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·12. Juni 2024
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·12. Juni 2024
England ist einer der Favoriten bei der EM 2024. Der Druck für Trainer Gareth Southgate ist groß. Und die Probleme werden nicht weniger.
Ja wann kommt er denn endlich heim, der Fußball? Solange die englische Nationalmannschaft keine Trophäe gewinnt, wird dieses Narrativ über die einst besungenen 30, mittlerweile sogar 58 „years of hurt“ seit dem WM-Titel 1966 nicht sterben.
Bei der EM 2024 scheinen die Aussichten dafür auf den ersten Blick so gut wie selten zuvor. Dementsprechend hoch ist allerdings auch der Druck. Für die Mannschaft. Und für Trainer Gareth Southgate, der in sein viertes Turnier als Trainer der Engländer geht.
„Aufgrund der starken Entwicklung unter Southgate und der Spieler, die ihm zur Verfügung stehen, ist der Druck enorm. Die Fans erwarten, dass England die EM gewinnt. Sie wollen es nicht. Sie erwarten es. Alles andere wäre für viele ein Scheitern,“ erklärt Sami Mokbel, Fußball-Chefreporter der Daily Mail im Gespräch mit 90PLUS.
Doch wie realistisch ist diese Erwartungshaltung?
Zugegeben, bei den Namen der englischen Auswahl ist es leicht, ins Schwärmen und dementsprechend auch ins Träumen zu geraten.
Da haben wir die Dynamik und Präsenz des erst 20-jährigen Champions-League-Siegers Jude Bellingham von Real Madrid, die Laufstärke und Spielintelligenz von Declan Rice, der Vizemeister Arsenal derartig ausbalancierte, dass die beste Defensive und der beste Angriff der Liga herauskamen. Davor finden wir einen der komplettesten Flügelspieler der Welt in Bukayo Saka, den genialen „Premier League Player of the Year“ Phil Foden von Meister Manchester City und natürlich Torphänomen Harry Kane vom FC Bayern München. Ach ja, der beste Scorer der englischen Beletage, Newcomer Cole Palmer, hat nicht mal einen Startplatz sicher.
Fantastische Einzelteile genügen allerdings nicht, wenn das Auto als Ganzes nicht die PS auf den Rasen bekommt. Noch scheint nämlich etwas Sand im Getriebe zu stecken. Das zeigte das enttäuschende 0:1 bei der Generalprobe gegen Island, als das Pressing ebenso unkoordiniert und zahnlos wirkte wie das Angriffsspiel.
Trainer und Spieler bezeichneten das Spiel als Weckruf. Und sicher, es war nur ein Freundschaftsspiel und Southgate wird nachjustieren. Der Platz neben Rice, wo der passstarke Trent Alexander-Arnold nun den Vorzug gegenüber dem unerfahrenen Kobbie Mainoo zu erhalten scheint, sowie die bevorstehende Rückkehr des angeschlagenen Saka könnten entscheidende Stellschrauben sein. Doch wenige Tage vor Turnierstart scheinen die Probleme für Southgate eher zu- statt abzunehmen.
(Photo by HENRY NICHOLLS/AFP via Getty Images)
Die eigentliche Baustelle befindet sich nämlich in der Defensive. „Hier gibt es große Zweifel“, berichtet Mokbel. Da haben wir zunächst den verletzungsbedingten Ausfall von Harry Maguire, der anders als auf Klubebene für sein Land nahezu nie enttäuscht. Mokbel beschreibt das Tandem aus Maguire und John Stones, der ebenfalls nicht hundert Prozent fit ist, als das „Fundament“ für den Aufschwung der Engländer unter Southgate. Bei den letzten beiden Turnieren liefen die Three Lions meist in dieser Konstellation auf, spielten dabei häufiger zu Null (acht) als sie Tore kassierten (sechs). In der abgelaufenen EM-Quali gab es nur vier Gegentore.
