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·21. Juli 2025
"Haben ihr ganzes Herz auf dem Platz gelassen" - Die EM-Kolumne von Verena Schweers

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·21. Juli 2025
Welche wunderschönen Emotionen nach dem Spiel, wer hätte mit diesem Spielverlauf am Samstagabend beim EM-Viertelfinale zwischen Deutschland und Frankreich rechnen können? Vermutlich niemand. Denn welche Leistung das DFB-Team in Basel auf den Platz gebracht hat, war an Verrücktheit kaum zu überbieten.
Zum ersten Mal seit längerer Zeit hat mich diese Mannschaft wieder komplett abgeholt. Sie sind nach dem letzten Spiel extrem kritisch mit sich umgegangen. Und man hat in der Woche vor dem Viertelfinale gespürt: Sie wollten es vor allem auch sich beweisen, dass sie es auch anders können. Es war für mich nach dem Schweden-Spiel zu spüren, dass sie selbst keine richtigen Erklärungen gefunden haben, ähnlich ratlos wirkte auf mich der Trainer. Mein Eindruck war, dass alle, sowohl die Mannschaft als auch das Trainerteam, sich weiter wähnten, als die Leistungen in der Vorrunde widerspiegeln konnte.
Und dann kam dieser Samstagabend, eine Mannschaft, die nach 15 Minuten mit dem Rücken zur Wand stand und dann ihr ganzes Herz auf dem Platz gelassen hat und eine unbändige "Jetzt-erst-recht"-Mentalität entwickeln konnte. So eine Leistung, nur zu zehnt, über 100 Minuten und gegen diesen starken Gegner zu bringen, habe ich bisher noch nicht erlebt.
Gerade defensiv fand ich die Leistung unserer gesamten Mannschaft extrem bemerkenswert. Alle deutschen Spielerinnen haben sich in die Zweikämpfe reingeworfen haben. Ich habe die Defensive nach der Vorrunde sehr kritisch gesehen, kaum Stabilität, fehlende Geschwindigkeit habe ich attestiert. Dem gegenüber standen jetzt deutsche Spielerinnen auf dem Feld, die immer eng dran an den Französinnen - und eklig in der Zweikampfführung - waren. Man hat gesehen, wie eine Cascarino oder eine Karchaoui im Spielverlauf immer mehr genervt wurden und dementsprechend frustriert reagiert haben. Unsere Mannschaft hat Frankreich ultimativ aus dem Spiel gebracht und uns den nötigen Vorteil verschafft.
Frankreichs Selma Bacha hat sich nach der Partie im Interview beschwert, dass Deutschland unverdient gewonnen habe. Aus meiner Sicht völlig zu unrecht. Klar, Frankreich hat das Spiel von den Anteilen her dominiert, aber wenn es eine Mannschaft nicht schafft, über so lange Zeit in Überzahl ein reguläres Tor zu schießen, dann hat sie es schlichtweg nicht verdient, in die nächste Runde einzuziehen.
Ein wichtiger Schlüssel lag meiner Meinung nach darin, gegen die Französinnen im Sturmzentrum Giovanna Hoffmann statt Lea Schüller von Beginn an zu bringen. Während Schüller ihre Qualitäten in der Raumnutzung und bei Tiefenläufen hat, kann Hoffmann die Bälle vorne fest machen und verarbeiten. Und das war genau der Spielerinnentyp, den die deutsche Mannschaft in diesem Duell gebraucht hat.
Auch die Hereinnahme von Franziska Kett von Beginn an und Sophia Kleinherne nach der Verletzung von Sarai Linder haben sich bewährt, beide konnten sich stark in der Viererkette einfügen. Und, Stichwort Mentalität, wenn du das Gefühl bekommst, dass die Spielerin neben dir alles gibt, dann machst du das auch.
