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Selina Eckstein·30. September 2023
Identität statt Versicherungen: So einen Spieler wünschen sich alle Fans

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Selina Eckstein·30. September 2023
Nur noch wenige Sekunden sind auf der Uhr. Dann pfeift der Schiri das Spiel ab. Großer Jubel, zumindest bei den Gäste-Fans. Die Mannschaft wird gefeiert. Doch einer von den Spielern hat noch eine sehr wichtige Aufgabe zu erledigen. Mit einem Eimer geht es zum Block der gegnerischen Fans.
Nach Herthas Last-Minute-Sieg in Kiel rückte der Sport kurz in den Hintergrund. Ein 16-jähriger Kiel-Fan ist an Krebs erkrankt, weshalb rund um das Heimspiel gegen die Alte Dame zu Spenden aufgerufen wurde. Auch der Hauptstadtklub gab das an seine Anhänger weiter.
Und wer könnte die gesammelten Spenden nach Abpfiff übergeben? Da waren sich die Hertha-Fans einig: Fabian Reese soll’s machen. Schließlich eignet sich niemand besser dafür als der gebürtige Kieler. Die Spenden übergab Reese also an die Kieler Ultras. In den Farben getrennt, in der Sache vereint.
„Da ist eine ordentliche Summe zusammengekommen“, sagte der 24-Jährige im Interview mit ‚Sky‘. Für ihn selbst wurde der Fußball in diesem Moment zur Nebensache.
Dabei hätte er allen Grund gehabt, über das Spiel zu sprechen. Er bereitete nicht nur das 1:0 für Smail Prevljak vor, sondern verwandelte Herthas zweiten Elfer in der Nachspielzeit. Den ersten hatte der sonst so treffsichere Haris Tabakovic vergeben.
Während der 90 Minuten im zugigen Kieler Stadion haute der Wuschelkopf alles rein. Dass er für die Hertha brennt und alles geben will, spürte man in jedem Moment auf dem Platz. Am Ende bejubelte er den Treffer gegen seinen Ex-Klub. Was für die Kieler ein Stich ins Herz sein dürfte, lässt die Fan-Herzen der Berliner höher schlagen.
Sie sehnen sich nach Identifikationsfiguren. Klar, das haben die Hauptstädter nicht exklusiv, jeder Fan wünscht sich das schließlich. Doch aktuell ist die Identität beim ehemaligen „Big City Club“ ein großes Thema. Das hängt nicht zuletzt mit dem neuen Investor zusammen, der im März die Anteile von Lars Windhorst übernahm.
Vor kurzem gab der Chef von 777 Partners, Josh Wander, der ‚Financial Times‘ ein Interview, das bei den Fans gar nicht gut angekommen ist. „Die Vision für diese Fußballgruppe ist, dass wir eines Tages nicht mehr nur Hot Dogs und Bier an unsere Kunden verkaufen, sondern Versicherungen oder Finanzdienstleistungen oder was auch immer“, zitierte ihn ‚rbb24‘. Die Reaktion der Fans ließ nicht lange auf sich warten.
„Unsere Wertanlagen heißen Identität und Mitbestimmung!“, schrieben sie auf einem Banner in der Kurve. Mit Reese wiederum können sich die Fans identifizieren. Genau wie die Anhänger*innen musste der Neuzugang in der Rückrunde mit ansehen, wie der Klub Richtung 2. Liga wankte. Bereits im Winter hatte er unterschrieben, konnte aber erst zum Sommer wechseln.
„Ich habe die Spiele zu Hause geguckt und fragte mich, wie ich den Jungs Halt und Unterstützung geben kann“, erzählte er in der Hertha-Dokumentation. In dieser Zeit schlugen zwei Herzen in seiner Brust. Einen Tag mitfiebern, am anderen selbst spielen. Eine Achterbahnfahrt der Gefühle.
Nun hat sich der Flügelstürmer der Hertha verschrieben. Auf und neben dem Platz. Was wie eine Phrase klingt, trifft bei Reese umso mehr zu. Auf Instagram zeigt er sich im Hertha-Retrotrikot, geht auf Flohmärkte und macht Foto-Shootings mit seiner Freundin vor einer Kiezkneipe. Hauptsache Berlin.
Außerdem gibt es ein Video, in dem seine Freundin seine Fußballschuhe flickt, damit er sich keine neuen kaufen muss. Stichwort Nachhaltigkeit. In den sozialen Medien gibt es vereinzelt schon Kritiker, die sagen, seine Inszenierung sei aufgesetzt. Reese hat darauf die passende Antwort parat.
„Ich hatte Lust auf die Herausforderung, Teil davon zu sein, dass die Stadt wieder komplett hinter dem Verein steht und er dahin zurückkehrt, wo er hingehört“, sagte er gegenüber ‚rbb24‘. Dabei möchte er einen bleibenden Eindruck hinterlassen, „sportlich, fußballerisch, aber auch menschlich und charakterlich.“
Den Willen und die Mentalität spüren nicht nur die Fans, sondern auch sein Trainer. „Am ersten Tag stand ich neben Tamas Bodog und habe gesagt: ‚Davon zehn Stück, dann müssen wir nicht mehr zum Training kommen'“, erinnerte sich Pál Dárdai auf der PK vor dem Kiel-Spiel zurück.
Zwar kann man sich keine neun Reeses backen, aber er wolle zumindest für die jungen Spieler ein Vorbild sein und sie mit seinem Eifer anstecken, um gemeinsam etwas zu erreichen. Die Rückkehr in die Bundesliga. Doch da will nicht nur der Klub aus der Hauptstadt hin. Düsseldorf, HSV, Lautern, Hannover und auch Herthas kommender Gegner, St. Pauli, um nur einige zu nennen.
Doch sollten Reese und seine Mitspieler fighten und alles raus hauen, werden die Fans bis zum Schluss hinter ihnen stehen. Egal, ob in der ersten oder zweiten Liga oder wo auch immer. Denn nach Big City Club und Versicherungsinvestoren ist Erfolg erstmal weniger wichtig als eine Mannschaft mit der sie sich identifizieren können. Auf und neben dem Platz.