Marc Guehi, der vielversprechende aber vergleichsweise unerfahrener Innenverteidiger von Crystal Palace, (23, elf Länderspiele) hat große Fußstapfen zu füllen. Mokbel bezeichnet ihn als einen „exzellenten Spieler, der Englands Abwehr in puncto Athletik und technische Fähigkeiten etwas Neues geben wird. Es wird sich zeigen, wie er auf der großen Bühne reagiert, auch wenn sein Temperament darauf schließen lässt, dass er gleich in seinem Element sein wird.“
Restzweifel bestehen also, sowohl bei ihm, als auch seinen Nebenmännern. „Kyle Walker ist nach wie vor einer der besten Rechtsverteidiger der Welt, doch (Kieran) Trippier fühlt sich als Linksverteidiger nicht so wohl wie auf der gegenüberliegenden Seite, wo Luke Shaw zunächst fehlen wird.“ Zumindest im Tor gibt es Sicherheit. Jordan Pickford sollte mit der Routine seiner mittlerweile 30 Jahre und dem Selbstbewusstsein einer hervorragenden Saison mit dem FC Everton ein Rückhalt sein.
Trotz einiger Probleme schickt England einen der besten Kader Europas ins Turnier. Das war allerdings auch bei der vermeintlichen „Golden Generation“ 2004 der Fall. Am Ende bleibt das Ensemble um John Terry, David Beckham, Steven Gerrard oder Wayne Rooney nur für das „was hätte sein können“ in Erinnerung.
Die aktuelle Generation hat noch Zeit, sich den Glanz zu verdienen. Die absoluten Leistungsträger sind jung – auch der 30-jährige Kane hat mindestens noch die WM 2026 auf Topniveau vor sich – der Nachwuchs vielversprechend. Und trotzdem: „Wenn wir eine große Mannschaft sein wollen und ich ein Top-Coach, dann musst du in den großen Momenten liefern“, sagte Southgate bei der Ankunft der Engländer in Deutschland zur Bild.
Der ehemalige Verteidiger hat bei Welt- und Europameisterschaften zwar die meisten Siege (11) in der Trainerhistorie der Engländer eingefahren. Den Fußball konnte allerdings auch er bisher nicht „nach hause bringen.“
Der Halbfinaleinzug bei der WM 2018 war ein Erfolg – so gering die Erfahrung auf Bank und Rasen, so enttäuschend die Jahre zuvor. Die Finalpleite gegen Italien im Elfmeterschießen 2021 war bitter, aber aufgrund der suspekten Entscheidung, eine frühe Führung zu verwalten anstatt einem wankenden Gegner den K.O. zu verpassen, vermeidbar, wenn nicht sogar selbst verschuldet. Und das Viertelfinalaus bei der WM in Katar war, trotz des namhaften Gegners Frankreich, enttäuschend.
(Photo by GLYN KIRK/AFP via Getty Images)
Die Kritik an Southgate, sie hat zugenommen. Ein Grund? Er mache zu wenig aus der großen individuellen Qualität, konzentriere sich zu sehr auf Kontrolle anstatt das Offensivpotential auszuschöpfen. Um auf die Auto-Analogie zurückzugreifen: Er fährt den englischen Rolls-Royce oft wie einen Opel.
Doch dafür gibt es auch Pro-Argumente. „Angesichts der Probleme, die England derzeit in der Defensive hat, könnte etwas Pragmatismus durchaus von Vorteil sein, zumindest bis Shaw zurückkehrt und wir sehen, wie sich Guehi an den Turnierfußball gewöhnt”, sagt Mokbel.
Stichwort Turnierfußball: Dieser ist besonders schonungslos was Tagesform, Fehler oder Pech angeht. Faktoren, die man nicht eliminieren, aber zumindest eingrenzen kann. Frankreich, das unter Didier Deschamps selten Offensivfeuerwerke abbrennt, ist ein weiteres Beispiel dafür. “Southgate ist für seine vorsichtige Herangehensweise kritisiert worden. Aber ein Halbfinale, ein Finale und ein Viertelfinale sind eine ordentliche Bilanz”, so Mokbel.
„Ordentlich“ wird 2024 allerdings wohl kaum genügen, um den Durst nach dem erst zweiten großen Titel dieser traditionsreichen Fußballnation zu stillen. Da interessieren auch keine Begleitumstände. „Die körperlichen Probleme, Fitness und Verletzungen, werden es schwer machen“, sagt Mokbel und kommt daher zum Entschluss: „Ich befürchte, dass England den zweiten Platz von 2021 nicht wiederholen oder gar verbessern kann.“
Für Southgate, dessen Vertrag ausläuft, würde dies nach knapp acht Jahren wohl das Aus als Trainer der Three Lions bedeuten. „Wenn wir nicht gewinnen, werde ich wahrscheinlich nicht mehr hier sein”, sagte er nüchtern. Und der Schmerz der englischen Fans würde anhalten.
(Photo by Alex Pantling/Getty Images)