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·11. August 2021

Aufsteiger FC Brentford: Mit Mathematik bis in die Premier League

Artikelbild:Aufsteiger FC Brentford: Mit Mathematik bis in die Premier League

Der FC Brentford spielt erstmals in seiner Vereinshistorie in der Premier League. Dabei ist die Erfolgsgeschichte des Londoner Traditionsvereins eine außergewöhnliche. Maßgeblichen Anteil daran haben ein Sportwetten-Millionär, viel dänische Fachkompetenz und eine noch größere Menge an Statistiken und Daten.

FC Brentford: Das fast perfekte Jahr 2020

Eigentlich wäre 2020 das Jahr schlechthin für den Aufstieg des FC Brentford in die Premier League gewesen. Die Saison 2019/20 verlief nahezu perfekt. Noch wichtiger für die Fans und das Umfeld: Es waren die letzten Monate im altehrwürdigen Griffin Park – ein Stadion, das britische Fußballkultur und die Vereinshistorie Brentfords förmlich riechen lässt. Trotz einer herausragenden Spielzeit reichte es am Ende nicht zum Aufstieg.


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Das Play-Off-Finale verlor man denkbar knapp mit 1:2 nach Verlängerung, musste Fulham den letzten Startplatz in der Premier League gewähren. Damit einhergehend setzte sich eine bemerkenswerte Negativserie fort: Seit der Saison 1990/91 bestritten die „Bees“ insgesamt neun Play-Off-Turniere, von denen sie kein einziges gewinnen konnten.

Schlechte Vorzeichen durch Abgänge und Corona

Viele Experten sahen das Finale gegen Fulham auch als vorerst letzte verpasste Chance, trauten der Mannschaft nicht zu, die starke Saison zu bestätigen. Die Voraussetzungen waren auch alles andere als optimal. Aufgrund der Verzerrung des Spielkalenders lagen zwischen Play-off-Finale und Saisonvorbereitung gerade einmal zwei Wochen. Zudem musste man einige wichtige Leistungsträger ziehen lassen. Viele rechneten daher mit einer kleinen Implosion im rot-weißen Teil Westlondons.

Zunächst sah auch vieles danach aus, als sollten die Skeptiker recht behalten: Nach sechs Spieltagen sah man sich im Niemandsland der Tabelle auf Platz 11 wieder. Ein verrücktes Spiel in Stoke brachte jedoch die Wende, als man einen zwischenzeitlichen 0:3-Rückstand beinahe drehte. Dieses Comeback schien etwas in den Köpfen der Spieler ausgelöst zu haben. Die nächsten 21 Spiele blieb man ungeschlagen, kletterte bis an die Tabellenspitze. Nach der beispiellosen Serie schaffte man es zwar nicht, sich auf den direkten Aufstiegsplätzen zu etablieren, wurde am Ende jedoch Dritter und erreichte somit erneut die Play-offs. Dort setzte man sich im Halbfinale knapp gegen Bournemouth durch, ehe man Swansea im Wembley souverän mit 2:0 schlug. Der lang ersehnte Aufstieg ins englische Oberhaus war perfekt. Und das ausgerechnet über die Play-offs. Der 30 Jahre lang anhaltende Fluch: besiegt.

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Ein ganz entscheidender Mann in der Aufstiegs-Saison war Ivan Toney (25). Der Stürmer trat das schwere Erbe von Torjäger Ollie Watkins (25) an, erzielte in seiner Championship-Debütsaison prompt 31 Tore. Damit hatte er nicht nur maßgeblichen Anteil am Aufstieg, sondern brach auch Glenn Murrays (37) Tor-Rekord, der in der Saison 2012/13 30-mal für Crystal Palace einnetzte. Dabei holte man Toney im Frühherbst letzten Jahres für umgerechnet schlanke 5,6 Millionen Euro von Peterborough United aus der League One – retrospektiv betrachtet ein Schnäppchen, zumal für englische Verhältnisse.

