Ada Hegerberg: Norwegens EM-Hoffnung und Mentalitätsmonster im Profil | OneFootball

Ada Hegerberg: Norwegens EM-Hoffnung und Mentalitätsmonster im Profil | OneFootball

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·7. Juli 2022

Ada Hegerberg: Norwegens EM-Hoffnung und Mentalitätsmonster im Profil

Artikelbild:Ada Hegerberg: Norwegens EM-Hoffnung und Mentalitätsmonster im Profil

Kopfbälle, Freistöße, Fallrückzieher, Abstauber: Tore wird es bei der EM 2022 reichlich geben. Aber wer kann sich am Ende die Torjägerkrone aufsetzen?90min wirft einen Blick auf die vielversprechenden Kandidatinnen: Von Kunstschützinnen über kreative Köpfe bis hin zu Kopfballmonster. Im sechsten und letzten Teil unserer Serie geht es um Norwegens Champions-League-Rekordtorschützin Ada Hegerberg.

Norwegen: Geheimfavorit trotz schwacher Leistungen

Das Label "Geheimfavorit", oder "dark horse" auf Englisch, begleitet Norwegen in den Wochen vor der EM permanent. Dabei könnte dieser Begriff gleich auf zwei Arten für Verwunderung sorgen: Warum wird ein Team mit Top-Spielerinnen wie Caroline Graham Hansen von Barcelona, Chelsea's Guro Reiten und Maren Mjelde sowie vielversprechenden Talenten wie Frida Maanum und Julie Blakstad nicht zum engeren Favoritenkreis gezählt? In Hinblick auf die Resultate des Teams könnte aber auch umgekehrt die Frage gestellt werden, warum Norwegen überhaupt Chancen beigemessen werden, das Turnier zu gewinnen.


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Denn die sind alles andere als europameisterlich: Seit 2019 gab es für Norwegen keinen Sieg gegen ein absolutes Top-Team mehr, teilweise setzte es gar herbe Niederlagen wie ein 0:4 gegen Deutschland oder letztes Jahr ein desaströses 0:7 gegen die Titelverteidigerinnen aus den Niederlanden. Auch dieses Jahr läuft es noch nicht so recht, beim Algarve Cup mussten die Skandinavierinnen sich Außenseiter Portugal geschlagen geben. Zuletzt gewann die Elf von Martin Sjögren mit 2:1 gegen Dänemark, ob sie dabei das bessere Team waren kann allerdings diskutiert werden.

Nicht nur die Resultate waren enttäuschend, auch Norwegens Leistungen ließen schwer zu wünschen übrig. Die Defensive, die bis auf Mjelde keine Weltklasse-Spielerinnen aufbietet, war oft wackelig und langsam, Norwegen ließ häufig große Lücken und lief bei Kontern ins offene Messer. Und vorne lief beim Star-Ensemble wenig zusammen, auch weil eine klare Spielidee fehlt. Mit den schnellen Flügelspielerinnen kontern oder den Ball zirkulieren lassen? Was Norwegen machte, war oft weder Fisch noch Fleisch. Bis zum April war Norwegen also auf wenigen Favoriten-Listen hoch eingestuft - jetzt plötzlich werden sie aber als potenzielles Überraschungsteam gesehen, das ins Halbfinale oder gar Finale stürmen könnte.

Hegerberg ist Norwegens EM-Hoffnung

Die Hoffnung hat einen Namen: Ada Hegerberg. Nach fast fünfjähriger Auszeit vom Nationalteam - lest hier, warum sie die Auszeit nahm und nun zurück ist - kehrte die 26-Jährige im Frühling zurück und feierte mit einem Hattrick gegen den Kosovo einen gelungenen Einstand. Nach zuletzt enttäuschenden Turnieren - bei der letzten EM wurde kein Tor erzielt und bei der WM schied Norwegen im Viertelfinale aus - soll Hegerberg Norwegen nun also zu größeren Erfolgen führen. Angesichts der erwähnten Probleme eine Herkules-Aufgabe - aber die Erwartungen an eine Champions-League-Rekordtorschützin mit einer Quote von durchschnittlich 1,15 Toren pro Spiel für Lyon sind verständlich.

