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TSG Hoffenheim

·10. August 2022

Erinnerungstour: Tiefe Betroffenheit

Artikelbild:Erinnerungstour: Tiefe Betroffenheit

Eine Gruppe von 26 Personen besuchte im Rahmen des Projekts „Niemals vergessen – Fußballfans auf Spurensuche“ im Frühsommer den Ort Gurs am Fuße der französischen Pyrenäen. In das dortige Internierungslager wurden am 22. Oktober 1940 viele Kraichgauer Bürger*innen jüdischen Glaubens deportiert, unter ihnen die beiden Hoffenheimer Jungen Manfred Mayer (11) und Heinz Mayer (8). Die Reise nach Gurs, von der TSG unterstützt, wurde zu einem außergewöhnlichen Erlebnis.

Die Gruppe der 19 Teilnehmenden und sieben Teamleiter*innen schaut gebannt auf den Bildschirm, auf dem Menachem Mayer zu sehen ist. Der 92-Jährige sitzt zu Hause in Israel und spricht im Video-Telefonat über seine schwere Kinderzeit, als er sich noch Heinz nannte. „Die Bilder, die ich heute noch vom Lager in Gurs im Kopf habe, sind Schlamm und Dreck. Überall knietiefer Schlamm und übelste hygienische Bedingungen“, sagt der rüstige Mann. Auf einem Gelände, auf dem heute eine Gedenkstätte untergebracht ist, wurden sechs Jahre lang insgesamt 60.509 Häftlinge gefangen gehalten, darunter 6.504 Juden aus Baden. Welches Erlebnis ihn heute noch am meisten beschäftigt, wird Menachem von einem TSG-Fan gefragt. „Ich sehe noch die tieftraurigen Augen meines Vaters, als er sich von mir verabschiedete. Meine Mutter durfte nicht zu uns kommen, sie konnte nur winken. Wir wussten es damals nicht – aber wir haben unsere Eltern nie mehr wieder gesehen“, erzählt der frühere Hoffe-Bub, dessen Mutter und Vater an jenem Tag in ein KZ gebracht und wo sie ermordet wurden. Die TSG-Fans und Sinsheimer Schüler sind ebenso wie ihre Betreuer tief berührt von den Schilderungen.


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„Besonders die Gespräche mit Menachem waren sehr bewegend“

„Besonders die Gespräche mit Menachem waren sehr bewegend, weil er Dinge erzählte, die für uns alle unvorstellbar waren“, sagt Lukas Zülch, der als Fanbeauftragter der TSG Hoffenheim die „Erinnerungstour – Niemals vergessen“ mit organisiert hat. Es gab zwei Zoom-Konferenzen mit Menachem, der auch noch 82 Jahre nach der Vertreibung aus seiner Heimat gut deutsch spricht. „Wir haben einmal am Tag vor unserem Besuch des Lagers, in dem er und sein Bruder Fred interniert waren, gesprochen und einmal am Tag danach“, berichtet Zülch: „Unsere Gruppe war sehr beeindruckt, wie souverän und selbstsicher Menachem heute mit seinem Schicksal umgeht und dass er trotz allem ein so positiver Mensch geblieben ist. Er hat den Appell an uns und die Jugend in Deutschland gerichtet, dass wir etwas dafür tun müssen, dass so etwas niemals wieder passiert.“ Die aktive Einbindung von Dr. Menachem Mayer, einem Erziehungswissenschaftler, machte den Besuch am Ort seiner und des inzwischen verstorbenen Bruders Fred Raymes (früher Manfred Mayer) erlebten Leiden noch eindrucksvoller. Seine Berichte machten das erlebte Grauen fühlbar, der Ortsbesuch ließ es anschaulich werden.

Es war nicht das erste Mal, dass die TSG Hoffenheim dem fürchterlichen Schicksal der nordbadischen und besonders der Kraichgauer Juden vor, während und nach der Zeit des Nationalsozialismus nachging. Unter anderem war Dietmar Hopp an der Entstehung des 2007 veröffentlichten Kinofilms „Menachem & Fred“ beteiligt. Der israelische Nationalspieler Ilay Elmkies von der TSG Hoffenheim engagierte sich 2018 beim Film „Zahor“, in dem das Leben von Menachem und Fred und ihrer in Auschwitz ermordeten Eltern erneut thematisiert wurde. Und die Erinnerungstour der TSG-Fans nach Gurs wurde im Umfeld des Länderspiels zwischen Deutschland und Israel in Sinsheim intensiv vorbereitet. Ein Workshop am 25./26. März in Neckarzimmern bereitete die Reise vor.

