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·15. Juli 2024
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·15. Juli 2024
Durch den hochverdienten 2:1-Erfolg über England hat sich Spanien den EM-Titel gesichert und sich zeitgleich zum alleinigen Rekordeuropameister gekrönt. Der Triumph der Iberer ist auch ein Sieg des mutigen Fußballs über zunehmende Biederkeit und den Pragmatismus vieler Mannschaften.
Es ist vollbracht: Zum ersten Mal seit 2012 hat sich die spanische Nationalmannschaft einen großen internationalen Titel gesichert. Mit ihrem vierten EM-Triumph nach 1964, 2008 und eben 2012 machte sich La Roja zum alleinigen Rekordchampion Europas. Dass dieser Erfolg hochverdient ist, verdeutlicht ein Blick auf zwei simple Fakten.
Mit 15 geschossenen EM-Toren stellen die Spanier eine neue Bestmarke auf. Damit wurde der bisherige Rekord Frankreichs aus dem Jahr 1984 (14) übertroffen. Zudem benötigte die Mannschaft von Luis de la Fuente auf ihrem Weg zum Titel kein einziges Elfmeterschießen. Sechs von sieben Begegnungen gewann man nach 90 Minuten, nur im Viertelfinale gegen Gastgeber Deutschland ging es in die Verlängerung. Auch das war zuvor noch keinem Europameister gelungen. “Keiner macht es schöner. Der beste Europameister aller Zeiten”, titelte gar die Schweizer Tageszeitung Blick.
Vergleicht man diesen Turnierweg beispielsweise mit dem des Finalgegners England, dann lässt sich gar nicht oft genug betonen, wie hochverdient der spanische Triumph ist. Die Three Lions erzielten während dieser EM gerade einmal acht Treffer und gewannen darüber hinaus nur zwei Partien in der regulären Spielzeit. Zweimal spielten die Engländer unentschieden, jeweils einmal musste man in die Verlängerung beziehungsweise in das Elfmeterschießen. Und das trotz der insgesamt deutlich leichteren Gegner.
Man hätte dem Fußballgott also eine riesige Portion Unfairness unterstellten müssen, hätte die Mannschaft von Gareth Southgate am gestrigen Abend den Henri Delaunay-Pokal in den Nachthimmel des Berliner Olympiastadions gereckt. Zumal nicht nur der Weg in das Endspiel, sondern auch dieses selbst einen spielerischen Klassenunterschied zwischen beiden Teams aufzeigte.
Ein Ballbesitzanteil von 65 Prozent, ein Torschussverhältnis von sechzehn zu neun, eine um zwölf Prozent bessere Passquote und der xG-Wert von 2,31 zu 0,63 verdeutlichen: Diese Partie hatte nur einen Sieger verdient. Dass das Finale “erst” durch ein spätes Tor des eingewechselten Mikel Oyarzabal in der 86. Minute entschieden wurde, ist primär der starken Leistung des Schlussmannes Jordan Pickford und einem kurzen Moment des Aufblitzens der individuellen Klasse Englands zu verdanken.
Der eigentlich schmeichelhafte Ausgleichstreffer des ebenso kurz zuvor eingewechselten Cole Palmer untermauerte, wie viel Qualität eigentlich in dieser Mannschaft steckt. Auch im vorherigen Turnierverlauf waren es immer wieder einzelne Szenen dieser Art, die die fußballerischen Nicht-Leistungen der Drei-Löwen-Männer überstrahlten und letztlich deren Weg in das Endspiel von Berlin pflasterten.
(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)
Als Beispiele seien hier der Last-Minute-Fallrückzieher von Jude Bellingham gegen die Slowakei, die Einzelleistung Bukayo Sakas gegen die Schweiz und der Ollie-Watkins-Treffer in der Nachspielzeit gegen die Niederlande genannt. Zusammengerechnet hatten die genannten Szenen einen xG-Wert von gerade einmal 0,14, aus denen die englischen Superstars dennoch satte drei Tore machten. Ohne die herausragenden Aktionen ihrer Individualisten wären die Schützlinge aus dem Mutterland des Fußballs also schon deutlich früher in jenes zurückgereist.
