FC Schalke 04
·29. Mai 2023
Arena-Kapelle: Alexander Jokisch feiert 70. Geburtstag in seinem Kunstwerk

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·29. Mai 2023
er prominente Künstler Alexander Jokisch begeht am Pfingstmontag (29.5.) seinen 70. Geburtstag: nicht irgendwo, sondern in der VELTINS-Arena bei einer Andacht in jener Kapelle, die nach seinen Entwürfen entstanden ist und am 12. August 2001 mit einem Eröffnungsgottesdienst ihre Premiere feierte.
Rückblick: 24. Mai 2000. Und 81 73 52. Kein Anschluss unter dieser Nummer. Die Zahlen verschlüsseln die Herkunft der Modelle. Die Jury soll unvoreingenommen auf die Entwürfe für die Kapelle blicken. Hinter dem Chiffre steckt Alexander Jokisch. Der Sieger. Als das Ergebnis feststeht, ist der Künstler unter seiner tatsächlichen Telefondurchwahl tagelang nicht zu erreichen. „Ich hätte nie gedacht, dass sich die Jury für meinen Entwurf entscheidet“, sagt er noch Jahre später ungläubig durch einen wohlgetrimmten, weißen Rauschebart. „Das war für mich wie ein Anruf aus Hollywood.“
Der Künstler ist zurückgekehrt in sein Werk. Er lässt den Blick durch den Raum kreisen und richtet ihn zurück. Zum Anfang. Nach Ansicht der Entscheider erfüllt Jokischs Idee am besten die Anforderung, die der FC Schalke 04 gestellt hat. Der Ort, das Fußballstadion, soll schon irgendwie zu erkennen sein, doch bitte: kein Fußball oder gar Schalke im Sakralraum. Damit nicht der Eindruck entsteht, der Verein würde Kirche dort vereinnahmen. Auf bis zu zwei DIN A4-Seiten dürfen die kreativen Geister in der Bewerbung ihre Einfälle erklären. Jokisch bringt seine Intention in nur acht Sätzen auf den Punkt. Seine Schwiegermutter meint lapidar, dass das in der Kürze unmöglich funktionieren werde. Der Künstler indes befürchtet: „Das will doch eh kein Mensch lesen.“
Ob trotz der Kürze oder gerade wegen – der Ausgang ist bekannt. Im Bewerbungstext skizziert er seinen Einfall: „In einem Stadion, einem Ort, an dem man aus sich herausgeht, möchte ich mit der Kapelle einen Ort schaffen, an dem man zu sich kommt. Im Stadion und in der Kapelle sucht man eine Entscheidung: Im Stadion im Zweikampf, in der Kapelle im Kampf mit sich selbst.“ Jokisch entwirft also einen Kontrapunkt zum Stadion, verweist aber gleichzeitig auf die Gemeinsamkeiten. Ein Gedanke, der ihn bereits beim ersten Besuch der Baustelle im März 2000 beseelt: „Wenn ich an einen Ort komme, dann weiß ich eigentlich sofort, was ich da will. Und ob ich da überhaupt was will. Wenn’s lang dauert, dann sind es drei Minuten.“
Der Raum beginnt für Jokisch gedanklich mitten auf dem Spielfeld. Verläuft von dort über die Mittellinie geradewegs durch den Spielertunnel in die Mixed Zone und auf die Kapelle zu. Rechts und links flankieren zwei großflächige Arbeiten den Eingang. Eine Art Vor-Spiel, eine Vorbereitung, Verbindung zwischen dem Geschehen auf dem Rasen und dem, was im Idealfall im Sakralraum passiert. Jokisch zeigt einen Zweikampf. Die Bilder setzen sich aus schwarzen und weißen Linien zusammen. Ein Stilmittel, das ebenfalls in der Kapelle Eingang findet. Denn auch hier kann sich ein Duell ereignen.
