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·19. Oktober 2023

Ein Schalker in der Türkei: Flieger, grüß' mir die Sonne!

Artikelbild:Ein Schalker in der Türkei: Flieger, grüß' mir die Sonne!

Gökmen Mihcioglu wird 1968 als Sohn eines HNO-Arzts und einer Kinderärztin in Wuppertal geboren. Während seine älteren Geschwister Dikmen und Özlen Zahnärzte werden, hat er schon als Kind einen ganz anderen Traum: Er möchte in Dalyan, dem Heimatort seiner Mutter im Südwesten der Türkei leben. Dort, wo er schon als Grundschüler in den Sommerferien Krabben fing und mit dem Boot über den Dalyan-Kanal schipperte, der das namensgleiche Delta mit dem Mittelmeer verbindet.

Mit 18 Jahren und einer abgebrochenen Ausbildung zum Elektriker in der Tasche schnappt sich der in Coesfeld aufgewachsene Schalke-Fan 1987 den Opel Kadett seiner Mutter Solmaz und brettert die knapp 3300 Kilometer in seine Zukunft. Einziges, aber großes Problem: Er kann seinen geliebten FC Schalke 04 nicht mitnehmen, dessen Heimspiele er seit Anfang der Achtzigerjahre einmal im Monat mit einem blau-weiß eingefärbten Bettlaken als Zaunfahne besucht.


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„Mein erstes Spiel war gleich das Derby gegen den BVB, das wir im März 1983 mit 1:2 und ausgerechnet durch zwei Tore von Rüdiger Abramczik verloren haben“, erzählt er. „Wo bin ich denn hier gelandet?“, fragt sich der damals 14-Jährige, als er im Parkstadion vor dem Spiel, währenddessen und danach Schlägereien zwischen den rivalisierenden Fanlagern sieht und sich frierend auf einer kalten Sitzbank der Gegengerade darüber wundert, „dass ein Anhänger vor dem Spiel seine Fahne im Mittelkreis ausbreitet und betet wie ein Moslem.“

Es kommt knüppelhart für ihn: 1987 in der Türkei auch nur Ausschnitte der S04-Spiele im Fernsehen zu sehen, ist unmöglich. Doch um mal eben nach Deutschland zu telefonieren, um wenigstens die Ergebnisse zu erfragen, dafür mangelt es am Telefonanschluss. So erfährt er die Spielresultate mit zweitägiger Verspätung, weil erst dann deutsche Zeitungen zu kaufen sind – aber selbstverständlich nicht in dem ehemaligen Fischerdorf, sondern nur in der Stadt, zu der er kilometerweit fahren muss. Das ändert sich zwei Jahre später durch einen Freund, der seinen Spitznamen „RTL-Ali“ nicht grundlos trägt. „Er hat mit einem Topfdeckel eine Hausantenne gebaut, mit der er tatsächlich Satellitenfernsehen aus Deutschland empfing.“ Wie er das schaffte, bleibt ihm vermutlich für immer verborgen. Während Ali scharf auf die unsägliche Erotik-Spielshow „Tutti Frutti“ mit Hugo Egon Balder ist, kann Mihcioglu nun endlich Fußball sehen.

„Man kann sich das in Zeiten des Internets gar nicht mehr vorstellen“, erinnert der 55-Jährige, „aber damals war es ein unfassbares Glück, die RTL-Sendung ,Anpfiff‘ mit Uli Potofski verschwommen, teils schwarz-weiß und mit extremen Tonstörungen sehen zu können.“ Bis heute ist Gökmen Mihcioglu „der einzige Schalker weit und breit“. Dass er keine Leidenschaft für einen türkischen Verein entwickeln kann, wird von seinen Freunden zwar akzeptiert, aber nicht verstanden. „Sie ziehen mich seit dem ersten Abstieg hin und wieder auf, aber es heißt ja nicht umsonst: Einmal Schalker, immer Schalker.“

Beruflich läuft es gut für ihn. Nachdem Mihcioglu die Hotelfachschule in Antalya abschließt, arbeitet er für eine Saison an der Rezeption eines Fünf-Sterne-Hotels. In Dalyan, wo zu Zeiten seiner Ferienaufenthalte in den 70er-Jahren täglich für eine Stunde der Strom abgestellt wurde, weil die Türkei Ressourcen sparen musste, malocht er hart. Wie das Schalker eben so tun.