Southgates pragmatischer Spielansatz, der sich alleine auf defensive Stabilität und gelegentliche Ausnahmemomente seiner Offensivspieler verlässt, kann kurzfristig durchaus von Erfolg gekrönt sein. Doch über ein gesamtes Turnier hinweg sinkt die Wahrscheinlichkeit, auf diese Art und Weise positive Resultate zu erzielen. Denn irgendwann kommt dieses eine Spiel, in dem dich die Genialität von Bellingham oder Harry Kane nicht mehr retten kann. Oder eben einmal zu wenig.
Der spanische Trainer Luis de la Fuente dagegen hat seit seinem Amtsantritt im Februar 2023 ein Fundament erschaffen, welches nichts dem Zufall überlässt und das vor allem nicht von Ausnahmemomenten einzelner Akteure abhängt. Rodri, Fabian Ruiz, Dani Olmo, Nico Williams, Lamine Yamal – es ist schier unmöglich den spanischen MVP dieser Europameisterschaft auszumachen.
Auch die Verletzung eines Pedris brachte La Roja keineswegs aus dem Takt. Eher im Gegenteil: Seit dessen Ausscheiden im Viertelfinale gegen Deutschland ist das Team durch die Hereinnahme von EM-Top-Scorer Olmo fast noch stärker geworden. Auch das Fehlen der im Halbfinale gesperrten Robin Le Normand und Dani Carvajal wurde von der mannschaftlichen Geschlossenheit des viermaligen Europameisters aufgefangen.
(Photo by ODD ANDERSEN/AFP via Getty Images)
De la Fuente hat ein derart funktionierendes System etabliert, dass es fast all seinen Spielern ermöglicht, “Plug and Play” in dieses hereinzukommen und umgehend zu funktionieren. Ähnliches war seinem Landsmann Xabi Alonso in der vergangenen Saison bei Bayer 04 Leverkusen gelungen. “Wir haben vieles richtig gemacht. Niemand hat uns etwas geschenkt. Wir haben hart dafür gekämpft”, jubelte der Vater des spanischen Erfolgs nach Abpfiff.
Seine Mischung aus Ballbesitzfußball der “alten” iberischen Schule, gepaart mit einem dynamischen Spiel über die Flügelpositionen plus gelegentlicher Umschaltmomente erschuf eine Mischung, der – mit der Ausnahme Deutschlands – keine Nation wirklich gewachsen war. “La selección” agierte in den vergangenen vier Wochen derart variabel und traf nach Distanzschüssen, Flanken, sowie Standardsituationen. Die aktuelle spanische Mannschaft hat vielleicht nicht die absolute Dominanz ihrer Vorgängerversion von 2008 bis 2012, doch dafür ist sie explosiver und offensiv fast noch schwerer auszurechnen.
Es ist daher nur folgerichtig und in jeglicher Hinsicht verdient, dass sich Rodri und Co. gestern Abend mit dem Titelgewinn belohnten. Bei einer Europameisterschaft, die in der K.o.-Runde fast nur noch von biederem Angsthasen- und Verwalterfußball geprägt war, stellte diese junge spanische Mannschaft einen angenehmen Kontrast dar, der den Fans auf der ganzen Welt zeigt, dass man auch mit einem mutigen und attraktiven Spiel noch große Erfolge einfahren kann.
Daher bleibt nur zu hoffen, dass sich viele Länder und vor allem Trainer ein Bespiel an der progressiven Spielidee der Furia Roja nehmen. Denn diese Art des spanischen Fußballs vor allem der spanische Kader haben eine Zukunft. Schon jetzt lässt sich mit Gewissheit sagen, dass die Iberer bei der Weltmeisterschaft 2026 zum absoluten Favoritenkreis zählen werden. Wir ziehen also folgendes EM-Fazit: Mehr De la Fuente und Nagelsmann und weniger Southgate und Deschamps wagen.
(Photo by Stu Forster/Getty Images)