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·29. April 2020
Heute vor 42 Jahren: Showdown zum Double 1977/78 für den 1. FC Köln

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·29. April 2020
Der Kölner Autor Frank Steffan hat mit seinem Film „Das Double 1977/78“ einen großen Erfolg gelandet, unter anderem wurde seine Dokumentation im Jahr 2017 zum Siegerfilm des internationalen „11mm Fußballfestivals“ gewählt. Der Film wird übrigens am 3. Mai um 15:30 Uhr auf der gleichnamigen Facebookseite für drei Tage zu sehen sein. In seinem Buch „Das Double – Die Dokumentation einer außergewöhnlichen Epoche“ geht der Autor und Filmemacher noch weiter, erklärt die komplette Saison deutlich und sehr detailliert und entdeckt viele noch unbekannte Hintergründe zum großen Kölner Erfolg. Anlässlich des 42. Jahrestages des Kölner Double-Gewinns präsentiert effzeh.com den Text aus dem Werk von Frank Steffan zum großen Showdown im großen Fernduell zwischen dem 1. FC Köln und Borussia Mönchengladbach:
Die Entscheidung über die Meisterschaft wurde bekanntermaßen auf den 29. April, dem letzten Spieltag vertagt. Die Ausgangslage: Köln und Gladbach hatten jeweils 46:20 Punkte, der FC hatte in der Tordifferenz 40 Tore mehr erzielt als sich eingefangen, Gladbach 30 Tore mehr geschossen als zugelassen. Im Falle eines Siegs bei St. Pauli, die als Absteiger aus der Liga bereits feststanden, müsste die Sache im Kölner Sinne geregelt sein.
Zehn, elf, zwölf Tore – je nachdem, wie der FC gewinnen würde, könnte Gladbach unmöglich aufholen, so die einhellige Meinung, nicht nur in Köln. Ein Unentschieden bei einem gleichzeitigen Sieg von Gladbach gegen Dortmund wäre das Ende der Meisterträume, das Torverhältnis zudem egal. Von einer Niederlage bei einem gleichzeitigen Gladbacher Sieg ganz zu schweigen. Sicherheitshalber musste also ein Sieg her, egal wie, egal wie hoch, Hauptsache gewonnen. Das hatten alle verinnerlicht.
Nun war es so, dass Gladbach im Düsseldorfer Rheinstadion gegen Borussia Dortmund spielen konnte. Umbaumaßnahmen am Gladbacher Bökelberg machten den Umzug notwendig. Für Gladbach ergab sich daraus die Möglichkeit vor einer größeren, sie anfeuernden Kulisse antreten zu können. Köln sah sich benachteiligt, weil man am Millerntorstadion bei St. Pauli antreten sollte. Das zeichnete sich durch seine Enge, durch seine atmosphärische Dichte aus, die für jeden Gegner extrem unangenehm werden konnte.
Auch wenn St. Pauli bereits abgestiegen war, so vermutete man dennoch ein frenetisches Publikum, eventuell einen brodelnden Hexenkessel und viel zu wenig Unterstützung durch eigene Fans. Manager Thielen sah diese akute Gefahr. Er versuchte St. Pauli dazu zu bewegen ins größere und weniger stimmungsvolle Volksparkstadion umzuziehen. Thielen argumentierte damit, dass am Millerntor die zahlreichen Kölner Fans vor der Tür bleiben müssten. Ein Umzug käme nur dann in Frage, erklärten die St.-Pauli-Verantwortlichen, wenn mindestens 15.000 Besucher kämen, sonst würde sich das Ganze nicht rechnen lassen.
Thielen überlegte nicht lange und sicherte dem Kiezclub zu, dass man von Kölner Seite aus 15.000 Tickets kaufen wolle, um diese an Kölner Fans weiter zu verkaufen. Tatsächlich bestand eine große Nachfrage nach Tickets für das „Endspiel“, aber 15.000 Eintrittskarten waren letztendlich eine verdammt große Nummer – damals. St. Pauli ließ sich daraufhin auf den Deal ein und war bereit den Austragungsort zu wechseln. Auch der DFB gab kurz darauf sein Einverständnis.
In und um Köln war eine echte FC-Euphorie ausgebrochen, die auch nach heutigen Maßstäben beachtliche Ausmaße angenommen hatte. Tatsächlich konnte der FC davon ausgehen, dass man von einer stattlichen Zahl an Fans nach Hamburg begleitet werden würde. Wie viele es wirklich werden sollten, wusste vorher niemand. Der FC selbst verkaufte jedenfalls keine 15.000 Tickets im Vorwege, aber das hieß keineswegs, dass sich nicht 15.000 Kölner auf den Weg an die Alster machen. Viele fuhren einfach hin und kauften sich vor Ort ihre Karten.
