FC Schalke 04
·6. Oktober 2022
Ein Schalker in Irland: Erfolg im Untergang

In partnership with
Yahoo sportsFC Schalke 04
·6. Oktober 2022
Ein Samstagnachmittag im Dezember 2020. Die Kundschaft des „The Stag’s Head“ im irischen Dundalk ahnt bereits, was gleich passiert: Auch dieser Nachmittag wird königsblau geprägt sein.
Kevin Orzesek wird im S04-Trikot durch die Tür kommen, sein Tablet an das Fernsehgerät seiner Stammkneipe anschließen, ein paar Guinness trinken und sich dann mit allen Anwesenden in eine Art Zeitschleife begeben, wie man sie aus dem Spielfilm „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 kennt. Die Mannschaft des FC Schalke 04 wird bewährt unerfolgreich auf dem Platz zu Werke gehen, kaum Gegenwehr zeigen und wieder nicht gewinnen. Dieser Tage herrscht nämlich Kontinuität beim Tabellenletzten der Fußball-Bundesliga, so läuft das schon seit Monaten.
Kevins irische Freunde und Bekannte, die ihn ohnehin bereits für herrlich bekloppt halten, weil er selbst bei übelsten Trinkgelagen mit seinem Tablet auftaucht, um Schalke zu sehen, sind zwiegespalten. Die einen bemitleiden ihn ob der nicht enden wollenden Negativserie, die vermutlich schnurstracks in die Zweite Liga führt, die anderen sind beeindruckt von seinem ans Masochistische grenzenden Durchhaltevermögen und der unfassbaren Liebe zu einem Fußballverein, dessen Fan er schon seit seiner Kindheit in Gelsenkirchen-Erle ist.
Angefangen hat seine Leidenschaft für den Kumpel- und Malocherclub in der Saison 1983/1984, als der Vater ihn zu Zweitligazeiten mitnimmt ins vom Kinderzimmer aus fußläufig knapp 30 Minuten entferne Parkstadion. Die wenig klangvollen Namen der damaligen Gegner: BV 08 Lüttringhausen, SC Charlottenburg, BVL 08 Remscheid oder Union Solingen. „Gesehen habe ich als Fünfjähriger in der Nordkurve außer den Hinterteilen der vor mir stehenden Fans eigentlich nichts. Aber ich bekam immer eine Cola und Bratwurst im Brötchen mit Senf, was damals sensationell war, weil es Cola bestenfalls an Geburtstagen gab“, erinnert sich Orzesek, dem nur ein zusätzlicher Buchstabe im Nachnamen fehlt, um zu heißen wie der letzte Schalker Meistertorwart Manfred Orzessek.
Neben Cola und Bratwurst begeistert sich der Grundschüler für die von den Fans in der Nordkurve getragenen Kutten, quengelt so lange, bis er eine Jeansjacke bekommt, deren Ärmel von der Mutter sorgfältig abgetrennt werden. Nach jedem erfolgreichen Auftritt seines S04 kauft ihm der Papa gleich nach Spielschluss am Stadion einen neuen Aufnäher für seine „C&A Jinglers-Jacke in Größe 156, die heute noch im Keller meines Elternhauses liegt.“
Mit 14 besucht er die Schalker Heimspiele alleine, fünf Jahre später sieht er sich mit seinem Freund Thomas Leufke gerne auf Auswärtsfahrten. „Bis heute bin ich ein von den Viel- und Allesfahrern verschmähter Rosinenrauspicker, war etwa in Barcelona, Mailand oder bei vielen Pokalspielen.“ Ein Schlüsselerlebnis hat der Fan im November 2004, als er mit seiner damaligen Frau das Spiel bei Heart Of Midlothian in der Gruppenphase der Europa League sieht, das der S04 durch ein Tor von Lincoln mit 1:0 gewinnt. „Meine Frau und ich hatten vorher schon eine irrsinnige Begeisterung für Schottland. Wir waren oft da und irgendwann hatte es sich bei uns manifestiert, dass wir mal dort leben wollen“, erzählt der heute 44-Jährige.
Ende 2016, Kevin arbeitet nach über acht Jahren der Selbstständigkeit in seinem gelernten Beruf als Werbetechniker wieder in Festanstellung, bekommt seine Frau ein unerwartetes Stellenangebot in Irland. „Schottland war es zwar nicht, aber ich habe gar nicht lange überlegt und ihr gesagt, dass ich überall hingehe und auch überall Arbeit finden werde.“ Nach einer dreimonatigen Kündigungsfrist zieht er ohne Job im November 2016 an die irische Ostküste nach Dundalk.