Trotzdem ist der plötzliche Aufstieg Norwegens zum Mitfavoriten mit ein wenig Skepsis zu betrachten. Hegerberg ist zweifellos eine Spielerin, die den Spielverlauf mit einem genialen Laufweg und erbarmungslosen Torschuss auf den Kopf stellen kann, und die Abwesenheit einer echten Mittelstürmerin war eins der Probleme Norwegens - aber eben nicht das einzige. Oft kamen die Bälle nicht mal in die Nähe des Strafraums, Norwegen tat sich schwer, die Lücken zu finden. Hegerberg ist sehr gut darin, diese auszunutzen, aber sie ist auf die Hereingaben der Mitspielerinnen angewiesen. Dazu ist die Frage, ob sie besser in das Spiel eingebunden sein wird als bei der letzten EM, wo das Zusammenspiel zwischen ihr und den Flügelspielerinnen nicht passte und ihr der berüchtigte Torriecher abhanden gekommen war.

Karriere

Hegerberg kommt aus einer Sportlerfamilie, auch ihre beiden Eltern spielten Fußball, ihre Schwester Andrine ist in Schweden bei BK Häcken aktiv. Mit 15 gab sie ihr Debüt in der norwegischen ersten Liga, nach einem Wechsel zu Stabaek 2012 gelang ihr mit 25 Toren in 18 Spielen der absolute Durchbruch. Ein Jahr später klopften die großen Klubs an, das Ausland war der logische nächste Schritt.

Eine "längerfristige Perspektivverpflichtung": So nannte Bernd Schröder, damals noch Trainer bei Turbine Potsdam, den Neuzugang aus Norwegen. Ada Hegerberg und ihre Schwester Andrine schlossen sich vor etwas weniger als zehn Jahren dem damaligen deutschen Meister an, die erst 17-jährige Ada Hegerberg galt als norwegisches Top-Talent. Ihre Zeit bei Turbine war dann aber schon früher vorbei, als es Schröder vielleicht lieb war: Nach nur anderthalb Jahren lockte Olympique Lyonnais, Medienberichten zufolge war eine Ablösesumme im Spiel. Die Kombination Hegerberg und Potsdam hatte nicht so richtig funktioniert - wobei elf Tore in 25 Spielen für eine 17-Jährige in einer Topliga bemerkenswert sind, aber Schröder hatte sich mehr erwartet und die junge Stürmerin hatte mit Leistungsschwankungen zu kämpfen. Hegerberg erklärte gegen Ende ihrer Zeit bei Turbine zudem, sie fühle sich nicht mehr wohl im Verein.

Ihr Transfer zu Lyon wurde vor diesem Hintergrund durchaus kritisch betrachtet. Der nächste Schritt, vielleicht, aber würde sie sich gegen Stürmerinnen wie Lotta Schelin durchsetzen können? War sie nicht vielleicht überambitioniert und würde auf der Bank schmoren? "Jetzt geht sie ausgerechnet nach Lyon, wo die Wahrscheinlichkeit noch wesentlich geringer ist, dass sie dort spielt, wenn sie mal eine Durststrecke durchläuft!!!" und "Wenn sich da mal nicht jemand und Eltern verschätzt und sich selber für zu gut hält!", so einige Kommentare unter einem Bericht über den Wechsel.

Hegerberg gab die Antwort auf dem Platz: Nein, sie hatte sich nicht verschätzt. In der ersten Saison bei Lyon standen 26 Tore in 22 Spielen zu Buche und sie gewann mit OL das Double, ein Jahr später kam der Champions-League-Titel dazu. Es sollten noch fünf weitere dazukommen, Hegerberg sammelte sowohl national wie auch international Tore wie andere Briefmarken. 154 Tore in 134 Spielen: so lautet ihre unglaubliche Bilanz im Lyon-Trikot. Wenn es ein Synonym für "Torgarantie" gibt, lautet es Ada Hegerberg.