Tatsächlich dürften um die 15.000 Kölner Fans das Spiel in Hamburg gesehen haben, insgesamt waren 25.000 Zuschauer im Volksparkstadion. Der überwiegende Teil der Kölner Fans kam mit dem Auto angereist. Vor Hamburg bildete sich am Tag des Spiels ein mehr als 40 Kilometer langer Stau auf der A1 bei Hamburg, war das sichtbarste Zeichen der Kölschen Invasion.
Vor dem alles entscheidenden Spiel, versuchte man auf Kölner Seite die Ruhe zu bewahren und nach außen Gelassenheit zu demonstrieren. Alle wichtigen Spieler waren an Bord, auch wenn Herbert Neumann weiter Sorgen bereitete. Er hatte sich zusätzlich zu allen sonstigen Behandlungen beim Arzt der Nationalmannschaft, Prof. Heß in Saarlouis untersuchen lassen. Heß attestierte ihm, dass eine WM-Teilnahme mit dieser Sehnenentzündung nicht möglich sei. Es war keine akute Verletzung, man konnte sie temporär einigermaßen im Zaum halten, aber mittelfristig musste sich Neumann schonen, das schien völlig klar zu sein. Das letzte Bundesligaspiel könne er noch absolvieren und danach müsste erst mal Ruhe herrschen.
So sehr man sich auch bemühte Normalität an den Tag zu legen, so nervös war man im Kölner Lager trotzdem. Man reiste einen Tag vorher mit einer großen Delegation nach Hamburg, stieg im Crest-Hotel ab und harrte der Dinge. Das Unternehmen „Double-Gewinn“ nahm unausweichlich seinen höchst dramatischen Verlauf.
St. Pauli erwies sich tatsächlich als der um jeden Zentimeter kämpfende Gegner, der sich würdevoll aus der Bundesliga zu verabschieden gedachte. Die ersten beiden Torchancen lagen auf Seiten der Hamburger. Der Paulianer Blau setzte sich im Strafraum durch und prüfte Schumacher. Kurze Zeit später galt es einen Freistoß von Beverungen unschädlich zu machen, wieder war Schumacher zur Stelle.
Zu diesem Zeitpunkt stand es in Düsseldorf beim Spiel Gladbach gegen Dortmund bereits 3:0 für Gladbach! Heynckes hatte gleich in der ersten Spielminute getroffen, in der 12. Minute nachgelegt und Nielsen in der 13. Minute das 3:0 erzielt. Blitzstart nennt man das.
Auf der Kölner Trainerbank bekam man die Entwicklungen per Radio mit. Die Spieler selbst wussten nichts, aber das Publikum sehr wohl. Der FC versuchte seine Nervosität, die auch ohne das Wissen um die Geschehnisse in Düsseldorf durchschimmerte, in den Griff zu bekommen. Der tiefe und mit vielen Unebenheiten übersäte Rasen des Volkspartstadions tat ein Übriges, um das normale Kombinationsspiel der Kölner zu behindern. Nach gut 20 Minuten Spieldauer fand man nach und nach über den Kampf ins Spiel, um eine typische, aber in diesem Falle richtige Fußballplattitüde zu benutzen.
Aus heutiger Sicht würde man die ersten 27 Minuten sicher noch intensiver als Sensation bewerten, schließlich spricht man üblicherweise von der virtuellen Tabellenführung, die für den Effzeh bereits seit 15:31 Uhr futsch war. Aber dann setzte sich Flohe im Pauli-Strafraum durch, vollendete einen Doppelpass mit Neumann mit einem gleichermaßen strammen wie holprigen Schuss ins St.-Pauli-Tor. Die erste Anspannung ließ auf Kölner Seite nach, man begann den Gegner zu kontrollieren.
Zu diesem Zeitpunkt hieß es in Düsseldorf bereits 4:0. Die verbleibende Viertelstunde bis zur Halbzeit sah eine zwar dominierende Kölner Mannschaft, aber keine, die weitere Treffer erzielte. Zur Pause stand es in Hamburg 1:0 für Köln und 6:0 für Gladbach. Wäre es da wie dort das Endergebnis gewesen, hätte Köln den Meistertitel gehabt und zwar mit fünf Toren Vorsprung im Torverhältnis.
Im Kölner Lager war man zur Halbzeit über das, was in Düsseldorf geschah schwer verwundert, aber noch nicht extrem beunruhigt. Sechs Tore in einer Halbzeit fallen nicht so furchtbar oft und wer zur Halbzeit so derart klar zurück liegt, dem ist in der zweiten Halbzeit kein Aufbäumen zuzutrauen, eher der totale Zusammenbruch. Man dachte über dieses Horrorszenario trotzdem nicht weiter nach, aber im Hinterkopf zeichnete es sich ab, denn wenn Gladbach in diesem Tempo weitermachen würde, wäre das unmöglich Geglaubte Realität: Man hätte das Torverhältnis ausgeglichen und Gladbach wäre Deutscher Meister.