Dort fängt der Aufenthalt direkt mit einem nicht zu unterschätzenden Problem an: Die Begegnungen seiner Schalker werden bei keinem Anbieter gezeigt, sodass er die Live-Spiele zuerst gar nicht, und dann auf sehr abenteuerliche Weise sieht. Die Eltern und sein Bruder Karsten bauen in Deutschland Spieltag für Spieltag eine stativähnliche Halterung mit Kamera auf, die die Bilder aus dem Fernsehen abfilmt und auf sein Tablet überträgt. „Die Bildqualität hatte etwas von einer hundertfach abgespielten Videokassette und der Ton war schlichtweg grauenhaft. Aber ich konnte alle Partien live erleben, und das war natürlich herausragend“, schwärmt der gebürtige Gelsenkirchener, der seit Eröffnung der damaligen Schalke-Arena mit seinem Bruder zwei Dauerkarten in Block X besitzt.
Weniger gut läuft es derweil mit seiner Frau, und seit annähernd fünf Jahren ist er mit seiner aus Chemnitz stammenden Freundin Jule zusammen, die er auf einer Party kennenlernt und mit der er mittlerweile in einem schmucken Häuschen lebt. Jeden Samstag veranstaltet das Pärchen hier ein Barbecue im Garten, in dem auch ein Stück VELTINS-Arena-Rasen integriert ist. „Beim Aufstiegsspiel gegen St. Pauli hat mir das jemand zugesteckt und ich habe es in meiner Hosentasche mit nach Irland genommen. Ich sah zwar aus, als hätte ich mich eingenässt, aber das war mir egal.“
Kevin, der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Back-up-Systemen für Computer verdient, besucht regelmäßig auch die Spiele des Dundalk FC, der seit 1926 in der höchsten irischen Liga spielt und anders als der FC Schalke 04 noch nie abgestiegen ist. Sein meistfrequentierter Ort ist aber das „The Stag’s Head“ auf der Linenhall Street, wo Kneipier Skinner mittlerweile zu seinen engen Freunden zählt und dessen Außenbeschilderung der Werbetechniker unlängst neu gestaltet hat.
Und anders als noch im Dezember 2020 hat sich das Verhältnis der irischen Kundschaft zum S04 in wenigen Monaten grundlegend verändert. „Noch vor Ablauf unserer Abstiegssaison dachte ich mir: Ich werde demnächst wieder dort sein, wo meine Fan-Karriere einmal angefangen hat, nämlich in der Zweiten Liga. Und so schlimm war das doch gar nicht. Also fragte ich meine Freunde, ob sie dabei sind, wenn ich einen Fanclub gründe.“ Der Zuspruch ist enorm und bei der Gründung haben die „Celtic Knappen Ireland“ bereits sieben Mitglieder. „Je mehr Leute Woche für Woche die fürchterlichen Niederlagen mit ansahen, desto mehr wollten diesen deutschen Verein kennenlernen“, erzählt er und lacht. „Als dann klar war, dass wir gnadenlos absteigen werden und wir trotzdem jedes zufällig erzielte Schalker Tor feierten und uns umarmten, als würden wir uns nie mehr wieder sehen, fanden die Menschen das einfach nur cool.“
Erfolgreich während des Untergangs zu sein, das schafft vermutlich wirklich nur der FC Schalke 04. Und eben der Gelsenkirchener Orzesek. Im Juli 2021 meldet er den ersten S04-Fanclub in Irland offiziell beim Schalker Fan-Club Verband an und mit Beginn der Zweitliga-Saison 2020/2021 werden es immer mehr: Menschen, die eigentlich Fans von Celtic Glasgow, dem FC Liverpool oder Manchester United sind, lassen sich von der Begeisterung anderer infizieren haben plötzlich einen zweiten Lieblingsverein in Deutschland.
Mit dem harten Kern von sieben Fans reisen die „Celtic Knappen Ireland“ am letzten Augustwochenende 2022 erstmals in die VELTINS-Arena, um die Königsblauen in ihrem Wohnzimmer spielen zu sehen. Beim 1:6 gegen Union Berlin erleben sie zwar ein Déjà-vu aus alten „Stag’s Head“-Tagen, fahren aber dennoch hochgestimmt nach Hause. „Es war ein tolles Abenteuer für alle“, resümiert Kevin Orzesek. „Wir haben im Hexenhäuschen in Gelsenkirchen-Buer und in den Biergärten an der VELTINS-Arena vor und nach dem Spiel viele Fans kennengelernt. Die Niederlage war eher eine Randnotiz und jeder, der dabei war, wird beim nächsten Mal auch wieder mitkommen. Vielleicht suche ich dann vorher aber einen vermeintlich leichteren Gegner aus.“
… kann die Begeisterung für ein Land bestens nachfühlen. Er selbst fuhr in den Achtziger- und Neunzigerjahren massiv nach Großbritannien, um Metal-Konzerte und Heimspiele seines englischen Lieblingsclubs Ipswich Town an der Portman Road zu sehen.