neue TSG-Coach durchaus als Talenteförderer. Bei den Königsblauen formte er sechs A-Nationalspieler – darunter Leroy Sané, der unter ihm seinen ersten Profivertrag unterschrieb.

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Reifte unter Breitenreiter (r.): Leroy Sané (l.), mittlerweile beim FC Bayern unter Vertrag (Foto: Norbert Schmidt/Getty Images).

In Zürich starteten zuletzt Innenverteidiger Becir Omeragic (20 Jahre) und Angreifer Wilfried Gnonto (18) durch. Letzterer erzielte Anfang Juni sein erstes Länderspieltor für Italien und gilt schon jetzt als wertvollster Spieler der Schweizer Super League.

„Die beiden wurden bereits vor der Ankunft von Breitenreiter als außergewöhnliche Talente bezeichnet. Aber auch hier kann man durchaus sagen, dass er ihnen den letzten Feinschliff verpasst hat“, konstatiert das Bolzplazz-Team, schränkt aber ein: „Der klubeigene Nachwuchs ist unseres Erachtens zu kurz gekommen.“

Das muss sich in Hoffenheim ändern. Schließlich definiert sich der Klub über die hohe Durchlässigkeit aus dem eigenen Nachwuchs. Dessen ist sich Breitenreiter jedoch bewusst.

„Vielleicht habe ich ein falsches Image“

Seine Rückkehr in die Bundesliga ist für ihn persönlich ohnehin die Möglichkeit, den Ruf des unterschätzten Trainers abzulegen. „Vielleicht habe ich ein falsches Image“, sagte er einst in der Sport Bild. Denn in der Wahrnehmung einiger Fußballfans blieb bisher haften, dass er mit Paderborn aus der Bundesliga abstieg, bei Hannover auf Platz 17 gehen musste und mit Schalke die Champions League verpasste.

Bei genauerer Betrachtung ändert sich das Bild jedoch. Paderborn und Hannover führte er jeweils in die Bundesliga. Dort begeisterten seine Teams zunächst auch mit gutem Umschaltspiel. Speziell der Aufstieg mit Paderborn kam – ähnlich wie die Meisterschaft mit Zürich – einer Sensation gleich. Nach holprigem Start in der 2. Bundesliga 2013/2014 verpasste er dem SCP einen frischen Anstrich. Der attraktive Offensivfußball – u.a. mit historischen Siegen bei Fortuna Düsseldorf (6:1), Arminia Bielefeld (4:0) und beim Hamburger SV (3:0) – katapultierte die Ostwestfalen sogar bis zur Bundesliga-Tabellenführung am 4. Spieltag. Dass Paderborn mit 31 Zählern trotzdem nicht die Klasse hielt, war der fehlenden individuellen Qualität geschuldet.

Auch auf Schalke riss er die emotionalen Anhänger nach einem biederen Di-Matteo-Jahr sofort mit. Fünf Siege aus den ersten sieben Spielen ließen die Königsblauen sogar von der Champions League träumen. „Das weckt Erwartungen und Hoffnungen, die nicht der Realität entsprechen. So war es auch später in Hannover“, offenbart Breitenreiter bei Im Kopf des Trainers. Schlussendlich wurde Schalke Fünfter. Der Coach musste aufgrund der personellen Umstrukturierung des neuen Sport-Vorstands Christian Heidel gehen.

Mit „Herz, Mut und Mentalität“

Dass Breitenreiter mit starken Persönlichkeiten umgehen kann, qualifiziert ihn auch für seine Arbeit bei der TSG. Dort gab Gesellschafter Dietmar Hopp bereits mehrfach das internationale Geschäft als mittelfristiges Ziel aus. „Er wünscht sich Platz sechs, das ist für mich okay. Ich empfinde das nicht als Druck“, bekräftigte der neue Hoffenheimer Übungsleiter bei seiner Vorstellung. „Ich bin auch ambitioniert. Am liebsten würde ich besser als Platz sechs werden. Ob es nachher realistisch ist, werden wir sehen.“

Über die spielerische Ausrichtung wollte und konnte der neue Coach noch nichts Detailliertes verraten. Um einen fußballerischen Stil auf die Spieler zuzuschneiden, muss er zunächst einmal seine Mannschaft näher kennenlernen. Grundsätzlich gehe es darum, das Umfeld durch „Herz, Mut und Mentalität“ zu begeistern. Das ist Breitenreiter auf seinem bisherigen Karriereweg als Trainer häufig gelungen. Eins ist sicher: Die TSG bekommt einen empathischen, nahbaren und anpassungsfähigen Trainer. Eine spannende Konstellation, die sicherlich auch von „Entdecker“ Stefan Pralle aus Havelse beobachtet wird.

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