Spielstil: Ehrgeiz, Körperlichkeit, gnadenloser Abschluss

Durch Hegerbergs Karriere zieht sich das Wort "Ehrgeiz". Egal bei welcher Station, Wegbegleiter von ihr sprechen von ihrem ungewöhnlichen Willen, die Beste zu sein. Die Phrase "Sie ist die Erste auf dem Trainingsplatz und die Letzte, die geht" wird teilweise schon inflationär verwendet, auf Hegerberg aber trifft sie zu. Sie hat extrem hohe Erwartungen an sich selbst und auch an ihre Mitspielerinnen, was auch zu Konflikten führen kann, aber sie ist bereit, hart dafür zu arbeiten, dass sie diese erfüllt.

Das zeigt sich auch in ihrem Spielstil. Die Laufwege, die Kopfbälle, die Abschlüsse: All das sieht bei Hegerberg fast schon einfach aus. Sie kommt zudem viel über ihre Körperlichkeit und kann sich mit dadurch oft bei Standardsituationen durchsetzen.

Dieses Diagramm zeigt, wie gut Hegerberg im Vergleich zu anderen Stürmerinnen in verschiedenen Statistiken abschneidet. Keine Frage: Im Toreschießen können nur wenige Hegerberg das Wasser reichen. Hegerbergs hohe Anzahl an Ballkontakten im Strafraum zeigt, dass sie sich sehr geschickt bewegt und Verteidigerinnen leicht entwischt. Sie wartet nicht nur auf die eine Chance, sondern hat meist einige pro Spiel und schießt viel aufs Tor. Meist übertrifft sie zudem ihren xG, hat also auch einen sehr guten Abschluss.

Hegerbergs bevorzugte Art, Tore zu erzielen, ist dabei mit einem platzierten Flachschuss ins lange Eck oder mit dem Kopf, wie etwa bei dem Champions-League-Finale 2022, wo sie mit ihrem Treffer zu Lyons Sieg beitrug. Dabei profitiert Hegerberg oft von Momenten, in denen die gegnerische Verteidigung noch unsortiert ist, weil sie etwa gerade den Ball verloren haben. Ob Norwegens Pressing funktioniert und sie in gefährlichen Zonen den Ball gewinnen können, wird also entscheidend dafür sein, ob Hegerberg ihre Qualitäten voll ausspielen kann.

Im Nationalteam hat das nicht immer so gut geklappt wie bei Lyon, womit auch teilweise ihre deutlich schwächere Torquote (42 Tore in 70 Spielen) erklärt werden kann. Hegerberg kreiert aus dem Ballbesitz des eigenen Teams eher wenige Chancen, sie ist anders als Marie-Antoinette Katoto etwa keine wirkliche Dribblerin und lässt sich auch selten nach hinten fallen, um dann einen Lauf in den Strafraum zu starten. Hegerberg lauert eher in der Box auf ihre Chance, tut das aber mit ihrem Timing und gnadenlosen Abschluss sehr gut und kann auch ihre Mitspielerinnen bedienen.

Dabei kommt es natürlich maßgeblich auf die Hereingaben und Flanken an - bei Lyon füttern sie Selma Bacha oder Delphine Cascarino mit präzisen Bällen, bei Norwegen könnten Reiten und Blakstad diese Rolle ausfüllen. Wenn es Norwegen also gelingt, Hegerberg in das Spiel einzubinden, indem sie in gefährlichen Zonen den Ball gewinnen und dann eine gute Hereingabe bringen, können sie auf Hegerbergs Timing und Torgefahr zählen. Und dann könnten sie tatsächlich zum Favoritenschreck und "dark horse" avancieren.

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