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Helge Wohltmann·16. Oktober 2018

Kommentar: Löw hat das Leistungsprinzip abgeschafft

Artikelbild:Kommentar: Löw hat das Leistungsprinzip abgeschafft

Wie sich Marc-André ter Stegen wohl gefühlt haben muss, als Joachim Löw Manuel Neuer vor der WM 2018 zur unumstrittenen Nummer eins ernannte, obwohl dieser zuvor über ein Jahr lang kaum ein Spiel bestritten hatte? Wahrscheinlich so ähnlich wie am gestrigen Nachmittag, als er die Pressekonferenz seines Trainers vor dem Frankreich-Spiel gesehen hatte. „Manuel Neuer wird das nicht betreffen“, stellte der Bundestrainer angesprochen auf mögliche Wechsel klar. „Er wird auch morgen im Tor stehen.“

Dabei war sein Keeper im Spiel gegen die Niederlande bei einer Ecke durch den Strafraum geirrt und hatte damit das 0:1 mitverschuldet. Die Leistungsfähigkeit eines Manuel Neuer sollte man nur deshalb natürlich nicht grundsätzlich in Frage stellen, wenn man aber zwei Weltklassetorhüter in seinen Reihen weiß, verwundert es schon, dass derjenige spielt, der sich im letzten Jahr deutlich weniger ausgezeichnet hat.


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Eine der Lehren aus der verkorksten WM sollte eigentlich gewesen sein, nur die Spieler zu nominieren und aufzustellen, die auch in ihren Vereinen gute Auftritte zeigen. Schaut man sich aber beispielsweise die Startelf aus dem letzten Spiel an, muss man ganz klar sagen, dass das Leistungsprinzip bei der deutschen Nationalmannschaft weiter nicht angewendet wird. Das wird vor allem deutlich, wenn man sich die einzelnen Mannschaftsteile anschaut.


In der Innenverteidigung durften wie so oft Mats Hummels und Jérôme Boateng ran. Zwei Spieler, die nur noch ein Schatten ihrer einstigen Klasse sind. Boateng hat in den letzten zweieinhalb Jahren rund die Hälfte aller Bayern-Spiele verpasst und bei Hummels fällt es schwer, sich an sein letztes wirklich gutes Länderspiel zu erinnern. Inzwischen wirkt der 29-Jährige zu langsam, um die Laufduelle zu gewinnen und außerdem lässt er sich zu oft aus der Viererkette herausziehen oder ist nicht eng genug an seinen Gegenspielern dran.

Umso verwunderlicher, dass sich gerade er nach der Niederlage am Samstag hinstellte und sich über fehlenden Respekt und unberechtigte Kritik beschwerte, während die deutsche Nationalmannschaft das schlechteste Jahr ihrer Geschichte abliefert.

Auf der linken Abwehrseite verteidigt mit Jonas Hector ein Spieler, der mit seinem Verein gerade in die 2. Liga abgestiegen ist und in Köln genauso häufig im defensiven Mittelfeld wie in der Verteidigung aufläuft. Nico Schulz, der mit Hoffenheim in der Champions League spielt, saß hingegen nur auf der Bank.

Toni Kroos wirkt im Mittelfeld überspielt und könnte einfach einmal eine Pause gebrauchen, während wirklich fraglich ist, warum Thomas Müller immer wieder blasse Auftritte hinlegen darf und trotzdem in der Startelf steht. Ein Leroy Sané war in seinen letzten fünf Spielen für Manchester City an vier Toren beteiligt und sitzt draußen, obwohl Müller seit dem 1. September auf einen Scorerpunkt wartet.

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Es wird immer deutlicher, dass Löw weiter  auf seine Lieblingsspieler setzt und es für die Konkurrenz schwer bis unmöglich ist, sich dagegen durchzusetzen. Ein Julian Draxler, der bei PSG kein Stammspieler ist und unter Thomas Tuchel sogar noch weniger Einsatzzeiten (im Schnitt etwa 33 Minuten pro Einsatz) bekommt als vorher schon, wird vom Bundestrainer weiter berufen und einem Julian Brandt vorgezogen, der in Leverkusen Leistungsträger ist.


Niklas Süle muss sich vorkommen wie in einem schlechten Film, dass ihm Hummels und Boateng weiter vorgezogen werden. Ähnlich Antonio Rüdiger, der bei Chelsea zum Stamm gehört und in England um die Meisterschaft kämpft oder auch ein Jonathan Tah von Bayer Leverkusen. Philipp Max kann in Augsburg machen, was er will und wird doch nicht berufen und einem Niclas Füllkrug muss die Kinnlade auf den Sofatisch geknallt sein, als er gehört hat, dass Mark Uth für die Nationalmannschaft debütieren darf, obwohl dieser bei Schalke nach anhaltender Torflaute nur noch von der Bank kommt.

Vor einem halben Jahr hätte jeder diese Nominierung nachvollziehen können, doch nach den aktuellen Auftritten war sogar Uths eigener Trainer, Domenico Tedesco, davon „überrascht“, dass Löw den 27-Jährigen in den Kader berief.


Auch das ist wieder ein Beispiel dafür, dass die aktuellen Leistungen nicht ausschlaggebend sind, ob jemand für die Nationalmannschaft spielen darf oder nicht. Das ist der vielleicht schlechteste Eindruck, der bei Spielern entstehen kann, denn wie soll ein belebender Konkurrenzkampf Einzug halten, wenn man nicht daran glaubt, es in die Mannschaft schaffen zu können? Und wieso sollten die Etablierten alles aus sich rausholen, wenn sie doch auch mit angezogener Handbremse ihren Stammplatz behalten?

Eigentlich war davon auszugehen, dass Löw nach dem Gruppenaus in Russland verstanden hätte, was für negative Signale er mit seinen Nominierungen aussendet. Jetzt scheint es, als beließe er doch alles beim Alten, obwohl sein Vertrauen in die Weltmeister von 2014 immer wieder enttäuscht wird.