Natürlich konnte man nach der Roten Karte spielerisch nicht mehr so viel von der deutschen Mannschaft erwarten, aber das haben sie wettgemacht durch ihre Mentalität und den kämpferischen Einsatz, den sie an den Tag gelegt haben. Insgesamt hat Christian Wück, auch als Reaktion auf die Unterzahlsituation, deutlich defensiver als im bisherigen Turnierverlauf spielen lassen. Dadurch ergaben sich Offensivaktionen fast ausschließlich über Kontersituationen.
Insgesamt gibt es eine Spielerin, die man herausheben kann, auch wenn alle auf ganzer Linie überzeugt haben. Das sind genau die Spiele, die für Ann-Katrin Berger gemacht sind. Als der Abpfiff der Verlängerung kam, wusste ich, dass Berger Bälle beim Elfmeterschießen halten wird. Ihre Parade in der Verlängerung wurde von allen Seiten als Weltklasse attestiert, für mich jetzt schon einer der Momente des Turniers. Das Ann-Katrin Berger dann auch noch einen Elfmeter selbst schießen wird, war unglaublich.
Genauso erstaunlich war für mich auch der Auftritt von Christian Wück an der Seitenlinie. Ich habe ihn bisher noch nie so emotional erlebt. Man hat gemerkt, wie sehr er seine Mannschaft angefeuert und immer wieder nach vorne gepusht hat. Das hat das gute Gefühl weiter verstärkt, was den Gesamtauftritt des deutschen Teams betrifft. Es scheint, dass sich nach Schweden alle hinterfragt haben, was zu dieser Leistungsexplosion geführt hat.
Jetzt steht mit Spanien der wohl härteste Gegner des ganzen Turniers im Halbfinale gegenüber. Die deutliche Niederlage gegen Schweden schmerzt nach. Gegen die spanischen Weltmeisterinnen wird man einige Elemente aus dem Frankreich-Duell übernehmen können. Ich gehe davon aus, dass wir wieder eher defensiver starten werden. Einen offenen Schlagabtausch in der Offensive können wir aus meiner Sicht nicht gewinnen. Wir müssen wieder ekelig sein, energisch stören und von Anfang an verhindern, dass sie in ihr Spiel finden. Die Schweiz hat es im Viertelfinale vorgemacht, wie es gehen kann.
Gleichzeitig muss man bedenken, dass aufgrund von Verletzungen und Sperren wieder ordentlich rotiert werden muss. Hendrich, Nüsken und Linder werden fehlen, während Wamser in den Kader zurückkehrt. Ich würde sie und Kett als Außenverteidigerinnen starten lassen und im zentralen Mittelfeld entweder Däbritz aufstellen oder Minge aufrücken lassen und die Lücke durch Kleinherne füllen.
Dass Deutschland durch die Rotation aktuell nicht so einfach auszurechnen ist, kann sich noch als sehr positiv herausstellen. Mit dieser Mannschaft ist absolut zu rechnen, denn wenn das DFB-Team diese Mentalität weiterträgt und gleichzeitig zu elft mehr spielerische Ansätze auf den Platz bringt, dann gewinnen wir diese EM. Aber bei Deutschland weißt du eben vorher nie, was du bekommen wirst - sie sind quasi eine Wundertüte.
Verena Schweers (links) im Duell mit Leonie Maier / Alex Pantling/GettyImages / Alex Pantling/GettyImages
Verena Schweers ist ehemalige Bundesliga- und Nationalspielerin. Ihre Profi-Karriere startete die Abwehrspielerin beim SC Freiburg, bevor es über den VfL Wolfsburg zum FC Bayern München ging. Mit den Wölfinnen gewann Verena Schweers sowohl zwei Mal die UEFA Women's Champions League als auch die Meisterschaft. Außerdem holte sie mit dem VfL den DFB-Pokal gleich dreifach. Für die A-Nationalmannschaft absolvierte die 36-Jährige 47 Länderspiele. 2020 beendete Verena Schweers ihre Karriere im Alter von 31 Jahren.