Brentford: Aus wenig mach viel

Für die Entscheidungsträger des FC Brentford war die Verpflichtung Toneys jedoch kein undurchdachter Zufallstransfer als Reaktion auf den Watkins-Abgang. Ganz im Gegenteil: Die Transferpolitik der „Bees“ fußt seit Jahren auf dem Erwerb von preisgünstigen Spielern, die sich dann in Brentford weiterentwickeln und später für höhere Summen verkauft werden. Spieler wie Andre Gray (30), James Tarkowski (28), Ezri Konsa (23) und John Egan (28) machten alle in Brentford Station und spülten hohe Transfererlöse in die Kassen, wurden später zu gestandenen Premier-League-Spielern. Dabei schafft man es seit Jahren immer wieder, die abgehenden Leistungsträger sinnvoll zu ersetzen. Exemplarisch für die konstant gute Arbeit stehen Neal Maupay (24), Saïd Benrahma (25) und Watkins. Insgesamt zahlte man umgerechnet knapp zehn Millionen Euro für die drei Offensivstars, verkaufte sie später für 80 Millionen. Toney ist vielleicht der Nächste von ihnen, sein Marktwert liegt jetzt schon bei 28 Millionen Euro (transfermarkt.de). Zwischen 2015 und 2020 erzielte man auf diese Weise einen Gewinn von umgerechnet fast 120 Millionen Euro auf dem Transfermarkt.

Klingt im ersten Moment wie das englische Borussia Dortmund in klein, oder wie es Fußball-Deutschland gerne nennt: Ausbildungsverein. Die Vereinsphilosophie des FC Brentford unterscheidet sich jedoch in gleich mehreren Gesichtspunkten grundlegend von der anderer Vereine – auch jener, die Borussia Dortmund und ähnlich heißen. In Brentford werden sämtliche Entscheidungen nämlich auf Grundlage von mathematischen Berechnungen und einer Vielzahl an Datensätzen gefällt. Subjektive Eindrücke und Ansichten haben einen geringeren Stellenwert als das bei anderen Vereinen der Fall ist.

Ein Wett-Millionär und seine Vision

„Wenn es darum geht, im Klub eine Entscheidung zu treffen, vertraue ich immer den Zahlen. Sie lügen nicht“, sagte Matthew Benham einst in einem Interview mit der Welt. Der 52-Jährige ist der Mann hinter dem Erfolg in Brentford. Seine Vita ist – genau wie seine Arbeitsmethoden – etwas unorthodox. Nach einem Physikstudium in Oxford fasste Benham zunächst in der Finanzbranche Fuß. Schon damals fertigte er auf Grundlage mathematischer Modelle Analysen an, mit denen er den Finanzmarkt berechnen konnte. So häufte er sich nach und nach ein Vermögen an, mit dem er 2004 eine Sportwetten-Firma gründete. Mithilfe seiner bewährten Modelle fand er fehlerhafte Quoten von Wettanbietern, verdiente sich so ein goldenes Näschen.

Benham war schon von Kindesbeinen an Brentford-Fan, träumte davon, seinen Lieblingsklub zu übernehmen und zum Erfolg zu führen. 2006 hielt er den damals finanziell klammen Verein mit Krediten über Wasser. Sechs Jahre später ließ er seinen Traum schließlich wahr werden, kaufte Anteile am FC Brentford.

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Benhams Ziel war es dabei nie, den Verein mit irrationalen Geldsummen auf möglichst schnellem Weg zum Erfolg zu pumpen. Auf ähnliche Art und Weise, wie er bereits den Finanz- und Wettmarkt erobert hatte, wollte er den Fußball ein Stück weit revolutionieren. Seine ersten Transfers waren keine Profifußballer, sondern die eigenen Mitarbeiter aus der Sportwetten-Firma, die er fortan beim FC Brentford einspannte. Zusammen mit ihnen baute er riesige Datenbanken auf, die Informationen und Statistiken zu Spielern aus aller Welt lieferten. Sie entwarfen mathematische Modelle, mit deren Hilfe Spieler gefunden werden konnten, die in das eigene Vereinsprofil passten.