Im Gegensatz zum Stadion ringt hier der Einzelne mit sich selbst. Jokisch bereitet dem Besucher den Weg durch ein geöffnetes Kreuz, das als Objekt hinter der gläsernen Eingangstür im Raum steht. Darauf setzt er die Linienführung der Werke aus der Mixed Zone fort. Wählt der Besucher diesen Weg – und geht nicht außen herum –, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, das Kreuz mit sich selbst in Verbindung zu bringen, es anzunehmen. „Man steht plötzlich im Mittelpunkt. Als der Einzelne, der, aus der Menge kommend, diesen Raum betritt. Hier gibt es niemanden mehr, der für ihn oder sie etwas erledigt wie die Mannschaft draußen auf dem Spielfeld.“
Der Freigeist aus Asbach provoziert dieses Auf-sich-selbst-konzentriert-Sein, indem er den Raum beinahe leer lässt. Keine Gegenstände, keine Farben sollen den Menschen von sich selbst ablenken. Drei der vier Wände, Decke und Boden sind ebenso wie die 13 Sitzhocker an der Wand schlicht in Weiß gehalten. Besucher beschreiben die Szenerie immer wieder als sachlich oder reduziert. „Eine Zumutung für den Betrachter. Eine echte Herausforderung“, urteilt Dr. Herbert Fendrich, der Jury-Vorsitzende. Schalkes Vorstand Peter Peters, ebenfalls Jury-Mitglied, erklärt: „Für einen Katholiken, der an Pomp und Gloria in der Kirche gewöhnt ist, fehlt da im ersten Moment etwas.“
Das Gefühl der Leere entwickelt Jokisch bis ins letzte Detail. Vom Boden bis zur Decke herrscht durch Lampen, die nicht reflektieren, messbar die gleiche Lux-Zahl. Wände, Decke und Fußboden sind mit einer Kalk-Kasein-Masse und Kunststoff behandelt, sodass Jokisch eine Art White Box kreiert. „Ich wollte, dass Architektur durch Abwesenheit glänzt. Dass Architektur einfach nicht stattfindet“, erklärt der 64-Jährige und zeigt auf die Schattenfuge in der Decke. Durch sie bekommt der Raum eine Leichtigkeit, die Decke scheint zu schweben. Jokisch ist dankbar, dass Schalke sich darauf eingelassen hat. Bis ins kleinste Detail: „Rudi Assauer sagte: ‚Du gestaltest das Ding!‘ Und niemand hat sich mehr eingemischt.“
Im Moment, in dem sich der Besucher auf sich selbst konzentriert und das Stadion draußen lässt, beginnt für Alexander Jokisch die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und selbst zu entscheiden. Letztlich also die Bereitwilligkeit, in einen Zweikampf mit sich selbst zu treten. Diesen Prozess begleitet der Künstler mit einem großflächigen, elfteiligen Bild auf der Stirnseite der Kapelle. Dessen Linien und ihre schwarz-weiße Farbgebung erinnern „an das Innere eines Orkans“. Sie verdichten sich zu einem Oval, links dominiert Weiß, rechts sticht das Dunkle hervor. In der Mitte kreisen die Linien um einen hellen Mittelpunkt. Mit diesem Lineament will Jokisch die unendlich vielen Möglichkeiten des Lebens versinnbildlichen. Die elf Teile stehen nicht etwa für die Spieler einer Fußballmannschaft, „auch wenn das eine schöne Analogie ist“, die ihm durchaus im Hinterkopf schwebte. Sie sollen vielmehr Ausdruck von Unvollkommenheit sein. Die christliche Deutung: Nur elf Apostel bleiben Jesus treu. Der zwölfte, Judas, verrät ihn. „Wenn man sich für eine Möglichkeit entscheidet – also einer Linie folgt –, schließt man Millionen andere aus.“ Tausende Linien symbolisieren Tausende Möglichkeiten. Tausende Entscheidungen muss jeder in seinem Leben treffen.
Das Thema bewegt Jokisch, seitdem er sich künstlerisch betätigt, und vielleicht tut er es deswegen überhaupt. Stoisch steht er in der Kapelle, die Hände in den Taschen vergraben: „Ich mache Kunst, weil ich mit meiner Natur Schwierigkeiten habe. Für mich selbst war es immer die größte Schwierigkeit, mich zu entscheiden. Die Vielfalt an Möglichkeiten sich zu entscheiden, hat mich immer überfordert. Ich habe nach der künstlerischen Form gesucht, die das aufzeigt. Die Kunst lässt eine andere Sicht auf das Leben zu.“ Entscheidungen – ein Thema, das auch schon immer seinen Alltag nachhaltig geprägt hat: „Ich habe zum Beispiel keine Schule länger als sechs Monate besucht. Dann hab ich mich wieder für etwas anderes entschieden. Deshalb kann ich heute kein Englisch.“
Durch die Rotationsbewegungen lässt Jokisch nicht nur einen Orkan entstehen. Das Oval erinnert auch an den Standort der Kapelle. „Auf dem Altarbild zeige ich die Arena, die Schlacht, das Spiel, die Entscheidung. Ich kann sie als innere erkennen und auffassen. Das Schwarz-Weiß der Arbeiten steht für scheinbar Unvereinbares, das nach einem Umgang, einem Miteinander, sucht. Es bedeutet mir gelebtes Kreuz“, führt er in seiner Bewerbung weiter aus. In der Kapelle entwirft Jokisch also die Arena des Einzelnen, während draußen im Stadion die Masse tobt. Für den Künstler ist das die Herausforderung des Lebens: Der Mensch muss mit sich selbst klarkommen und gleichzeitig eine Beziehung zu allem anderen entwickeln. Die Kapelle ist damit nicht nur Kontrapunkt zur Fußball-Arena. Jokisch versteht sich vielmehr als Brückenbauer zwischen innerer und äußerer Lebenswelt.