Um das zu verhindern, gab es nur eine Möglichkeit: selbst weiter Tore machen, aber bloß keinen Gegentreffer kassieren!
Der Halbzeitstand von Düsseldorf wurde im Stadion durchgegeben. Gab es beim neutralen Publikum und bei der Mehrzahl der St. Pauli-Anhänger noch eine gewisse Sympathie für den vermeintlichen Underdog Gladbach, so kippte jetzt die Stimmung. Irgendwie erschien das Düsseldorfer Halbzeitresultat irreal, merkwürdig und suspekt. Manch einen beschlich das Gefühl, dass da irgendwas nicht stimmen konnte. Die St. Pauli-Ultras schwenkten zuerst um, verbrüderten sich mit den Kölner Fans und begannen den FC anzufeuern. Später stand das ganze Stadion hinter dem FC.
Als die zweite Halbzeit begann, passierte zunächst nicht viel. Köln versuchte zwar nachzulegen, aber die Aktionen hatten keine Durchschlagskraft. In Düsseldorf ging das muntere Scheibenschießen unterdessen weiter. Heynkes hatte auf 7:0 erhöht. Erst eine Standardsituation brach in Hamburg den Bann. Flohe brachte in seiner unnachahmlichen Art von rechts eine Ecke auf die Höhe des 5-Meter-Raum, wo Okudera stand und mit dem Hinterkopf verlängerte. Das war eine von vielen Kölner Eckballvarianten, die oft genug zum Torerfolg führten. So auch jetzt! Von Okuderas Hinterkopf flog der Ball im hohen Bogen ins St. Pauli-Tor. 2:0 Köln! Eine Minute später stand es aber bereits 8:0 für Gladbach. Es lagen noch vier Tore zwischen beiden Teams.
In dieser Phase des Fernduells machte sich wirklich so etwas wie Panik auf der Kölner Trainerbank breit. Das 9:0 durch Nielsen ließ auf einmal den für völlig unmöglich gehaltenen Fall X denkbar erscheinen. Weisweiler signalisierte, dass weiter Gas gegeben werden müsse. Assistent Herings ging an die Seitenlinie, gab die Order an die Spieler und traf teilweise auf völliges Unverständnis. Cullmann erklärte nachher: „Mir war nicht klar, wieso wir bei einem 2:0-Vorsprung unbedingt weiter nachlegen sollten“ und Konopka schwante Schlimmes: „Wir mussten doch auch aufpassen, dass wir uns von St. Pauli keinen einfingen“. Auch das lag immerhin im Bereich des Möglichen. Die Paulianer hatten sich weiterhin nicht aufgegeben, fighteten mit Inbrunst.
In der 69. Minute war es wieder Flohe, der durch eine Energieleistung den FC-Zug auf die richtige Schiene setzte. Sein 3:0 aus gut 20 Metern, ein gewaltiger, platzierter Fernschuss, brach die letzten Widerstände beim Gegner und flößte seinen Mannschaftskameraden Selbstbewusstsein für den Schlussspurt ein.
Um wirklich auf der sicheren Seite zu sein, musste man tatsächlich weitermachen, ohne Wenn und Aber, denn in der 77. Minute schraubte Heynckes das Ergebnis von Düsseldorf auf zweistellig! Es stand 10:0 im Rheinstadion. Alles erschien weiterhin möglich zu sein.
Bernd Cullmann gelang in der 83. Minute das 4:0 indem er alleine durchmarschierte und das Tor erzielte. Den spektakulärsten Treffer gelang in der 86. Minute Okudera, der einen sagenhaften Flugkopfball mit großer Wucht in die Maschen setzte. Der Japaner zischte wie ein Düsenjet quer durch die Luft als er einnetzte. Die spektakuläre Aktion wurde später zum „Tor des Monats“ gekürt.
Während der letzten Minuten der Begegnung, spielten sich teilweise unglaubliche Szenen um die Kölner Trainerbank herum ab. Ein riesiger Pulk Journalisten versammelte sich vor Weisweiler, der dadurch fast nichts mehr vom Spielgeschehen mitbekam. Immer wieder knurrte Weisweiler, dass die Meisterschaft noch nicht entschieden sei, es müsse erst abgepfiffen werden. Heinz Flohe verließ in der 79. Minute das Feld, da er sich bei einer Rettungstat am eigenen Strafraum leicht verletzte. Für ihn kam Heinz Simmet ins Spiel, der somit einen letzten großen Auftritt in FC-Dress erhielt. Auch Strack musste kurz vor dem Schlusspfiff vom Platz, da auch er sich verletzte. Für ihn kam Herbert Hein, der mithalf die verbleibende Zeit zu überstehen.