So erfuhr die Gruppe, dass Familie Mayer bei den November-Pogromen 1938 („Reichskristallnacht“) in Hoffenheim Grässliches erleben musste, als die Einrichtung ihrer Wohnung öffentlich verbrannt wurde. Heinz und Manfred hatten schon 1937 die Schule in Hoffenheim verlassen müssen, der Vater verlor seinen Beruf, die Schikanen wurden immer furchtbarer. „Ich wurde ständig schikaniert und verprügelt. Ich lernte wegzulaufen, mich zu verstecken und den Steinen auszuweichen, die nach mir geworfen wurden“, erzählte Menachem im 2007 veröffentlichten Film. Nie sei ein Erwachsener eingeschritten, obwohl es viele mitbekamen.

Die Auseinandersetzung mit der jüdischen Geschichte im Kraichgau im Zusammenhang mit der Erinnerungstour hat viele TSG-Fans tief betroffen gemacht. In der Reisegruppe entstand, 1.300 Kilometer von Sinsheim entfernt, ein großer Zusammenhalt. Ein gutes Beispiel dafür, dass die Verbindung zur TSG mehr bedeuten kann als der Arenabesuch. „Die Fanarbeit der TSG geht weit über die Kurve im Stadion hinaus. Wir haben es mit dem Leuchtturmprojekt dieser Gurs-Reise geschafft, bildungspolitische Arbeit in die Fanbetreuung zu integrieren“, erklärte Carsten Lindwurm, der als damaliger TSG-Fanbeauftragter die Leitung des Projekts innehatte. „Im Verein gab es ein großes Interesse an unserer Tour und der umfangreichen Vorbereitung. Wir haben bei der Organisation große Unterstützung erhalten“, sagte Lindwurm, der am 30. Juni die Tätigkeit bei der TSG beendet hat. Finanziell gefördert wurde die Reise von der Deutschen Fußball Liga.

Neben den Gesprächen mit Menachem waren der Besuch der 1994 eröffneten Gedenkstätte im ehemaligen Internierungslager und der Lagerfriedhof mit mehr als 1.000 Gräbern die Kernpunkte der Tour – wobei ein Mahnmal niemals das brutale Geschehen von 1940 bis 1945 an selber Stelle wiedergeben kann. Wo direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ein Wald gepflanzt wurde, waren die Internierten damals durch Stacheldraht unter verheerenden Bedingungen eingesperrt. Das Lager Gurs war jedoch nicht mit den Vernichtungslagern wie Auschwitz oder Treblinka zu vergleichen. Ein besonderer historischer Aspekt ist allerdings, dass die Juden in Baden schon im Herbst 1940 deportiert wurden – also vor der Wannseekonferenz 1942, auf der die NS-Führung den Holocaust im Detail organisierte.

Manfred und Heinz konnten das Lager Gurs im Frühjahr 1941 dank der Hilfe einer im Untergrund operierenden Hilfsorganisation verlassen und kamen in ein Waisenhaus. Bis 1942 erhielten sie Post von ihren Eltern, erst nach dem Krieg erfuhren sie von deren Ermordung in Auschwitz. Nachdem die Wehrmacht 1942 auch Südfrankreich besetzt hatte, mussten sich die Brüder verstecken, im Mai 1944 wurde der 12-jährige Menachem von der Hilfsorganisation dann in die Schweiz geschmuggelt. Bis 1948 blieb er dort – in neun verschiedenen Einrichtungen. Manfred lebte weiter versteckt in Frankreich, bis er 1946 in die USA auswanderte, den Namen Fred Raymes annahm und ein erfolgreicher Luft- und Raumfahrt-Ingenieur wurde. Heinz wanderte 1948 in den sich gerade gründenden Staat Israel aus. Er wurde zu Menachem Mayer und später Direktor im israelischen Kultusministerium.

26 Jahre sahen sich die Brüder nicht wieder, bis es zu einem Treffen in Israel kam. Menachem kehrte 1974 erstmals nach Hoffenheim zurück, „weil mich irgendein Zauber mit Deutschland verband“, war allerdings enttäuscht vom damaligen Desinteresse an seiner Geschichte. Die Brüder begannen ihr Schicksal aufzuschreiben, 2005 verbrachten sie mit weiteren Familienmitgliedern auf Einladung der Familie Hopp einige Tage in Hoffenheim. Aus ihrem Buch entwickelte sich der Film „Wiedersehen in Hoffenheim – Menachem & Fred“. Er wurde speziell in Israel ein Erfolg und sogar auf der Berlinale ausgezeichnet.

Das mahnende Andenken an die Hoffenheimer Familie Mayer und die vielen anderen verschleppten Mitbürger ist inzwischen fest etabliert, auch bei der TSG Hoffenheim. Im Nachgang wird ein Film zur Gurs-Fahrt entstehen, dieser wird auf allen Plattformen der TSG zu sehen sein. Außerdem wird ein Nachtreffen der Teilnehmer*innen und Teamer rund um den 22. Oktober, dem Jahrestag der Deportation, anberaumt, bei dem weitere Projekte geplant und eruiert werden sollen.

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