Mit den Linien sowie der Farbgebung greift er die „Grunddialektik des Kreuzsymbols“ auf. Im Kreuz treffen Vertikale und Horizontale aufeinander, unvereinbar durch den Richtungsverlauf. In der christlichen Ikonografie steht das Kreuz deshalb sowohl für das Leben als auch den Tod. Zwei Pole, zwei Fixpunkte. Horizontale und vertikale Ebene übersetzt Jokisch in Schwarz und Weiß. Eigentlich ja auch unvereinbar. Indem er die Farben aber schichtweise übereinander aufträgt, wird die Fläche nie nur schwarz oder weiß. Sie ist schwarz und weiß zugleich. „So ist das Leben doch auch,“ findet er. Durch das Schichten der Farben entsteht etwas Abwechslungsreiches, Lebendiges. Das Kreuz wird durch diese Transformation zum Zeichen des Lebens.
Schwarz und Weiß. Statt Blau und Weiß. Auch das: eine Zumutung. Wir sind auf Schalke. Durch einen Onkel in Herten – einen Architekten, der dem erst 16-Jährigen die erste Ausstellung herrichtet – weiß er zwar dass Schalke „ein Herzstück des Ruhrpotts“ ist. Aber Jokisch hat, wie er betont, „mit Fußball nicht viel an der Mütze“. Doch gerade seine Farbwahl wird es am Ende sein, die die Jury überzeugt. Der einzige Entwurf, der ohne Blau auskommt. In der Kapelle geht es um mehr als Schalke. Das Minus von Blau ergibt die entscheidenden Pluspunkte.
Auch die Linien versinnbildlichen Lebendiges. Jokischs im wörtlichen Sinn Vor-Bild sind Artefakte, die er aus Ästen kreiert; aus dem Wald, abgeschnitten und zu Objekten zusammengestellt. Diese Zweige inspirieren ihn zu Linien. Entscheidender Unterschied: Die Linien lassen sich weiterführen und erzeugen dadurch eine Dynamik, die den Ästen fehlt. Die Dynamik des Lebens, die Fülle an Entscheidungen und Begegnungen. Der Altartisch zeigt Jokischs symbolische Grundbausteine: In die gläserne Tischplatte eingelassen ist ein Bild, auf dem eine einzelne weiße und eine schwarze, gebogene Linie zu sehen sind.
Dass der Kunstschaffende die Äste für die Arena-Kapelle als Grundlage der Gestaltung auswählt, ist für ihn folgerichtig, wenn er nachdenkt über seinen persönlichen Zugang zu Gott, Glauben und Kirche. Was den Ästen nämlich fehlt, ist einerseits die Wurzel und andererseits der Horizont, auf den sie zuwachsen. „Ich lehne die Spekulation über das Woher und das Wohin ab. Das Leben kann, ohne den Anfang und das Ende zu kennen, trotzdem einen Sinn ergeben“, lautet Jokischs Botschaft.
Letztlich spiegelt sich für Alexander Jokisch in den unendlich vielen Linien und in der Leere auch das Wesen Gottes. Er sei für ihn nicht greifbar. Denn das, was jedes Wesen ausmache – Einzigartigkeit und Vergänglichkeit – gelte für Gott nicht. „Dieses Ungreifbare ist für mich die Perspektive, die mich treibt. Deshalb ist der Raum auch so leer. Damit der Mensch mit seinem Zugang zum Leben und zu Gott hier Platz hat. Ich lehne es ab, etwas vorzugeben. Jeder Mensch soll selbst entscheiden können.“ Jokisch vermeidet christliche Ikonografie. Dadurch würde der Betrachter in seinen Gedanken und Assoziationen wieder kanalisiert.
