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Borussia Mönchengladbach

·20. Oktober 2021

Eine Geschichte, die wie ein Pokal wiegt

Artikelbild: Eine Geschichte, die wie ein Pokal wiegt

Die FohlenWelt, das 2019 eröffnete Vereinsmuseum im Gebäude „Borussia-8-Grad“ im BORUSSIA-PARK, ist ein Publikumsmagnet. Die Geschichte des Vereins, die großen Spieler und die großen Spiele, die Titel und Trophäen, das alles zieht die Anhänger der Borussia genauso an wie ein Bundesligaspiel im nebenan gelegenen Stadion. Mittendrin gibt es einen Raum, in dem eine Cola-Dose in einem Glasquader schwebt. Die rote Büchse ist eine der wichtigsten Attraktionen der FohlenWelt, die Macher der Ausstellung haben ihr gebührend viel Platz eingeräumt in einem dunklen Raum, der „Magische Nächte“ heißt und in dem es um die großen Europapokalabende des VfL geht.

Die Büchse ist Symbol geworden für eine der großen Geschichten, die dieser Klub geschrieben hat. Eine dieser Geschichten, die der Opa dem Enkel erzählt, wenn er stolz von früher schwärmt. Eine Geschichte, in der es nicht um eine Meisterschaft oder einen Pokal geht, zwar auch um Tore und ein denkwürdiges Fußballspiel, ja das schon, aber am Ende dieser Geschichte steht nichts, was man sich auf den Briefkopf schreibt oder an eine Wand im Trophäenzimmer. Die rote Cola-Dose erzählt von einem Scheitern, für das niemand etwas konnte. Sie erzählt von einer gefühlten Ungerechtigkeit im Moment eines grandiosen Sieges. Sie erzählt von der Machtlosigkeit gefeierter Sieger im dunkelgrauen Nebel der Sportgerichtsbarkeit.


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Das 7:1 gegen Inter Mailand, das bis heute mit dem „Büchsenwurf vom Bökelberg“ verbunden wird, war möglicherweise das beste Spiel, das jemals von einer Mannschaft von Borussia gespielt wurde. Ein Kantersieg einer jungen Mannschaft aus der Provinz gegen ein Team aus erfahrenen Europapokalsiegern und Nationalspielern. Und das alles fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit, denn Zeugen wurden nur die Zuschauer im Stadion, eine Fernsehübertragung gab es damals nicht.

Es ist weg, für alle Zeiten

Nach der 1:7-Pleite am Bökelberg legte Inter beim europäischen Fußballverband UEFA Protest gegen die Wertung des Spiels ein, weil ihr Spieler Roberto Boninsegna in der ersten Halbzeit von einer aus dem Publikum geworfenen Dose am Kopf getroffen worden und darauf in Ohnmacht gefallen war. Angeblich? Absichtlich? Vermeintlich? Die UEFA orientierte sich an den zusammengetragenen Tatsachen und Berichten von beiden Seiten und kam zu einem Urteil, das die Sieger zu Verlierern machte und die Verlierer zu Siegern. Sie annullierte das Resultat und ordnete an, dass die Partie auf neutralem Boden zu wiederholen sei.

Sie erklärte ein Spiel für null und nichtig, das für die Spieler der Borussia einer der besten Momente ihrer Laufbahn als Fußballer war. Sie strich das 7:1 von Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mailand aus den Ergebnislisten. Wer sich heute in den offiziellen Medien die Resultate im Europapokal der Landesmeister 1971/72 anschaut, der findet hinter der Partie Borussia Mönchengladbach gegen Inter Mailand die Resultate 2:4 (in Mailand) und 0:0 (im in Berlin wiederholten Heimspiel der Borussia). Bis heute ist das so geblieben. Das 7:1 wird nicht mehr erwähnt. Es ist weg, für alle Zeiten.

Wer sich heute mit den Spielern unterhält, die damals für Borussia aufliefen, der braucht nicht viel Zeit und auch nicht viel Feingefühl, um festzustellen, welche Wunden die UEFA mit ihrer damaligen Entscheidung riss. Superstars wie Günter Netzer, Berti Vogts, Rainer Bonhof, Herbert Wimmer, Jupp Heynckes ist der Schmerz bis heute anzumerken, den die Ereignisse vom Oktober 1971 bei ihnen hinterlassen haben. „Ich würde gerne auf den Mythos vom Büchsenwurf verzichten, wenn man uns dafür das 7:1 zurückgeben würde“, sagt Berti Vogts.  Man nahm ihnen damals eine große Chance, den wichtigsten Titel im Vereinsfußball zu gewinnen, den Europapokal der Landesmeister. Man nahm ihnen damals einen Sieg, der sich für sie wie das beste Spiel ihrer Karriere anfühlte. Was ist dagegen schon eine leere Dose im Vereinsmuseum?

Der Blickwinkel der Romantiker

Aber es gibt da auch den anderen Blickwinkel. Den der Fußballfans, den der Fußball-Geschichtsschreiber und der Sport-Romantiker. Der Menschen, für die eine Niederlage genau so viel Wert sein kann wie ein Sieg. Eine Geschichte wie die vom Büchsenwurfspiel kann identitätsstiftend werden, weil sie vor Ungerechtigkeit trieft, weil sie von der Machtlosigkeit des Sportlers und des Fans berichtet, dem der große Triumph von einer unsichtbaren Macht entrissen wird. So wird eine Geschichte für immer und ewig zum bestaunten und gefeierten Mythos, die sich im Augenblick ihres Ereignisses einfach nur schlecht anfühlte.

Ein Fußball-Romantiker war auch Ted van Leeuwen, der ehemalige Technische Direktor des niederländischen Klubs Vitesse Arnheim. Er erhielt Ende des Jahres 2011 einen Brief von Stephan Schippers und Max Eberl, der Geschäftsführer und der Sportdirektor der Borussia. Anlässlich des 40-jährigen Jubiläums des Büchsenwurfspiels schickten sie ein Schreiben in niederländischer Sprache an Vitesse Arnheim. Darin formuliert war die höfliche Bitte, ob es denkbar sei, die im Vereinsmuseum von Vitesse liegende Büchse an die Borussia zu übergeben.

Van Leeuwen meldete sich bald darauf zurück. Mit einer Einladung an die Gladbacher zu einer feierlichen Übergabe des Exponats in Arnheim. Bei dem im Juni 2012 stattfindenden Besuch der Gladbacher Delegation begründete er in einer bemerkenswerten Ansprache, warum die Büchse nach Mönchengladbach gehörte. „Wir sind hier wegen einer kleinen Dose, doch sie erzählt von Unrecht, Schauspielerei und der Kuriosität des Fußballs.“ Ted van Leeuwen hatte erkannt, dass es sich bei dem Stück aus Blech um ein Stück Fußballgeschichte handelte. Um den einzigen Gegenstand, der übrig geblieben war von einem der größten Spiele der Vereinsgeschichte von Borussia Mönchengladbach und von den Umständen, die aus einem annullierten Sieg einen Mythos machten.

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Anfang Oktober im Werkstatt-Verlag erschienenen Buch „Der Büchsenwurf vom Bökelberg. Die ganze Geschichte“.

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