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·13. Mai 2022

EM-Ticket 1972: Sieg ohne Tore

Artikelbild:EM-Ticket 1972: Sieg ohne Tore

Der erste deutsche Sieg in Wembley, am 29. April vor 50 Jahren, war in diesen Tagen wieder ein großes mediales Thema. Noch einmal wurde geschwelgt vom aus der Tiefe des Raumes stürmenden Netzer und dem Ramba-Zamba-Fußball, dem Synonym für die angeblich "beste deutsche Nationalmannschaft" aller Zeiten. Gern vergessen wurde dabei, dass das 3:1 von Wembley erst die halbe Miete für die Teilnahme an der EM-Endrunde gewesen war. Heute vor 50 Jahren, am 13. Mai 1972, musste der letzte Schritt gegangen werden. In Berlin. Das Beste an diesem Spiel, nur zwei Wochen nach der Galavorstellung, war das Ergebnis. Aber selten war ein 0:0 wertvoller als dieses. DFB.de blickt zurück.

An einem verregneten Samstag fanden sich bis 16 Uhr rund 84.000 Zuschauer im Berliner Olympiastadion ein. Volle Ränge waren zwar die Regel, wenn die Nationalmannschaft in die damals noch geteilte Inselstadt inmitten der DDR kam, aber auf dieses Spiel freute sich "janz Berlin". Zu hoch lag die Latte nach dem Hinspiel, als in der internationalen Presse von "Fußball 2000" oder "Bilderbuchfußball" die Rede gewesen war. Komplimente, die die bis dato mehr für ihren Kampfgeist gerühmten Deutschen nicht gewohnt waren, aber umso lieber entgegennahmen. Doch während vor dem Hinspiel eine "Was haben wir schon zu verlieren?"-Stimmung herrschte und aus dieser Lockerheit ein wahres Fußballfest entsprang, musste Bundestrainer Helmut Schön nun taktieren.


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Plötzlich Favorit

Nun hatten sie etwas zu verlieren, der Außenseiter war plötzlich Favorit und mit zwei Toren im Vorteil. Warum um alles in der Welt sollte er da bedingungslos angreifen? Also ließen sie es. Schön nahm nur einen Wechsel vor und brachte den Kölner Heinz Flohe für Rechtsaußen Jürgen Grabowski. Flohe übernahm auf dem Feld den Platz von Uli Hoeneß, der vom Mittelfeld auf den Flügel rückte. Das Gerüst stellten wie in Wembley sechs Bayern-Spieler. Günter Netzer, einer von zwei Gladbachern, mahnte zur Seriosität und versicherte: "Von uns denkt keiner daran, die Engländer im Rückspiel zu unterschätzen." kicker-Chefredakteur Karl-Heinz Heimann erwartete sogar eine von "Revanchewut" getriebene Gästemannschaft.

Die Engländer, bis dahin noch eine Weltmacht des Fußballs, jedoch hatten fast alle Zuversicht verloren, wie Weltmeister Geoff Hurst noch 50 Jahre später dem kicker erzählte: "Aber das Duell war ja eigentlich schon vorbei, nachdem wir in Wembley 1:3 verloren hatten. Das holst Du niemals auf, wenn Du auf diese Weise zu Hause gegen einen Gegner von dieser Topqualität verloren hast." Entsprechend taktierte der englische Coach Sir Alf Ramsey, er wollte nur keine zweite Blamage und baute zwei kampfstarke Spieler im Mittelfeld ein: Norman Hunter aus Leeds, im Hinspiel noch Bewacher Gerd Müllers, und Peter Storey von Arsenal. Im Spielaufbau war von ihnen wenig zu erwarten, dafür galten sie als "hard men". Noch einmal sollte Netzer nicht so ungehindert über den Platz marschieren.