Anders als viele andere Gestalter von Sakralräumen will der Kreativkopf jedoch nie ein Werk für die Ewigkeit schaffen: „Wenn man die Vielzahl an Möglichkeiten von Entscheidungen thematisiert, schließt das das Endgültige, das Ewige aus.“ Jokisch erinnert sich, dass es ihm anfangs besonders Spaß gemacht hat, den Sakralraum im Stadion Arena-Kapelle zu nennen. Wie die unter Kunsthistorikern bekannte Arenakapelle in Padua, die von Giotto gestaltet wurde. Vor 500 Jahren. Diese namentliche Analogie ist für die rheinische Frohnatur Jokisch schönste Ironie, denn sie täusche darüber hinweg, dass diese Beständigkeit in seinen Kunstwerken eben gerade nicht angelegt und beabsichtigt sei.
Spricht’s und packt aus seinem Alukoffer ein Marmeladengläschen gefüllt mit Farbe. Plus Pinsel. „Streng genommen kennen meine Lineamente keinen Anfang und kein Ende. Ich kann immer noch eine Schicht Farbe auftragen, schwarz, weiß, schwarz, weiß. Ich kann in diesen Prozess jederzeit eingreifen – und neue Linien hinzufügen. Auch das ist ein weiterer Ausdruck dafür, dass mein Kunstwerk für etwas Lebendiges einsteht.“ So nimmt der Künstler mit zwei bis drei Metern Abstand das Gesamtbild ins Visier, tritt beherzt auf die Mitte zu und zieht mit einer ausschweifenden Armbewegung eine schwarze Linie, die in einem Bogen nach rechts oben verläuft. Und noch eine, noch eine und noch eine. Am Ende ist Jokisch zufrieden. Und wo er Farbe und Pinsel schon bei der Hand hat, bessert er noch schnell zwei abgewetzte Stellen auf dem Kreuz aus.
Nach der Einweihung der Kapelle 2001 fragt Schalkes damaliger Vorsitzender Gerhard Rehberg: „Biste jetzt stolz, dass du das machen durftest?“ Der zweikampferfahrene Jokisch kontert: „Ja klar, aber ihr könnt auch stolz sein.“
Nicht nur vom Verein kommen anerkennende Worte. Papst Johannes Paul II. lässt dem Gestalter schreiben, dass seine Heiligkeit fortan Jokischs Anliegen und Hoffnungen in sein eigenes Gebet einschließe und der Heilige Vater für ihn Gottes Beistand und die Freude des Heiligen Geistes erbitte. Einen Antwortbrief bleibt der Künstler ihm zeitlebens schuldig, obwohl ihn eine Frage doch interessiert hätte: „Ob dieser direkte Draht zu Gott wohl am Ende für einen Quergeist wie mich reicht?“
Dieser – leicht aktualisierte – Beitrag ist 2017 im S04-Buch „An Gott kommt keiner vorbei … Nicht mal Stan Libuda!“ erschienen; Klartext Verlag, Essen, 168 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, Broschur, 14,95 €, ISBN: 978-3-8375-1777-4.
Erste Erfahrungen mit der Gestaltung von Sakralräumen sammelt Alexander Jokisch 1988 in der evangelischen Kirche in Heisterbacherrott, einem Stadtteil von Königswinter. Eine Architektengruppe spricht ihn an, da sie sein künstlerisches Thema „Entscheidungen“ für relevant hält. Mit seinem Entwurf, der zwei Kreuze über dem Altar – ein schwarzes und ein weißes – vorsieht, bringt er jedoch die Gemeinde gegen sich auf. Ihm wird der Hang zum Okkultismus unterstellt, man will ihn zu Kompromissen bewegen. Doch der Künstler setzt sich durch: „Entweder alles oder gar nichts.“ Heute wird die Kirche in Schulbüchern als modernes Beispiel für Sakralbauten thematisiert.
Es folgt die Gestaltung einer Orgel in der Stiftskirche in Cappenberg. In Asbach beauftragt ihn die evangelische Gemeinde, die Schöpfungsgeschichte für ihre Kirche zu malen. Neuestes Projekt ist die künstlerische Konzeption ganzer Friedhofsanlagen für Urnenbeisetzungen. Linien und das ständige Übermalen setzt er oft als Stilmittel ein. Die Schöpfungsgeschichte in Asbach übermalt der Künstler beispielsweise alle vier Wochen – seit 1998. Jokisch betont dabei den Zweikampf: „Das tut der Kirche bestimmt gut, wenn sie mal mit so einem Typen wie mir konfrontiert ist. Der einfach mal sagt: Weg damit! Das machen wir jetzt anders.“
… war einst linientreue Messdienerin, bis sie vom Schwarz-Weiß-Denken der (katholischen) Kirche die Nase gestrichen voll hatte. Bei der Arena-Kapelle macht sie dank zahlreicher bunter Begegnungen gern eine Ausnahme.