Als das Spiel zu Ende war, entlud sich die ganze nervliche Belastung der vergangenen Wochen. Fans hatten das Spielfeld gestürmt, feierten ausgelassen mit den Spielern im Hamburger Regen. Auch das nahm chaotische Formen an, denn teilweise versuchten die Ordner mit Hunden die über die Zäune kletternden Fans von ihrem Vorhaben abzuhalten. TV-Teams rannten ebenfalls auf den Rasen, versuchten erste Stimmen einzufangen. Auf Grund der Vorkommnisse in Düsseldorf, entrüstete sich Neumann vor laufenden Kameras: „Eine Unverschämtheit, was da passiert ist! Da kämpfen die Spieler des FC St. Pauli bis zum Umfallen und die Dortmunder lassen sich ohne Gegenwehr überfahren. Das ist schlichtweg ein Skandal!“
Was nach dem Spiel laut Plan geschehen sollte, war keinem klar. Für den Fall, dass der FC als Deutscher Meister den Platz verließ, sollte der Ligaausschussvorsitzende Wilhelm Neudecker dem Mannschaftskapitän einen Blumenstrauß überreichen und ein paar warme Worte mit auf den Weg geben. Keiner wusste es und deshalb stand Neudecker mehr oder weniger blöd im Regen. Die echte Meisterschale sollte erst tags drauf dort überreicht werden, wo sie hingehört.
Die Spieler verzogen sich alsbald in die Kabine, wo erst langsam so was wie Partystimmung aufkam. Präsident Weiand wollte Sekt ausschenken, traf aber auf wenig Gegenliebe bei den abgekämpften Spielern, erst mal war nur Wasser angesagt.
Weiand wurde von Presseleuten gedrängt, die Düsseldorfer Ereignisse zu kommentieren. Seine Stellungnahme fiel knapp aus: „Ich möchte nicht viel dazu sagen,“ erklärte er und fügte hinzu „aber es ist doch schon ein recht merkwürdiges Ergebnis. Um so stolzer dürfen wir sein, dass wir uns den Titel trotz allem durch unsere eigenen Tore sicherten“. Trainer Weisweiler hielt sich erst recht bedeckt: „Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, dass bei uns nichts anbrannte, da konnte ich mich über andere Dinge nicht aufregen und möchte es auch jetzt nicht tun“.
Echte Feierstimmung kam erst nach der Rückkehr ins Hotel auf. Man hatte einen großen Saal im Hotel angemietet, zahlreiche Ehrengäste eingeladen und nun ging es langsam los mit den Festlichkeiten. Dicke Havannas wurden angesteckt, alkoholische Getränke aller Art ließen die Promillepegel steigen und feine Speisen sorgten für das leibliche Wohl, so konnte es nach dem Geschmack der Akteure weitergehen. Die Party im Crest-Hotel war bereits im vollen Gange, die Stimmung immer gelöster, da erschien unversehens Wolfgang Overath via TV-Schalte aus dem „Aktuellen Sportstudio“, wo er als Gast von Dieter Kürten, vermeintlich passend zum Thema Doublegewinner eingeladen war, auf dem Bildschirm des Fernsehers, der im Hamburger Festraum stand. Vielen Anwesenden blieb der Bissen im Hals stecken, man reagierten stocksauer, forderten lauthals, dass „die Glotze ausgeschaltet“ wird. Man bekam sich danach wieder ein und feierte alsbald unverdrossen weiter.
Einige Spieler machten die Nacht zum Tag, gingen noch in die Stadt, bevorzugt in Richtung Reeperbahn, feierten weiter und bekamen so gut wie gar keinen Schlaf ab. Anderntags ging es zurück nach Köln und da war dann im wahrsten Sinne des Wortes die Hölle los. Zunächst stand der Besuch im Rathaus an, wo auch die echte Meisterschale von DFB-Vizepräsident Ägidius Braun an Heinz Flohe überreicht wurde. Vor dem Rathaus hatten sich gut und gerne 20.000 Fans im kollektiven Freudentaumel versammelt und für Karnevalsstimmung gesorgt. Man schätzt, dass die anschließende Triumphfahrt im offenen Wagenkorso von ungefähr 300.000 Menschen gesehen wurde. Das hatte durchaus Rosenmontagsdimensionen. Die Fahrt ging bis zum Geißbockheim, wo munter weiter auf den Putz gehauen wurde.
Es waren tatsächlich denkwürdige Momente, die sich seinerzeit in der Stadt abspielten. Der FC war am Ziel seiner Träume, der Triumph total und das allgemeine Glückgefühl hatte nahezu jeden Kölner erfasst.
Text: Frank Steffan und Ralf Friedrichs