Für Schön ging's "nur ums Überleben"

Außerdem reduzierte Ramsey die Zahl der Spitzen von drei auf zwei und strich Geoff Hurst, der im Finale 1966 drei Tore erzielt hatte, aus dem Aufgebot. Dann wurde er doch nachnominiert, blieb aber auf der Tribüne. Bezeichnend: Bei der Verlesung der englischen Aufstellung kam hinter jedem Namen ein vielstimmiges "Na und" von den Rängen. Der Respekt vor den Engländern war auf ein Minimum geschrumpft, jedenfalls bei den kessen Berlinern. Gemessen an dieser Ausgangslage war das, was sich dann über 90 Minuten abspielte, die logische Folge. Die einen wollten nicht, die anderen konnten nicht.

Die Zuschauer, von denen die ersten schon fünf Stunden vor Anpfiff im Stadion waren, pfiffen nach der Pause schrill. Dafür dass sie so lange im Regen standen, hätten sie gerne auch ein paar Tore gesehen. Doch es war schon die Zeit, wo das Ergebnis wichtiger als das Erlebnis war. Oder, um es mit Helmut Schön zu sagen: "Heute ging’s nur ums Überleben." Überlebt haben sie es alle, aber mancher tat sich schwerer. Günter Netzer wurde von Storey immer wieder gelegt, teils einfach umgerannt, und klagte: "Ehrlich, ich habe noch nie erlebt, dass dermaßen getreten wurde." Sie hätten ihn "gleich an drei verschiedenen Stellen erwischt" und "einen neuen Rekord aufgestellt".

Viele Unterbrechungen und nasser Rasen

Es war der Preis für den Glanztag von Wembley, an dem Netzer strahlender denn je auf der internationalen Fußballbühne erschienen war. In Berlin strahlte niemand. Torchancen waren Mangelware, Sepp Maier musste nur drei Bälle halten. Siggi Held immerhin traf die Latte (18.), während Gerd Müller – kaum zu glauben – zu keinem einzigen Abschluss kam. Auch er war in harte Nahkämpfe verstrickt, McFarland von Meister Derby County nahm sich seiner an. Im kicker hieß es: "Wenn es nicht mehr anders ging, spielte McFarland den Würger vom Dienst." Gelb gab es trotz allem nicht und mancher fragte sich, ob der jugoslawische Schiedsrichter die Karten vielleicht vergessen habe. "Statt im Grunewald ist nun im Olympiastadion plötzlich Holzaktion", witzelte der kicker in seinem Spielstenogramm in Minute 71.

Wegen der vielen Unterbrechungen wurde es auch spielerisch vor allem nach der Pause ein ziemliches Gewürge, der nasse Rasen machte es den Akteuren zudem schwer, den Ball zirkulieren zu lassen. Was die Engländer ohnehin nicht auszeichnete in jenen Tagen. Karl-Heinz Heimann empörte sich im kicker: "Die Bälle hoch und weit vors Tor dreschen, das kann doch einfach nicht mehr der Weisheit letzter Schluss sein!" Spöttisch befand er: "Vom Doppelpaß scheinen die Engländer nie etwas gehört zu haben."

Deutschland fünf Wochen später Europameister

Das harte Urteil über das destruktive Spiel des Weltmeisters von 1966 aus dem Mutterland des Fußballs wurde von der britischen Presse vollauf geteilt. "Ich war bestürzt und beschämt über die scheußlichen Methoden der Engländer", schrieb der Reporter des Sunday Express und im Sunday Telegraph hieß es: "Ich habe nie geglaubt, dass mich ein englisches Nationalteam so langweilen konnte." Nur Trainer Alf Ramsey sah das Positive: "Ich bin stolz auf meine Spieler. Eine ähnliche Leistung im Hinspiel hätte uns wohl die Qualifikation für die Halbfinals gesichert."

Die verdienten sich die Deutschen und was sie daraus machten, das entzückte die Fußballwelt fünf Wochen später in Brüssel. Sie wurden im grandiosen Stil Europameister. Die Fahrkarte nach Belgien lösten sie heute vor 50 Jahren, als elf große Spieler bewiesen, dass sie immer noch kämpfen konnten.

Die Aufstellung: Maier – Höttges, Beckenbauer, Schwarzenbeck, Breitner – Flohe, Netzer, Wimmer – Hoeneß (70. Heynckes), Müller, Held.

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