Auf einem kleinen Grundstück seiner Eltern baut er mit finanzieller Hilfe des Vaters, der schon in den Fünfzigern nach Deutschland kam und als HNO-Arzt auch die Frau des ehemaligen Bundespräsidenten Johannes Rau als Patientin betreute, eine kleine Pension mit zwölf Zimmern und dem ersten Swimmingpool im Ort. „Da hatte ich ein gutes Näschen, denn nach Jahren des Rucksacktourismus durch Hippies startete 1992 der Koffertourismus“, sagt er und lacht. Bereits in seiner ersten Saison ist er ausgebucht, vorwiegend sind es deutsche und englische Touristen, die beginnen, Dalyan, die antiken Felsengräber in der Nähe und den bekannten Schildkrötenstrand für sich zu entdecken. Bereits ein Jahr später baut er eine weitere Pension mit 20 Zimmern und ist seit Ende der Neunziger neben diesen beiden Objekten auch Inhaber des Hotels Holiday Calbis mit annähernd 200 Betten.

„Weil die Saison bei uns nur von Mai bis Oktober geht und wir danach die Hotels schließen, bin ich fast jedes Jahr nach Deutschland gekommen, um meine Eltern und Geschwister, die bis auf meine 2013 verstorbene Mutter noch immer hier leben, zu besuchen. Und dann habe ich natürlich auch Heimspiele meiner Schalker mitgenommen“, betont der Vater einer 15-jährigen Tochter. Vor zwei Jahren trifft er sich außerdem mit seinem alten Freund Michel Das Gupta, einem Trainer der Schalker Fußballschule, dessen Klassenkamerad er damals in Coesfeld war.

Als er 1997 mit dem Hinspiel des UEFA-Cup-Finals gegen Inter Mailand sein letztes Duell im Parkstadion sieht, hat er ein überraschendes Erlebnis: „Plötzlich rief in der Menge jemand meinen Namen, und als ich mich umgeschaut habe, sah ich einen Gast, der noch ein paar Wochen zuvor zum ersten Mal in meinem Hotel gewesen war.“

Gökmen Mihcioglus zweite große Leidenschaft nach dem S04 ist die Fliegerei. Den Microlight-Flugschein macht er in Südafrika, wo er gleich zu einer Safari und anschließend durch das ganze Land fliegt. Die „Private Pilot License“ für Ultraleicht-Flugzeuge erhält er in der Türkei. Von 2002 bis 2008 hat er insgesamt zehn Piloten in Anstellung, die seinen Hotelgästen und Touristen auf Rundflügen die Gegend aus der Vogelperspektive zeigen. Doch irgendwann wird es dem Hotelier zu viel, gleich zwei Berufsfelder zu beackern; seitdem fliegt er nur noch zur Freude, während seine damaligen Piloten heute fast ausnahmslos bei großen Fluggesellschaften beschäftigt sind.

Wenn er in seinem Flieger sitzt, den selbstverständlich ein königsblauer Aufkleber ziert, kann er am besten abschalten, „vor allem während der Horror-Saison 2020/2021, die im Abstieg endete, und der Pandemie, die uns alle so hart trifft, ist es mir wichtig, ab und zu alles unter mir zu lassen.“ Einen prägenden Abend erlebt er aber kurz zuvor noch: Beim 3:2-Sieg nach Verlängerung im DFB-Pokal 2019 fasste Mihcioglu einen folgenreichen Entschluss: „An dem Tag bin ich nach Jahrzehnten der Anhängerschaft endlich auch Vereinsmitglied des FC Schalke 04 geworden. Und das bleibe ich bis zum Ende meines Lebens!“

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