Rasmus Ankersen – der Fußball-Fachmann

Ein wichtiger Mann an seiner Seite war dabei Rasmus Ankersen (37), den er 2014 kennenlernte. Der Däne machte früh eine Trainerlizenz, schrieb erfolgreich Bücher über das Scouting und die Entwicklung von Talenten. Mit seiner Fachexpertise trug er maßgeblich zum rasanten Aufbau des Projekts bei, leitet bis heute die Scouting-Abteilung. 2014 war er es zudem, der Benham zum Kauf des dänischen Erstligisten FC Midtjylland überredete.

Dass die Arbeitsmethoden der beiden Männer früher oder später Früchte tragen würden, zeigte sich früh in Dänemark. So wurde Midtjylland bereits ein Jahr nach der Übernahme Dänischer Meister, in den darauffolgenden fünf Jahren weitere zwei Male. 2020 konnten sich die Dänen zudem erstmals in ihrer Klubhistorie für die Champions League qualifizieren. Auch in Brentford ließen erste Erfolge nicht lange auf sich warten: 2014 schaffte man den Aufstieg in die Championship, wo man sich in den darauffolgenden Jahren etablieren konnte und stets in der oberen Tabellenhälfte abschloss.

FC Brentford steigt in die Premier League auf: Mit mathematischen Modellen zum Erfolg

Doch wie kann man sich Benhams außergewöhnliche Strategie in der Praxis vorstellen? Konkrete Einblicke in die tägliche Arbeit der Westlondoner gibt es kaum, schließlich will man sich durch die datenbasierten Arbeitsmethoden einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Bekannt ist jedoch, dass mit sogenannten Key Performance Indicators gearbeitet wird. Jene Indikatoren analysieren und benennen entscheidende Parameter, die in verschiedenen Teilbereichen die Chance auf Erfolge erhöhen. Klingt nach viel Mathematik, ist es auch. Dabei spielen gängige Statistiken, wie wir sie aus jeder Fußball-App kennen, keine große Rolle.

„Ein Profi kann 100 Prozent erfolgreiche Pässe gespielt haben, aber er hat trotzdem schlecht gespielt, wenn keiner davon zu einem Tor führt“, so Benham gegenüber der Welt. Viel entscheidender seien Daten, die auf indirektem oder direktem Weg zum Torerfolg führen. So werden auf der Suche nach neuen Spielern vor allem Statistiken wie progressive Pässe und Zweikämpfe oder die Raumorientierung berücksichtigt – sogenannte Advanced Stats, mit denen heutzutage immer mehr im Scouting-Bereich gearbeitet wird. Erst auf Grundlage einer umfangreichen Datenanalyse wird schließlich ein Scout beauftragt, um den Zielspieler zu beobachten. „Wir schicken einen Scout nicht zu einem Spiel, damit er schaut, ob ein Spieler gut genug ist. Das wissen wir längst“, so Ankersen, ebenfalls gegenüber der Welt. Ziel des Scoutings vor Ort sei es viel mehr, festzustellen, ob der Spieler charakterlich in die Mannschaft passt.

„Lassen sie mit einem Team von Spezialisten arbeiten“

Dabei finden Benhams Modelle nicht nur beim Scouting Anwendung. Egal, in welchem Arbeitssektor man sich in Brentford umschaut: Überall schweben Zahlen. So auch bei der Spielerentwicklung. „Nehmen wir Standardsituationen. Wir schauen, welche Spieler das größte Potenzial in dieser Kategorie haben, und dann lassen wir sie mit einem Team von Spezialisten arbeiten, damit sie ihre Effektivität überproportional steigern“, so Ankersen.

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So wurden anhand der Datenanalysen gezielt Trainingsmethoden für Standardsituationen erstellt – mit Erfolg. Nachdem Brentford 2014/15 die drittschwächste Mannschaft nach Standards in der Championship war, verbesserte man sich in der darauffolgenden Saison in die Top sechs und ist bis heute für gefährliche Standards bekannt. Der Schwesterverein aus Midtjylland zählt seit Jahren gar zu den besten Mannschaften Europas, wenn es um Freistöße und Eckbälle geht. Die Erfolge von Benham und seinem Team sind keine Zufälle, sondern durch und durch kalkuliert – im wahrsten Sinne des Wortes.

Benham muss auch Kritik einstecken

Der Sportwetten-Millionär ist im Vereinsumfeld beliebt. Kein Wunder, rettete er den Traditionsverein doch aus einer prekären finanziellen Lage und führte ihn bis ganz nach oben in die Premier League. Und doch wird nicht alles mit Ja und Amen abgesegnet, was Benham macht. So stieß der Bau des neuen Brentford Community Stadiums und das neue Logo auf mächtig Gegenwind bei den Fans. Die Synthese aus Tradition und Innovation zeigte erstmals wunde Punkte. 2016 machte sich zudem Kritik und Skepsis breit, als bekannt wurde, dass Benham die Nachwuchsleistungszentren auflöst und stattdessen eine B-Mannschaft anmeldet, die fortan als Spieler-Recruitment dienen soll.

Auch dass personelle Entscheidungen zu einem Großteil von Computern getroffen werden, gefiel nicht jedem, der in Brentford arbeitete. So verließ der ehemalige Cheftrainer Mark Warburton (58) trotz erfolgreicher Amtszeit 2015 den Verein, beklagte zu wenig Mitspracherecht. Nachdem es Nachfolger Dean Smith (50) nach drei Jahren Amtszeit zu Aston Villa zog, übernahm Co-Trainer Thomas Frank (47) das Ruder. Der Däne begann früh seine Trainerkarriere, trainierte nach ersten Stationen bei seinem Heimatverein mehrere dänischen Junioren-Nationalmannschaften. 2013 wurde er Cheftrainer bei Bröndby IF, machte sich dort einen guten Ruf als Taktiker. Drei Jahre später lotste Landsmann Ankersen ihn in die englische Hauptstadt.

Mit Offensivfußball in die Premier League

Frank lässt offensiven Fußball spielen, wobei sein Ansatz stark Ballbesitz-orientiert ist. In einer flexiblen 4-3-3-Formation – gegen Ende der letzten Saison auch häufiger im 3-5-2 – wird flach hinten raus gespielt. Erstes Ziel der Ballbesitzphase ist es, den Gegner zum Angriffspressing zu animieren und das Zentrum zu überladen. Dann wird versucht, die erste Pressinglinie zu überspielen und auf die dribbelstarken Flügel zu verlagern. Eine Stärke der „Bees“ liegt aber auch darin, Ball und Gegner laufen zu lassen. Mittels Verlagerungen und schnellen Passstaffetten wird versucht, Lücken im Defensivverbund des Gegners zu reißen. Auf diese Weise erzielte der FC Brentford vergangene Spielzeit ein herausragendes Tor gegen Bristol City.

Gegen den Ball lässt Frank, je nach Spielsituation und Gegner, ein Mittelfeld- oder Angriffspressing spielen. Dabei wird das Zentrum verdichtet und das Spiel auf die Flügel gelenkt, wo der Ball schließlich erobert werden soll. Mit diesem offensiven Ansatz gelangen den „Bees“ in der Aufstiegssaison nicht nur die meisten Tore (79), sie kassierten auch die viertwenigsten (42). Das Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“ ist in Brentford Programm.

Der offensive Spielstil entspricht auch ganz dem Gusto des Vereinsbesitzers, immer wieder betont er seine Vorliebe für attraktiven Offensivfußball. Benham hat sein erstes großes Ziel, den Aufstieg ins englische Oberhaus, erreicht. Doch sein Projekt steht erst am Anfang, wie er selbst sagt. Nun will er den FC Brentford zu einem gestandenen Premier-League-Team formen – mit bewährten Arbeitsmethoden. „Zahlen sind für mich der heilige Gral“, sagt der 52-Jährige. Für ihn ist das große Geld kein Erfolgsfaktor. Er wird sich und seinen Prinzipien treu bleiben – auch in der besten Fußballliga der Welt.

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Michael Bojkov

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